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Geschichte des Krieges
Historiker: EU keine Garantie für Frieden

Die Europäische Union sei nicht so stabil, dass dort Frieden garantiert werden könne, erklärte der Historiker Michael Stürmer. Die EU müsse ihre militärische Scheu überwinden, sagte er im Dlf, doch ohne NATO gehe das nicht. Entscheidend sei aber, ein politisches System der Balance aufzubauen.

Michael Stürmer im Gespräch mit Christoph Heinemann | 12.01.2018
    USA verlegen Flugzeugträger im Juni 2016 Flugzeuge ins Mittelmeer.
    Historiker Stürmer sagt, in Amerika gehe die Angst um, dass der Wettkampf um die Hegemonie im Pazifik zwischen China und USA unweigerlich oder vielleicht doch weigerlich in den Krieg führt. (imago / ZUMA)
    Christoph Heinemann: Dass man kaiserliche Beamte nicht aus dem Fenster wirft, das wussten natürlich auch die Vertreter der überwiegend protestantischen böhmischen Stände. Und dass Kaiser Ferdinand diese Provokation nicht einfach weglächeln würde, das war auch absehbar. So begann der 30jährige Krieg im Jahr 1618.
    Ein anderer europäischer Waffengang endete 300 Jahre später, 1918 – wenigstens vorläufig, wenn man der These von dem zweiten 30jährigen Krieg folgt, der 1914 begann und 1945 endete. Auch darüber sprechen wir gleich, denn nach Luther im vergangenen Jahr werden diese beiden historischen Katastrophen in diesem Gedenkjahr eine wichtige Rolle spielen, also 1618 und 1918. Beide haben die europäische, haben auch die deutsche Geschichte wesentlich geprägt und beeinflusst. Die Erinnerung an diese Kriege, natürlich auch an den Zweiten Weltkrieg und den Massenmord, gab unter anderem den Ausschlag für die Gründung des jüngsten europäischen Friedensprojektes: der Europäischen Union.
    "Das Gefühl einer ungeheuren Ungerechtigkeit"
    Vor dieser Sendung haben wir mit dem Historiker und Publizisten Professor Michael Stürmer gesprochen. Wir haben 1618 begonnen. Michael Stürmer schildert zunächst die Umstände, die zum 30jährigen Krieg führten.
    Michael Stürmer: Es begann alles als ein Aufstand der Stände gegen den Kaiser als Herrscher über Böhmen. Die böhmischen Stände wollten nicht – so nannte man das damals in den Parteien der Politik – den absoluten Dominat des Kaisers.
    Man muss sich nur klarmachen: Zur selben Zeit strebt das französische Königtum natürlich in den Absolutismus und Karl I. von England, der dann seinen Kopf darüber verlor, strebte auch nach der absoluten Herrschaft.
    Was der Kaiser trieb, war nicht ganz ungewöhnlich, sondern gehörte in eine europäische Welle hinein. Das war das eine, ein Widerstand gegen den katholischen Kaiser und seine absolute Herrschaft über Mitteleuropa.
    Das zweite war eine Welle der Geldentwertung, der Teuerung, die seit dem Gold- und Silberstrom aus Lateinamerika Europa überschwemmte, sehr viel Schönes produzierte, nämlich sehr viel Schönes vergoldetes Silber, aber gleichzeitig die Menschen in den Wahnsinn trieb, denn es war eine Inflation, die sie nicht begriffen. Es war immer mehr Silber und Gold da als Ware und Dienstleistung, und das schuf nun eine totale Schieflage auch und das Gefühl einer ungeheuren Ungerechtigkeit.
    Inflation ist ja sehr ungerecht und das haben die Leute gemerkt. Diese Empörung stachelte sie an, warf die jungen Männer natürlich aus einer geregelten Berufsausbildung raus. Dann gingen sie zu den Soldaten; Soldaten zusammenzustellen war sehr billig. Der berühmte Wallenstein war ein Meister in der Rekrutierung von a) Geld und b) Soldaten und Aufstellung großer Armeen wie nie zuvor.
    Ewiges Vergeben und Vergessen "nicht immer anwendbar"
    Heinemann: Viele Schlachten und Scharmützel später wird Frieden geschlossen. Bildet der Westfälische Frieden die erste dauerhafte europäische Friedensordnung?
    Stürmer: Ein Frieden in der frühen Neuzeit wird immer auf Ewigkeit gedacht. Immer währendes ewiges Vergeben und Vergessen, das ist die Kernformel. Man vergibt einander und man verspricht einander auch, das Schlimme zu vergessen. Eine sehr weise Formel, aber nicht immer anwendbar.
