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Geschichten aus Gorleben

Der Schriftsteller Jo Lendle war dabei, als sich Mitte der 80er-Jahre die Anti-Atomkraft-Bewegung formierte. Seine Erfahrungen bei den Demonstrationen in Gorleben hat er in dem Roman "Mein letzter Versuch die Welt zu retten" verarbeitet.

Von Ralph Gerstenberg | 05.11.2009
    Es ist das Jahr 1984, in dem ein Ort in die Schlagzeilen gerät: Gorleben - eine kleine Gemeinde im äußersten Nordosten von Niedersachsen, dem sogenannten Wendland. Hier, in unmittelbarer Nähe der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, wird vor 25 Jahren ein Atommülllager in Betrieb genommen. Tausende von Menschen machen sich auf den Weg in den bevölkerungsärmsten Landstrich der Bundesrepublik, um dagegen zu protestieren. In Jo Lendles neuem Roman "Mein letzter Versuch die Welt zu retten" ist es eine Gruppe von seltsam ausstaffierten jungen Leuten, die mit einem Kleinbus zum Protestieren aufbricht.

    "Sie sind kämpferisch, sie wollen auch was erleben. Es ist schließlich auch eine Abenteuergeschichte, die sie da ins Wendland führt zum Protest. Die setzen sich in einen Bus, um nach Gorleben zu fahren, und haben eben die Idee, um nicht abgehalten zu werden an Polizeisperren, dass sie sich verkleiden als Jugendkammerchor einer Partnergemeinde, der zu einem musikalischen Wochenende aufbricht. Und das gibt ihnen natürlich die ganze Zeit etwas leicht Theatralisches und Verkleidetes. Sie haben Anzüge an, die sie sonst nicht tragen, und sie bleiben in dieser ganzen Protestbewegung auch immer ein bisschen die Außenseiter. Denn sonst waren die Kleidersitten damals doch ganz anders."

    Der 16-jährige Ich-Erzähler Florian Beutler ist einer der Jüngsten der Gruppe. Seine Anzughose ist nur dreiviertellang. Generationen von Beutlers haben vor ihm darin gesteckt. Doch auch wenn die Hose nicht passt und Florian damit zwischen all den Batik-Leinen-Protestlook-Trägern geradezu anachronistisch wirkt, ist er dazu verdammt, die letzten beiden Tage seines Lebens in diesem ungeliebten Kleidungsstück zu verbringen. Denn Florian Beutler wird seinen Weltrettungsversuch nicht überleben. Das erfährt der Leser bereits auf der ersten Seite des Buches.

    Florian erzählt seine Geschichte quasi rückblickend aus dem Jenseits. Eine Erzählperspektive, die Autor Jo Lendle gewählt hat, um die Protestbewegung jener Jahre in einer kritischen Retrospektive betrachten zu können.

    "Ich wollte einen Erzähler einführen, der durchaus mit Abstand die Sache betrachtet, der nicht im Lehnstuhl sitzt und sich heute an seine bewegte Jugend erinnert, sondern der eben auch sehen kann: Mensch, was haben wir damals eigentlich gemacht?! Dafür erschien mir so eine Jenseitsposition ganz geeignet. Der hat keine eigenen Aktien mehr drin, der ist auf der anderen Seite und schaut sich das in all seiner Seltsamkeit und ihm auch befremdenden Vergangenheit ganz von außen an."

    Die Schilderungen der Protestaktionen sind mit Erinnerungssplittern durchsetzt, in denen Jo Lendle seinen Erzähler die Vorgeschichte des wendländischen Abenteuers rekapitulieren lässt. Darin erfährt man, dass Florian mit seinem größeren Bruder wohlbehütet in der bundesrepublikanischen Provinz aufgewachsen ist. Die Zeiten sind politisch. Florians erster Flirt mit einem angehimmelten Mädchen namens Anton findet bei einer Baumrettungsaktion statt. In diesen Passagen wird Jo Lendles unprätentiöse Sprache vorübergehend sinnlich-metaphorisch. Da sind Straßen mit "Dunkelheit und Stille glasiert", Gedanken "fliegen" durch Köpfe. Doch bald gewinnt die Alltagsprosa wieder die Oberhand. Bevor Fabian und Anton gänzlich zueinanderfinden können, hat sein Vater mit Antons Mutter bereits ein Verhältnis begonnen. Die fragile Zweisamkeit der beiden Teenager zerbricht angesichts der hemmungslosen elterlichen Paarungsoffensive.

