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Geschichten aus dem Weltall

Der 51-jährige Komponist Detlev Glanert hat eine Reihe Opern und Kammermusikwerke verfasst und vermag Tradition und Moderne publikumsfreundlich zu versöhnen. Nun beeindruckt er in seiner Oper "Solaris" mit Klängen, die in eine andere Sphäre ziehen.

Von Wolf-Dieter Peter | 19.07.2012
    Wie wäre es, wenn eine schon lange aus unserem Leben verschwundene Person realiter auftaucht? Eine früh gestorbene Geliebte, ein verlorener Geliebter? Ihre Wiederbelebung ist die zentrale Fähigkeit des am Rande des Universums wabernden Plasma-Sterns Solaris. In die dortige menschliche Raumstation wird der Wissenschaftler und Psychologe Kris Kelvin entsandt, um diese seltsamen Vorgänge zu prüfen. Wie er feststellt, materialisieren sich vor Solaris aber auch Negativ-Figuren. So wird Assistent Snaut (Tenor Martin Koch) von einer "Wiedergängerin" seiner herrischen Mutter (Mezzo Christiane Oertel) bedrängt, zu der er ein ödipales Verhältnis hat. Den strikt rationalen, verbohrt wissenschaftsgläubigen Dr.Sartorius (Bass Martin Winkler) quält ein halbdebiles Kind-Häschen (Sopran Mirka Wagner). Kris selbst erscheint seine vor 14 Jahren im Selbstmord endende, aber unvergessene Frau Harey – und nach erster, entsetzter Ablehnung taucht er aus Liebe zu dieser Reinkarnation am Ende in Solaris ein.

    Obwohl das Libretto von Reinhard Palm nicht über die Drehbücher der beiden hochklassigen Verfilmungen durch Tarkowski und Soderbergh hinausführt und im zweiten Akt Längen besitzt, schlägt der Abend in Bann. Das ist zunächst der klaren Inszenierung des Duos Moshe Leiser-Patrice Caurier zu danken. In einem weißen Raumstationsambiente von Christian Fenouillat sind die zwischen Wirklichkeit und Imagination changierenden Beziehungsdramen mit präziser psychologischer Personenregie nachvollziehbar. Faszinierend gesteigert wird der Bühneneindruck aber durch die Videoprojektionen von Tommi Brem: im Zusammenspiel mit Christophe Foreys Lichtregie, der die Flexibilität von Solaris in Farbspielen fasste, wandern immer wieder krakenartige Lichttentakel durch die Luken herein. Es bilden sich zerfließende Zellstrukturen. Dazu schießen technische Lichtsignale an die Wände. Dass die schlafende Harey gleichsam immateriell, als Lichtprojektion aufsteht, um Kris nachzugehen - da sie ja von seinem "Gedenken" abhängig ist und verzweifelt an der verschlossenen Tür scheitert - das wurde zu einem visuellen Höhepunkt.

    Stärksten Eindruck aber macht Detlev Glanerts Komposition. Seine eingangs schwebenden, angenehm irisierenden Klänge ziehen gleich in eine andere Sphäre. Dann beeindruckt die durchgängige, sofort zugängliche Dramatik, die sich bis zum Oktett aller Figuren steigert und dort dann mit Dissonanzen das Chaos der Gefühle Klang werden lässt.

    Doch dazwischen scheut sich Glanert – anders als die meisten seiner Zeitgenossen - nicht, harmonische Instrumentalklänge und melodiöse Gesangslinien im menschlichen Miteinander dramaturgisch sinnvoll einzusetzen - und sie dort, wo Auseinandersetzungen oder Disharmonie aufbricht, eben mit allen Schlagzeugwirkungen und gebrochenen Klängen bühnenwirksam und sofort eingängig zu gestalten. Den ungetrübten Schlussjubel verdiente vor allem das zarte, traumschön entrückte Liebesduett zwischen Harey (Sopran Marie Arnet) und Kris (faszinierend: Bariton Dietrich Henschel) – Dirigent Markus Stenz, die Wiener Symphoniker und der Prager Philharmonische Chor – der mehrfach changierende Melismen aus dem Off in den Raum fluten ließ – musizierten da anrührend.

    Plötzlich war "Oper" allem Film überlegen: Die Handlung wurde emotional emporgehoben, weil Musik und Gesang, weil der singende Mensch eben mehr vermitteln kann als alle Raffinessen Hollywoods. Deutsche Intendanten: Unbedingt nachspielen!