Donnerstag, 18. April 2024


Geschichte voller Gegensätze

"Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt auf einige Jahre." So heißt es in Goethes Gedicht "Frisches Ei, gutes Ei". Der Sinnspruch passt auf Deutschland in den Wochen nach der Fußball-Weltmeisterschaft. Die Jubelstimmung der Wettkampftage konnte nicht von Dauer sein. Wer anderes geglaubt hat, ließ sich von Wunschdenken leiten.

Von Heinrich August Winkler | 30.09.2006
    Und doch war alle Welt im Sommer 2006 Zeuge eines bemerkenswerten Vorgangs: Die Deutschen verhielten sich so patriotisch wie andere Nationen auch. Sie zeigten Flagge - ihre Flagge, die schwarz-rot-goldene Fahne der Bundesrepublik. Das hatte es in diesem Ausmaß noch nicht gegeben. Im Dritten Reich wäre es den Deutschen schlecht bekommen, wenn sie ihre Häuser und Wohnungen an bestimmten Tagen nicht beflaggt hätten - zum Beispiel am 20. April, Hitlers Geburtstag. In der alten Bundesrepublik war das Flaggezeigen Staatssache. Schwarz-rot-goldene Fahnen an Privathäusern, das gab es praktisch nicht. Es spricht auch nichts dafür, dass das im wiedervereinigten Deutschland künftig anders sein wird.

    Nachdem die Schulferien zu Ende gegangen sind, könnten und sollten die Lehrerinnen und Lehrer nochmals auf das millionenfache Fähnchenschwenken bei der WM zurückkommen. Es wäre nämlich ein geeigneter Anlass, etwas zur Geschichte der Farben Schwarz-Rot-Gold zu sagen. Es waren schon im 19. Jahrhundert die Farben der Demokratie, ein Symbol der deutschen Freiheits- und Einheitsbewegung, des Hambacher Festes von 1832 und der Revolution von 1848. In der ersten deutschen Demokratie, der Republik von Weimar, war Schwarz-Rot-Gold zwar die Reichsflagge, aber von Anfang an umstritten. Die nationalistische Rechte hielt nach 1918 an Schwarz-Weiß-Rot, den Farben des untergegangenen Kaiserreichs, fest und verunglimpfte die Fahne der Republik. Am Ende siegte Schwarz-Weiß-Rot in Gestalt der Hakenkreuzfahne.

    Über Schwarz-Rot-Gold sprechen heißt also von den freiheitlichen und demokratischen Traditionen in Deutschland sprechen. Die sind ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte, den man ebenso kennen muss wie die Gründe, die dazu führten, dass sich in den frühen 30er Jahren des letzten Jahrhunderts die radikalsten Feinde von Freiheit und Demokratie, die Nationalsozialisten, durchsetzten und Deutschland und Europa in eine furchtbare Katastrophe stürzten. Deutscher Patriotismus ohne Kenntnis der deutschen Geschichte: Das könnte nicht gut gehen. Die deutsche Geschichte ist eine Geschichte voller Gegensätze. Zu ihr gehören glanzvolle Kapitel und andere, deren sich die Deutschen nur schämen können. Eine solche Geschichte bedarf der kritischen Aneignung. Ein aufgeklärter Patriotismus zeichnet sich dadurch aus, dass er sich dieser Herausforderung stellt. Wie es Gustav Heinemann, der dritte Bundespräsident, am 1. Juli 1969 in seiner Antrittsrede sagte: "Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland."

    Es ist nicht nur das Vaterland derer, die als Deutsche in Deutschland geboren sind, sondern auch aller, die auf Grund freier Willensentscheidung nach Erfüllung bestimmter Voraussetzungen Deutsche geworden sind. Eine der Voraussetzungen ist ein Bekenntnis zu den Werten, die ihren Niederschlag im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gefunden haben. Es sind die westlichen Werte, in deren Mittelpunkt die unveräußerlichen Menschenrechte stehen. Die politische Kultur des Westens ist im Verlauf der Jahrzehnte zur Leitkultur der Bundesrepublik geworden. Das Grundgesetz ist eine westliche Verfassung, aber nicht eine beliebige westliche Verfassung, sondern eine, in die die Erfahrungen der deutschen Geschichte und vor allem die des 20. Jahrhunderts eingegangen sind.

    Die Deutschen müssen wissen, woher sie kommen, wenn sie wissen wollen, wie Deutschland wurde, was es heute ist. Sie müssen ihre Geschichte aber auch deshalb kennen, weil sie sonst nicht wüssten, was sie in Europa einzubringen haben. Europa wird nicht gegen die Nationen gebaut, sondern mit ihnen und durch sie. Die Europäer verbindet so viel, dass es eine solide Grundlage für ein europäisches Wir-Gefühl gibt. Ein deutsches Wir-Gefühl und ein europäisches Wir-Gefühl widersprechen sich nicht. Wenn es den Deutschen gelingt, beides miteinander zu verbinden, haben sie aus ihrer Geschichte eine richtige und eine notwendige Lehre gezogen.


    1938 in Königsberg geboren, floh Heinrich August Winkler als Kind mit seiner Mutter nach Württemberg. 1991 wurde er Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte an die Berliner Humboldt-Universität. Im Historikerstreit warnte er davor, die Singularität der NS-Verbrechen durch Vergleiche mit dem Terror der Sowjets relativieren zu wollen. Die deutsche Teilung begriff Winkler als Sühneopfer der Deutschen. Erst 1990 - so sein Urteil - sei in Deutschland ein in seinen Grenzen festliegender, demokratischer Nationalstaat entstanden.

    Mit Deutschland verbindet Heinrich August Winkler - ganz klassisch - Joseph Haydns Kaiserquartett.