Freitag, 19. April 2024

Archiv


Geschichten vom Verlust

Martin Kluger hat viel zu sagen. Und mit seinen sieben Erzählungen in "Der Koch, der nicht ganz richtig war" hat er endgültig bewiesen, dass er zu den bemerkenswerteren Gegenwartsautoren gehört.

Von Ulrich Rüdenauer | 22.11.2006
    Martin Kluger ist ein Namensfinder. Merkenswürdige Namen spielen in seinen Geschichten eine bedeutsame Rolle, Namen, deren Klang oft schon einen ganzen Erzählraum öffnen: Gershon Schwander, Renaldo Redondo Gomez oder Graf Leopold Friedrich Suleiman Hagendorn heißen diese Figuren. Sie sind platziert auf Stammbäumen, deren Äste in die verschiedenen Geschichten hineinwachsen und -wuchern.

    "Es sind so Namen, die ich mir irgendwann ausgespäht habe, fast meine Seele sich ausgespäht hat, zum Beispiel: Ludovico Weintraub oder so. Es sind ja keine Namen, die es nicht gibt, aber die für mich natürlich schon in sich Geschichten erzählen. Also: Ein Mann, der Ludovico Weintraub heißt, da sieht man schon, Emigrationsbewegungen haben stattgefunden. Und ein Mann, der sich Suleiman Fritzpoldi von Hagendorn nennt, aber eigentlich einen ganz anderen Namen hat, ist ein Friseur. Es geht halt um versprengte Charaktere, und die heißen halt nicht Fritz Müller."

    "Namen haben sich als unwirklich erwiesen in der Geschichte. In dieser Geschichte und in allen, die vorher geschahen." Dieser geheimnisvolle Satz taucht einmal unvermittelt auf in den nicht weniger geheimnisvollen Geschichten von Martin Kluger. Aber der Satz ist gar nicht so rätselhaft.

    "Dieser Satz, für mich hat der eine klare Bedeutung. Namen haben sich als unwirklich erwiesen in der Geschichte durch Auschwitz, weil Namen dort ausgelöscht wurden und niemand sie nannte. Jetzt werden sie genannt natürlich, das hat sich alles verändert, als ich das schrieb, hatte ich nicht diesen Eindruck. Und deswegen ist das ein Satz, der sich auf diesen Holocaust bezieht."

    In Berlin-Steglitz findet man Klugers Erzähler und Helden, in Montevideo oder in Gleiwitz im Oberschlesischen, aber zuallererst in der Fantasie und in den preziösen Sätzen: Hier entsteht nicht nur ein ganz eigener Erzählraum, sondern drumherum ein eigentümliches Sprachgebäude, in dem Vergangenheiten aufbewahrt und eigenlebendig werden, Namen verheißungsvoll klingen und ebenso verheißungsvolle Geschehnisse nach sich ziehen. "Der Koch, der nicht ganz richtig war" heißt dieser schmale, sieben Erzählungen versammelnde Band. Das 20. Jahrhundert und seine Schreckensgeschichte konfrontiert Kluger mit der Idylle, die Genauigkeit des Blicks mit der Unzuverlässigkeit der Erinnerung: Kluger ist nicht wie der Koch blindwütig, aber raffiniert, kein Feuerschlucker wie eine seiner Figuren, aber ein Artist, der seine Helden als Jongleur durch die Geschichten wirbelt und doch fest im Griff hat.

    "Was ich wichtig finde, sind Stimmen, die in diesen Erzählungen sprechen, Stimmen zum Teil von Erzählern, aber es kommen auch andere zu Wort. Es ist ein gewisser Stimmenchor. Und das sind Stimmen, die auf eine Gleichzeitigkeit verweisen. Was mich interessiert, an allem, was ich schreibe, ob das jetzt die Erzählungen sind oder der letzte Roman, das ist immer die Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Mich interessiert, was passiert, wenn ich da im Café sitze, zum Beispiel in Montevideo und dann spreche ich mit jemandem, der vor 40 Jahren dahin emigriert ist. Gleichzeitig hab ich ein Schicksal, dann denk ich an bestimmte Sachen, die sich - gleichzeitig wie dieser Mann emigriert ist - in Berlin abgespielt haben, und ich komme zu so einem Teppich. Es gibt einen Filmregisseur, den ich sehr verehre und bewundere, Claude Lelouch, der in seinen besten Filmen, diese Art von Montagen, von Erinnerungsmontagen und überlappenden Zeitebenen, sehr gut gebracht hat. Das ist auch nicht so leicht, und ich arbeite auch immer noch dran, und das interessiert mich. Wir sind ja alle miteinander verbunden, wir Menschen, wir merken es oft gar nicht, weil wir uns so isolieren und immer mehr isolieren und sitzen alle vor Computern und sonstwas. Und wir sind aber verbunden, und es gibt schon so eine Art, stelle ich mir vor, eine Wolke um den Planeten von Gedanken und Träumen, also wie eine Wolke, die so rumkreist, und an die wir irgendwie auch angeschlossen sind. Aber - wie gesagt - über die Erinnerung theoretisch zu reden, ist sehr schwer, ist auch von anderen Leuten besser gemacht worden."