    "Es ist auch ein Buch über das Verhältnis der Generationen. Die Eltern dieser Jugendlichen sind eben solche Eltern, die ihren Kindern auch ihre Jugend ein bisschen wegnehmen. Das Buch ist aber eigentlich weniger eine Anklage an diese Elterngeneration, auch wenn es diese pikante Situationen gibt, wo die Generationen stumpf aufeinandertreffen. Es ist auch eine Infragestellung, wie diese jüngere Generation selber - zum Beispiel ihren Eltern gegenüber, zum Beispiel in ihrem Aktionismus - sich nicht immer Rechenschaft darüber abgelegt hat, über das, was sie da tut. In diesem Strudel wurde natürlich auch vieles erstmal getan, dann wurde später oder gar nicht nachgedacht."

    Der Strudel der Ereignisse reißt die juvenilen Protagonisten mit sich. Nichts passiert, wie es geplant war. Die Polizei umstellt und räumt bereits in den frühen Morgenstunden das Zeltlager der Protestierenden, Sitzblockaden enden am wenig einsichtigen Verhalten der wendländischen Bevölkerung. Das politische Anliegen gerät inmitten des Katz-und-Maus-Spiels mit der Staatsmacht zeitweise in Vergessenheit. Was anfangs noch komisch wirkt, wird zusehends bedrohlich. Die Groteske beginnt, in einen Thriller überzugehen. Bis zum tragischen Showdown verfolgt man als Leser, wie die Hauptfigur nach und nach die Kontrolle verliert und sich in immer aussichtslosere Situationen begibt. Doch Jo Lendles Roman ist nicht nur eine Parabel über politischen Aktionismus, sondern auch ein Sittengemälde der letzten Jahre der alten Bundesrepublik.

    "Ich glaube, dass es eine ganz wichtige Zeit war für die Bundesrepublik. Man hat ja bei den Nachrufen immer ganz viel über die RAF-Jahre in den 70ern gesprochen, und es gibt so ein verschämtes Wegducken vor den 80ern, als alle zum letzten Mal sich eingesetzt haben, eine sehr ideologisch aufgeladene Zeit, als man glaubte zu wissen, was gut und richtig und was falsch ist. Und als dieses Zeitalter der Ideologien dann 1989 zu Ende ging, schämte man sich eine ganze Weile für diese Zeit, für die Ausdrucksformen, für die Protestformen. Und bis heute hat der Widerstand oder ein allgemeines, sich bündelndes Interesse keinen Zusammenhalt mehr gefunden."

    Bereits im Titel von Jo Lendles Roman "Mein letzter Versuch die Welt zu retten" klingt eine gewisse Ironie an, mit der der Autor diese Zeit betrachtet - eine Zeit, in der Lendle selbst jung und engagiert in Gorleben war. Diese ironische Distanz bewahrt sein Buch vor nostalgischen Verklärungen jeglicher Art. In ihrer dogmatischen Verschrobenheit sind seine Figuren schlüssig gezeichnet. Sie folgen der Logik ihrer Zeit. In seinem atmosphärisch dichten Roman entlarvt Lendle die Gefahren eines naiven Selbstfindungsprotestes ebenso wie die Mechanismen einer überhitzten Aktions- und Agitationskultur, mit der sich eine Bewegung ins Abseits manövriert.

    Jo Lendle: Mein letzter Versuch die Welt zu retten
    Deutsche Verlagsanstalt, 256 Seiten, 19,95 Euro