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Geschichten um das Böse im Menschen

Andrea Maria Schenkel wurde für ihr Debüt "Tannöd" mit Preisen überhäuft. Jetzt legt sie ihren zweiten Roman vor. In "Kalteis" greift sie den Fall des Münchener Vergewaltigers und Serienkillers Eichhorn - bei ihr heißt er Josef Kalteis - aus den 30er Jahren auf. Anders als die meisten anderen Krimi-Autoren verzichtet sie auf die Figur eines Ermittlers, sie wechselt die Perspektiven, schlüpft in die Rollen von Tätern, Opfern, Zeugen.

Detlef Grumbach im Gespräch mit der Autorin | 24.10.2007
    "Ich finde es interessant, mir zu überlegen, warum jemand andere Leute umbringt. Warum gibt es Leute wie Kalteis? Was bringt ihn dazu? Also mich fasziniert das schon: das Verbotene, das Mysteriöse, das Geheime, das Nichtalltägliche."

    Einen gewissen Hang zu Geschichten, die um das Böse im Menschen kreisen, hat Andrea Maria Schenkel von ihrer Großmutter. Schon diese hat sich bei der Zeitungslektüre und im Radio dafür interessiert und der kleinen Enkeltochter mit Vergnügen das Gruseln gelehrt. So ist es kein Zufall, dass die Autorin sich eher für reale Kriminalfälle interessiert als für frei erfundene, dass diese Fälle weit zurück liegen. Ihr preisgekröntes Debüt "Tannöd" erzählt davon, wie in den fünfziger Jahren auf einem Einsiedlerhof bei Regensburg eine ganze Familie ausgelöscht wurde, ihr zweiter Roman, "Kalteis" greift den Fall des Münchener Vergewaltigers und Serienkillers Eichhorn - bei ihr heißt er Josef Kalteis - aus den dreißiger Jahren auf. Die Geschichten sind genau recherchiert, doch wie sie sich dann zu einem Roman verdichten, hängt von einer bestimmten Situation ab, die sich in im Kopf der Autorin festgesetzt hat, einem starken Bild, in dem sich das Geheimnisvolle und das Böse wie in einem Brennglas fokussieren lässt.

    "Bei "Tannöd" war die Ausgangssituation die, ich wollte die Geschichte dieser Betty erzählen, ich wollte dieses achtjährige Kind sprechen lassen. Das war die erste Seite, die ich geschrieben habe und das war die Ausgangssituation und von da an hat sich alles weiterentwickelt. Die Ausgangssituation bei "Kalteis" war eine ganz andere: Ich wollte diese Exekution schreiben. Ich habe das ganze Buch eigentlich nur geschrieben, um die Exekution schreiben zu können."Kalteis" beginnt mit der Hinrichtung des Täters im Jahr 1939. Vier Schritte brauchte der Mörder, um seine Zelle zu verlassen, siebzehn Sekunden nach Betreten des Gefängnishofes ist er tot. Kurze Sätze, genaue Beobachtungen schaffen eine atemberaubende Atmosphäre. Dann ein Schnitt. Ein Mädchen namens Kathie sitzt im Zug und fährt nach München, will ihr Glück dort suchen. Sie ist auf dem Dorf aufgewachsen, hat als Kind ihre Mutter oft nach München zum Einkaufen begleitet. Einmal hat sie dabei eine Rolle Garn gestohlen: "Rot war sie gewesen", so heißt es, "und fest hatte sie die Hand darüber verschlossen. Nicht mehr hergeben wollte sie sie." Jetzt im Zug denkt sie an diese Garnrolle. An die Garnrolle denkt sie auch später, als zwei junge Motorradfahrer, denen sie sich für etwas Geld hingegeben hatte, sie fragen, was sie jetzt machen wolle. Vom Glück, dass die Garnrolle versprochen hatte, ist sie weit entfernt. Bis sie Josef Kalteis, Rangierer bei der Reichsbahn, kennen lernt.

    In die Geschichte von Kathie hinein montiert die Autorin kurze Szenen, die den Fall, der sich hier erst anbahnt, von vornherein als Teil und Abschluss einer ganzen Serie erscheinen lassen: Sie erzählt von Gerda, Kuni, Herta, Erna und Marlies. Bei Gerda bleibt es bei einer Belästigung, der Täter wird gestört. Bei Kuni erfährt der Leser von einer Vermisstenanzeige. Beim dritten Mädchen wird die Leiche gefunden, beim vierten werden Vergewaltigung und Mord geschildert - aus der Perspektive des Opfers: "Sie kann nicht schreien. Nicht schreien. Nicht atmen. Nicht. Keine Luft. Keine." Das geht unter die Haut, wird aber noch gesteigert, wenn das Tabu gebrochen wird und alles aus der Perspektive des Täters erzählt wird, auch, wie Josef Kalteis danach ins Wasser eines Kanals taucht. Er "spürte, wie die Kühle ihn umschloss. Wie er langsam im dunklen Wasser ruhiger wurde, wie er zufrieden mit sich selbst, wie er glücklich war."Es ist natürlich blöd, gerade in Zusammenhang von Vergewaltigung und Mord von "Ich habe es gerne geschrieben." zu sprechen, aber es war tatsächlich so. Man hat die Herausforderung, man hat die Idee, man möchte sie umsetzen, und in dem Moment geht es wirklich nur ums Schreiben. Man sitzt davor, man schreibt, aber man ist in dem Augenblick überhaupt nicht vorm Laptop. Man ist - ich weiß nicht wo - in einer ganz anderen Welt. Es kommt einem in dem Augenblick auch gar nicht so abstoßend, brutal oder grausam vor. Man ist in dem Augenblick einfach in dieser Figur drin und man schreibt es."