    Der Koch aus der Titelgeschichte ist der Tante des Erzählers verfallen, Frenzis "mosaisch mandelförmigen dunklen Augen", in denen sich eine "prähistorische Müdigkeit" lesen lässt, die sich übrigens auch in den Augen anderer Figuren eingenistet hat, man schaut in sie hinein wie in die vergangenste Vergangenheit, die Seele.

    "Prähistorisch ist für mich ein kleines Symbol für Allgemeingültigkeit. Etwas nicht Mythologisches, eher Mystisches, und vor allem fast schon Religiöses, also etwas, was verweist, was transzendiert, das verweist auf einen größeren Zusammenhang. Und solche Menschen gibt es in allen Klassen und Schichten und Ländern, mit denen man spricht oder von denen man eine Geschichte hört, die einen dann sofort zu Gott bringt, wo man sofort das Gefühl hat, man ist angeschlossen an eine Quelle von Weisheit oder wie immer man es nennen will, von einem Wissen über die schwierigen und nie zu erklärenden Zusammenhänge, warum wir hier sind et cetera. Und das sind diese prähistorischen Müdigkeiten. Denn wenn jemand so viel weiß, ein alter Rabbi zum Beispiel, dann ist er auch müde von diesem Wissen."

    Frenzi ist resistent und resolut. Statt den Koch zu erhören, lässt sie ihr Herz von Gershon Schwander erobern. Und bekommt eine Tochter von ihm, Miriam, das "erste Kind und das letzte, das im Alten Land mit einem Schopf schwarzer Locken zur Welt kam. Ein paar Sommersprossen des Dichters Schwander tanzten um ihre mosaische Nase."

    Aber nur bunt sind diese kapriolenartigen, im besten Sinne kapriziösen Texte nicht; immer wieder springen kleine Irritationen ins Leserauge und deutlichere Hinweise, die daran gemahnen, dass diese Geschichten in einer bestimmten Zeit spielen, im Katastrophenjahrhundert, dem 20 Bitterböse ist von "Verfolgungssport" die Rede, dessen liebste Trophäen "Musikalische Ohren" und "Mosaische Nasen" darstellten.

    "Was mich nicht so interessiert, auch schon ab dem Roman 'Abwesende Tiere' nicht, ist jetzt eine faktische Darstellung. Ich rede jetzt von diesen Geschichten, ich rede vom Holocaust, von deutscher Geschichte in der dunklen Zeit. Ich rede nicht von 'Der Gehilfin'. Die Darstellung dieser Vorgänge auf faktischer, wirklichkeitsgetreuer, realistischer Ebene war mir immer suspekt. Da finde ich das Gleichnis, das Zwischen-den-Zeilen-Sprechen, die Andeutung spannender."

    Noch an seinem Sterbetag denkt Gershon Schwander, ausgewandert nach Montevideo, an Frenzi Vogel zurück, die "aus dem Land ohne Wiederkehr" stammte. Seine Urgroßnichte Djuna erinnert ihn an sie. Djuna Weintraub, von der unter anderem in der Geschichte "Montevideo" erzählt wird, ist die Tochter des "Charmeurs, Hazardeurs und Entrepreneurs" Ludovico Weintraub und kommt Ende der 60er Jahre aus Uruguay nach Berlin, nicht älter als 19 Jahre ist die Abenteuerlustige und verliebt sich in einen verwitweten Arzt.