    Ja, der Westfälische Frieden hat bis heute geprägt das, was wir in Europa und in der außereuropäischen, halbeuropäischen Welt einen Staat nennen. Die nächste Stufe kommt dann mit Wien 1814/15. Ja, die Spuren des Westfälischen Friedens sind bis heute da. Man muss nur sehen: Auch das große Trauma der Deutschen, das Kriegs- und Angsttrauma, the German Angst, worüber sich unsere Nachbarn ja gelegentlich mokieren, German Angst geht 300 Jahre zurück – mindestens! Sie kennen das Kinderlied "Maikäfer flieg, mein Vater ist im Krieg, meine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt" – eine unsäglich traurige Geschichte. Das resümiert auch die Tatsache, dass er ein Doppelfrieden ist - einer unter französischem Vorsitz in Münster und einer in Osnabrück unter schwedischem Vorsitz -, weil die sich nicht einigen konnten. Da war schon die nächste Frage gestellt, nämlich die der Hegemonie über Zentraleuropa.
    Angst, die "weigerlich in den Krieg führt"
    Heinemann: Und das hat dann vor allen Dingen einer versucht, dessen Amtszeit im Wiener Kongress abgerechnet wurde. Sie haben ihn schon genannt: 1815. – Was ist von der Friedensidee des Westfälischen Friedens nach der Französischen Revolution und Napoleon noch übrig?
    Stürmer: Einmal, dass es mehrere Parteien braucht, um Frieden zu schließen. "It takes two to Tango" hat der große Präsident Reagan gesagt. Man braucht zum Küssen immer zwei. Und wenn möglich, müssen alle sich küssen, und dann haben Sie eine kollektive Friedensordnung.
    Das Traurige ist nur, dass diese kollektiven Friedensordnungen, die man einander zusichert, in denen ja auch sehr viel Vorteil liegt, dass die selten lange gedauert haben. Warum haben sie nicht so lange gedauert? – Zurzeit gibt es an der Harvard-Universität ein Projekt über das Thukydides-Syndrom. Thukydides war vor 2500 Jahren ein athenischer General und Geschichtsschreiber über den Kampf der Athener gegen Sparta, das aufstrebende Athen gegen das stabile Sparta. Ein großes Forschungsprojekt, nicht um alte Geschichte zu studieren und damit klüger zu werden, sondern weil in Amerika heute in diesen strategisch-philosophischen Kreisen die Angst umgeht, dass der Wettkampf um die Hegemonie im Pazifik zwischen China und USA unweigerlich oder vielleicht doch weigerlich in den Krieg führt.
    Das Allergefährlichste: "Der Krieg kommt sowieso"
    Heinemann: So unweigerlich wie 1914-1918?
    Stürmer: 1914 hatte eigentlich, wenn man genau hinschaut – man braucht gar keine große Lupe -, jede der großen Mächte in Europa gute Gründe zu sagen, jetzt ist der Krieg für mich besser gewinnbarer als vielleicht in fünf oder zehn Jahren. Das war sehr rational. Stefan Zweig, der Dichter, der Freudianer, hat ja gesagt, es ging nicht um die kleinen Grenzbezirke. Es ging um das ungeheure Kraftgefühl, dieser wunderbare Optimismus der Zeit, der aber gepaart war natürlich auch mit einem Untergangssyndrom, Untergangsfurcht. Etwa die Deutschen hatten große Angst vor der russischen Dampfwalze. Die Franzosen hatten Angst vor den Deutschen. Österreich-Ungarn hatte Angst vor dem ganzen slawischen Element.
    Und dann England. England war eigentlich mit sich selbst und der irischen Frage, die wir bis heute ja kennen, beschäftigt, die nicht zur Ruhe gekommen ist und vielleicht wieder aufbricht jetzt. England hatte eine kollektive Befürchtung, dass das Deutsche Reich der englischen Flottenmacht sehr gefährlich werden würde.
    Kurzum: 1914 haben Sie auf allen Seiten gute Gründe, den Krieg lieber jetzt als später zu veranstalten, wenn er doch sowieso kommt. Das ist das Allergefährlichste, dass man sagt, der Krieg kommt sowieso und ich muss mir nur die beste Ausgangsposition sichern – ein sehr verbreiteter Modus.
    "Ein Frieden, um allen Frieden zu beenden"
    Heinemann: De Gaulle und Churchill haben ja diese Zeitspanne 1914 bis `45 als zweiten 30-jährigen Krieg beschrieben. Zurecht?
    Stürmer: Das ist richtig. – Ja, denn man muss natürlich die Ereignisse von 1914 bis `45 in ihrem Kontext sehen. Da ist nicht ein tiefes Loch und dann hört die Geschichte auf, 1918, und dann fängt sie wieder an und 1933 fängt sie wieder an. Man muss diese Dynamik in der Entwicklung sehen: Ein Friede 1918, der kein Friede ist. Es waren ja mehrere Friedensverträge nebeneinander. Es gibt ein berühmtes Buch über die Zerlegung des Osmanischen Reiches, und das heißt "A Peace to End All Peace", ein Frieden, um allen Frieden zu beenden – eine sehr kluge These. Und wenn Sie auf die Erben des Osmanischen Reiches heute sehen, dann kann ich Ihnen unter modernen Namen die ganzen aufständischen Provinzen von damals nennen. Das ist sehr klar zu erkennen.