    Wer war's? Wie wird der Täter überführt? Diese Fragen interessieren die Autorin nicht, die in der Nähe von Regensburg wohnt, mit Mitte Vierzig ein ganz normales Familienleben mit Ehemann und Kindern führt und schon mal deutlich um Ruhe bitten muss, wenn sie zu Hause am Laptop sitzt. Anders als die meisten anderen Krimi-Autorinnen und -Autoren verzichtet sie auf die Figur eines Ermittlers, benötigt sie auch keine überraschenden Wendungen, um für Spannung zu sorgen.

    "Ich finde es faszinierend, wie Marquez in "Chronik eines angekündigten Todes" zwei Stunden und gleichzeitig dreißig Jahre erzählt. Dann klar: Man braucht nur an Dürrenmatt denken. Wenn man da an "Das Versprechen" denkt, einen Mordfall, der eigentlich nie aufgeklärt wird, der nie aufgeklärt werden kann. Ich finde das faszinierend. Das sind natürlich dann schon Vorbilder."

    So rückt sie das Geschehen unmittelbar an den Leser heran, versetzt ihn in die Köpfe der Beteiligten. Sie wechselt sie die Perspektiven, schlüpft in die Rollen von Tätern, Opfern, Zeugen. Sie umkreist das Verbrechen, lässt den Leser, beinah körperlich spüren, wie der Ring um das Opfer immer enger wird und das Unausweichliche schließlich geschieht, lässt ihn manchmal statt des Grauens eher so etwas wie Erleichterung spüren, wenn es vorbei ist. Sie lässt viele Stimmen zu Wort kommen, orientiert sich stark an gesprochener Sprache, gibt jeder Stimme ihren eigenen, dezent vom Dialekt gefärbten Tonfall.

    "Sprache hat einfach eine tolle Melodie für mich und manche Sätze lese ich immer wieder, weil sie mir gefallen haben, weil mir der Klang der Sprache unheimlich gut gefällt. Das ist bei mir auch wichtig, wenn ich einen Text schreibe: Ich muss ihn laut lesen, immer wieder laut lesen, um zu hören, ob er mir gefällt oder ob er mir nicht gefällt. Ich höre auch Leuten gerne zu: Leuten im Bus, in der U-Bahn, egal, wo man sich befindet. Ich höre denen einfach wahnsinnig gerne zu wie sie sprechen. "

    Für "Tannöd" ist Andrea Maria Schenkel mit dem Deutschen Krimipreis und dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet worden. Das Debüt wurde zum Bestseller, ein Erfolg, der durch "Kalteis" fast schon übertroffen ist. Die Autorin ist mit nur zwei Büchern der Star der Krimiszene, und trotzdem wissen die Leser recht wenig von ihr. Noch gelingt es ihr, den privaten Raum, das Familienleben, zu schützen, bringt sie die nötige Zeit auf, die die Kinder von ihr fordern.

    "Das Gute am Schreiben ist ja, dass man sich wahnsinnig schön hinter dem Buch verstecken kann. Schauspieler und so die müssen ja präsent sein. Da ist ja das Gesicht das Wichtige. Und bei mir - das Cover ist wichtiger, das Buch ist wichtiger und ich möchte das auch ganz gerne so haben. Also ich bin uninteressant als Person. "

    In Gedanken ist sie bei aller Bescheidenheit aber schon ganz bei ihrem dritten Buch. Wovon es handelt, ob wieder ein historischer Kriminalfall sein wird, verrät sie nicht. Nur, dass sie die Ausgangsszene, die sie braucht, um loslegen zu können, längst vor Augen hat. Setzt der Erfolg sie jetzt beim Schreiben unter Druck? Da lacht sie nur.

    "Den Druck, den mache ich mir eher selbst, weil ich habe die Geschichte im Kopf und ich habe jetzt über ein dreiviertel Jahr daran herumrecherchiert und ich möchte es jetzt endlich aufschrieben und dieses Gefühl, das gute Gefühl, wenn man etwas geschrieben hat, das einem gefallen hat, das möchte man wieder haben, das ist eine Sucht."