    Manchmal verdichtet Kluger ganz beiläufig, fast schon nur aus dem Augenwinkel wahrnehmbar, eine komplette Lebensgeschichte, die kunstvoll hineingeschnitten ist ins Gesamt, hineinmontiert, und so geht alles durcheinander wie Erinnerungen durcheinandergehen. Das ist eines der Themen, von dem die Erzählungen zusammengehalten werden, die Erinnerung: Wie sie sich herausschält, mäandernd, spiralenförmig, das wird hier vorgeführt. Vor allem aber, wie erinnernd eine bestimmte Form der Erinnerung entsteht, demonstrieren die Erzähler: Es herrscht hier ein Bewusstsein der Vergänglichkeit und Unzuverlässigkeit. Die Geschichten handeln vom Verlust, vom Verlorenen, von einer Wehmut.

    "Was mich literarisch bewegt, jetzt mal vom Biografischen wegzukommen, ist halt die, so ein Weltuntergang, der stattgefunden hat, und den wir in verschiedenen Ländern der Erde, wahrscheinlich in allen fast, spüren. Das wirkt sich aus. Wenn man in Deutschland lebt und jetzt mal das Wort Location Deutschland nimmt, also so richtig als Filmlocation, dann merkt man das. Man merkt es in den deutschen Filmen, man merkt es überall, es fehlt etwas, es ist etwas weg, das kann man überhaupt nicht definieren, ich will es auch gar nicht versuchen. In andern Ländern wie zum Beispiel in Uruguay, wo meine Lebensgefährtin und ich oft sind, sieht man die alten Emigranten, sieht man die Kinder der Emigranten und sieht die verschlungenen und zum Teil aberwitzigen Wege auch, wie die dort hingefunden haben, und das ist eine Conditio humana, bei wem hab ich das kürzlich, bei Koeppen, glaube ich, habe ich gelesen, dass er sagte: Ich bin als Emigrant geboren. Und das ist eine Sache, die Literatur gut darstellen kann."

    Die Erzähler treiben jeweils ein vielschichtiges, zugleich durchsichtiges und undurchsichtiges Spiel. Klugers Texte sind sprachverliebt, rhythmisch, verspielt, man möchte sie laut lesen oder vorgelesen bekommen. Sie haben einen Drive, nehmen Fahrt auf, galoppieren und stolzieren mal wieder, brillieren und alliterieren: "Die Gaslaternen, unbewohnte Glashäuschen, glommen gelb auf", heißt es einmal. Hier glimmt und glitzert etwas. Wie arbeitet Kluger an diesen Erzählungen.

    "Wie ein Jazzmusiker, der sich auf die Bühne stellt und ein Solo improvisiert. Das ist ja gerade die Erfrischung bei einer Erzählung. Ein Roman ist halt immer eine Langstrecke, und man lebt auch in so einer Welt während eines Romans, das ist auch toll. Aber die kann durch einen blöden Tag so durcheinander gebracht werden. Aber so eine Erzählung braucht nicht so lange, und sie ist, ich finde, es ist wie Gedichtschreiben. Ich kann leider überhaupt nicht Gedichte schreiben. Konnte ich nie, werde ich nie können. Für mich sind diese Geschichten der Versuch, ein bisschen lyrische Prosa zu improvisieren und auch mal den Zügeln freien Lauf zu lassen und jetzt nicht immer, man ist in einem Roman ja auch sehr stark in einem Plotgerüst. Und in einem großen Geflecht. Und dafür sind die Erzählungen für mich wie eine Art von Ausbrechen."

    Martin Kluger, 1948 in Berlin geboren, sesshaft dort und in Montevideo, dem Herkunftsort seiner Lebensgefährtin, hat erst im Frühjahr mit seinem Roman "Die Gehilfin" begeistert. Er hat in den letzten Jahren etliche Drehbücher geschrieben, und man fragt sich, wie er dieses Arbeitspensum schafft.

    "Ich hab mich richtig warm geschrieben, sagen wir es mal so. Ich hab ja, wie Sie wissen, diesen Roman 'Abwesende Tiere', hab ich ewig dran gesessen, dann hat es nochmal ewig gedauert, bis DuMont das dann entdeckte und brachte. Das war nicht so leicht. Und ich hab halt auch schon eine ganze Menge schon geschrieben gehabt, was jetzt dann kommt. Und ich bin halt auch fleißig: Das heißt, ich denke, im Moment habe ich viel zu tun, habe ich viel zu sagen, und das nütze ich, indem ich eben versuche, nicht so viel Drehbücher zu schreiben."

    Kluger hat viel zu sagen. Und mit seinen neuen Geschichten hat er endgültig bewiesen, dass er zu den bemerkenswerteren Gegenwartsautoren gehört – gerade weil in seiner Sprache etwas Altertümliches und Verlorenes nachklingt.