Freitag, 19. April 2024

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Geschichte des Strukturalismus

Die stärkste theoretische Erschütterung eurozentrischer Perspektiven ist zweifellos von Paris ausgegangen. Der hübsche und ja nicht übermäßig hohe Preis dafür ist ein bemerkenswerter Parisozentrismus. Das macht, wohl ein wenig contre-coeur, die voluminöse Studie von Francois Dosse deutlich, die in der ansprechenden Übersetzung von Stefan Barmann auf Deutsch vorliegt. Sie erzählt Theoriegeschichte als Theoretikergeschichte. Diese Geschichte hat einen sehr begrenzten Schauplatz: einige Seminarräume, Hörsäle und Verlagsadressen auf dem linken Seine-Ufer. Und sie hat eine überschaubare Liste handelnder Figuren, die überdies fast alle aus demselben Stall, nämlich der intellektuellen Eliteschmiede Ecole Normale Supérieure, stammen. Ein kluges gallisches Intellektuellendorf analysiert den Rest der Welt - und, was für die Klugheit seiner Bewohner spricht, dabei immer auch sich selbst. Wer die Heiratsregeln und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Amazonas und Himalaya rekonstruiert, wer die Ordnungen und Unordnungen des Sprechens, Begehrens, Tauschens und Machtausübens im antiken Griechenland, im Renaissance-Italien und im postmodernen San Francisco fokussiert, muß immer auch den Ort im Blick haben, von dem aus diese Analyse möglich wird: Paris

Jochen Hörisch | 01.01.1980
    Die Stärke der monumentalen Studie von Dosse liegt in der Plausibilität, mit der sie den Blick für die Pariser Intelligenz-Biotopik schärft. Er scheut dabei vor wirkungsvollen Dramatisierungen nicht zurück. So schildert er den strukturalistischen Angriff auf Sartres Existenzphilosophie wie den Aufstand einer Bruderhorde gegen den übermächtigen Vater, der sich in die Paradoxie verwickelt, selbst der frechste Sohn sein zu wollen. Das liest sich naturgemäß angenehm und unterhaltsam. Und bei gutem Willen könnte man dergleichen als eine episch geratene Wissenssoziologie charakterisieren. Für Dosse gerinnt die Geschichte des Strukturalismus zu einem nicht einmal sonderlich komplexen Bezichungsdrama. Natürlich kann man die Geschichte des Strukturalismus als Sammelsurium der immer neuen und neugierigen Geschichten erzählen, wer mit wem einen Kaffee trank, wer wen als Gastredner in seine Lehrveranstaltung einlud, wer wen warum befehdete und wer mit wem schlief. Unterhaltsam ist dergleichen immer.

    Informativ ist zumal für den deutschen Leser zweierlei: erstens, daß Dosse die politischen und durchaus auch die parteipolitischen Hintergründe der Theorieentwicklung darstellt. Ohne Stichworte wie Résistance, Algerienkrieg, Entstalinisierung und Archipel Gulag lassen sich auch noch so abstrakt scheinende Theorien nicht verstehen. Und zweitens, daß Dosse nicht nur die Heroen des Strukturalismus (also etwa Lévi Strauss, Jakobson, Barthes, Althusser, Lacan, Foucault, Genet, Todorov, Greimas, Kristeva) bedenkt, sondern auch den Figuren Gerechtigkeit widerfahren läßt, die aus Nicht-Pariser-Perspektive eher im Hintergrund stehen, dennoch aber entschieden auf die strukturalistische Theoriebildung eingewirkt haben. Geister wie der Anthropologe Georges Dumézil, der Wissenschaftstheoretiker Georges Canguilhem oder der Mathematiker Paul Henry kommen so zu ihrem Recht, einer der vielen Väter des Strukturalismus zu sein.

    Wer aber über 600 Seiten durchackert, hat Anspruch darauf, nach der Lektüre nicht nur mit Pariser Genealogien vertraut, sondern auch klüger zu sein und anders zu denken als zuvor. Wer aber diese Geschichte des Strukturalismus in der Hoffnung liest, er könne danach z.B. mit den Symbolen umgehen, die Lévi-Strauss zur Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen verwendet, er könne das semiotische Viereck von Greimas verwenden, oder er könne gar einen Lacanschen Graphen lesen, ein Diskursmathem identifizieren oder einen der Knoten lösen, die das Symbolische, das Imaginäre und das Reale ineinander verschlingen, wird bitter enttäuscht. Theoreme kondensiert und pointiert zu referieren: darauf versteht sich Dosse nicht. Seine Referate bleiben weitgehend "phony": sie machen Mut zum Mitreden. Wer sich dabei nicht verplappern will, sollte aber die Mühen nicht scheuen und das Buch von Dosse als Ermutigung zu eigener Lektüre verstehen.

    Mit dem "Lichtjahr des Strukturalismus", also mit dem Jahr 1966, in dem u.a. Foucaults Buch "Les mots et les choses" ("Die Ordnung der Dinge") und Lacans "Schriften" erscheinen, schließt Dosse den ersten Band seiner Darstellung ab. Der zweite Band geht ausführlich auf die anti-ödipale, dekonstruktive bzw. postmoderne Wende des Strukturalismus (also auf die Denkfiguren von Deleuze, Derrida und Lyotard) ein. Er soll noch in diesem Jahr erscheinen. Bei allen kritischen Anmerkungen: die deutsche Übersetzung der beiden Dosse-Bände belegt, daß Deutschland und Frankreich sich nicht nur über Euro-Probleme zur Kenntnis nehmen. Die Zahl der Mißverständnisse nimmt ab. Und dazu tragen gerade auch eher narrative Hintergrundbücher wie das von Francois Dosse bei. Wer möchte nicht wissen, was in Paris so alles los war und ist.