    "Wie verlängern wir den langen nuklearen Frieden"
    Heinemann: Herr Stürmer, rund 340 Jahre nach dem Prager Fenstersturz unterzeichnen Staats- und Regierungschefs 1957 die Römischen Verträge. Halten Sie die Europäische Union für so stabil, dass sie Frieden in ihrem Geltungsbereich zumindest dauerhaft garantieren kann?
    Stürmer: Das wollen wir alle hoffen und dafür muss man beten geradezu. So ganz sicher ist das nicht. Zum einen ist die Europäische Union ja selber nicht so stabil. Zurzeit die Brexit-Frage, ja mehr als eine rein britische Frage. Die geht uns Deutsche enorm an, denn es könnte der Anfang von einem Zerbröckelungsprozess sein, den Sie auch gegenwärtig in diesen Tagen zwischen Polen und Großbritannien sich abspielen sehen.
    Zur Europäischen Union, zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von damals, `56/`57, gehört natürlich der amerikanische Schutzschirm. Wenn der amerikanische Schutzschirm so unbestimmt, löchrig, unvorhersagbar wird wie jetzt unter Trump - und Trump ist immerhin von vielen Millionen Wählern gewählt worden; er ist also nicht ein ganz einsames Phänomen -, wenn der amerikanische Schutzschild so unsicher wird wie jetzt, dann ist es mit der Abschreckung vorbei. Wenn es mit der Abschreckung vorbei ist, dann müssen wir uns ein ganz anderes System überlegen, nämlich wie verlängern wir den langen nuklearen Frieden in eine Zeit, in der das bilaterale System der beiden Supermächte so gar nicht mehr existiert und gar nicht mehr funktioniert.
    "Gib Vertrauen, aber prüfe auch"
    Heinemann: Was heißt das für die EU?
    Stürmer: Für die EU heißt das, dass sie natürlich ihre Scheu, sich militärisch - eine militärische Dimension zu geben - , dass sie ihre Scheu überwinden muss. Damit geht sie in enorme Probleme hinein, die wir gerade erst am Anfang sehen, denn alles, was da beschlossen wird auf Gipfeltreffen der EU, ist bisher ein bisschen raschelndes Papier, aber nicht sehr eindrucksvoll. Ohne NATO - und das heißt, USA, Kanada -, ohne NATO geht das nicht, denn dann haben Sie keinen übergreifenden Sicherheitsfaktor, Sicherheitsgarantie. Und die amerikanische Sicherheitsgarantie ist ja nur deshalb so wichtig, weil hier nukleare Eskalationsmacht gegen nukleare Eskalationsmacht steht. Und da das so ist, wird schon an den Anfängen Vertrauen aufgebaut, weil man weiß, man muss früher oder später nachgeben, Kompromisse schließen, sich gegenseitig Vertrauen schenken und auch überprüfen. Gib Vertrauen, aber prüfe auch - das ist das Prinzip.
    "Puffer einbauen, Elastizität, Ausgleichsmechanismen"
    Heinemann: Wir haben 1618 begonnen, sind längst 2018. Wenn Sie die vergangenen 400 Jahre überblicken, welche wichtigste Lehre ziehen Sie aus dieser Zeitspanne?
    Stürmer: …, dass Menschen über ihr eigenes Ego hinaus in größeren Ordnungssystemen denken müssen, dass sie eine Balance herstellen. Das große Thema ist Balance, denn sonst gibt es nur Hegemonie, und gegen Hegemonie wehren sich die Völker und Hegemonien steigen auf und fallen und erzeugen dadurch noch mehr Probleme.
    Gleichgewicht – das kann man bei Henry Kissinger noch mal ganz klassisch nachlesen -, Gleichgewicht ist natürlich außerordentlich schwierig, weil es immer tariert werden muss. Die Dinge ändern sich, die Bevölkerung ändert sich, wird größer, hungriger, reicher, kühner, unternehmungslustiger, unzufriedener wie auch immer. Die Menschen sind in sich seelisch nicht stabil. Sie können nicht ein System auf ewige Dauer bauen. Das heißt, Sie müssen in ein politisches System, global oder nahezu global, Puffer einbauen, Elastizität, Ausgleichsmechanismen. Das ist wahnsinnig schwierig und erfordert ein aufgeklärtes Denken, was weit über die eigenen engeren Interessen hinausgeht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.