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Geschichtspolitik in Indien
"Jetzt wollen die Menschen reden"

Im Jahr 1947 wurde Britisch-Indien in die Staaten Indien und Pakistan geteilt. Bis zu eine Million Menschen kamen bei bürgerkriegsähnlichen Unruhen ums Leben, 20 Millionen wurden vertrieben, deportiert oder umgesiedelt. Doch in Indien wurde das Trauma der Teilung nie wirklich aufgearbeitet.

Von Christina-Maria Purkert | 06.08.2018
    Grenzpolizei in der Kaschmir-Region in Ramgarh. Der Zaun trennt das durch Indien kontrollierte vom pakistanisch kontrollierten Kaschmir.
    Ein Grenzzaun in der geteilten Provinz Kaschmir (dpa / AFP/epa)
    Aanchal Malhotras Museum der Erinnerungen hat kein Haus. Man kann es im Internet besuchen. Bilder und kurze Geschichten zeigen alte Menschen mit Erinnerungsstücken an ihre Heimat. Ein Schal, ein Bild, eine Schere oder ein Türschloss und eine persönliche Geschichte. Über drei Jahre hat die junge Inderin Aanchal Malhotra Menschen besucht, die 1947 aus Indien oder Pakistan flüchten mussten und sie gebeten, ihr Erinnerungsstücke zu zeigen.
    "Ich habe die Gegenstände als Katalysatoren benutzt, um in diese Erinnerung hineinzukommen. Denn anders würde ich diese Erfahrung, einen Genozid überlebt zu haben, trivialisieren. Der Gegenstand erlaubt mir, an das Trauma zu rühren, ohne aufdringlich zu sein", erzählt sie.
    Aanchal Malhotra ist Künstlerin, nicht Historikerin. Ihr Antrieb für das Projekt war persönlich - sie ist Urenkelin und Enkelin von Menschen, die aus dem heutigen Pakistan nach Neu Delhi kamen. Viele Menschen ihrer Generation zeichnen jetzt - über 70 Jahre nach der Teilung - die Erinnerungen der letzten Zeitzeugen auf.
    Ihr geht es allerdings nicht um reine Dokumentation: "Nur eine Datenbank der Erinnerung zu haben, reicht mir nicht. Es geht darum, sie zu nutzen für ein besseres Verständnis dieser Zeit. So viel ist noch nicht untersucht, zum Beispiel warum eine ganze Generation nach der Teilung geschwiegen hat. Warum es anders als beim Holocaust keine psychologischen Studien gibt. Es muss noch viel diskutiert werden und leider haben wir nicht das Vokabular dafür."
    Seit einem Jahr erst gibt es das Museum der Teilung in Amritsar
    An der Entwicklung dieses Vokabulars arbeitet auch Mallika Ahluwalia. Sie leitet das erste Museum zur Geschichte der Teilung, das im historischen Rathaus von Amritsar im geteilten Punjab seinen Platz gefunden hat. Auch hier werden private Erinnerungsstücke gezeigt. Videos lassen Zeitzeugen zu Wort kommen. Kunst, die sich mit dem Teilungstrauma beschäftigt, wird ausgestellt. Für Indien ist so ein Museum etwas völlig Neues. Denn es gibt zwar historische Archive und auch viele Gedenkstätten für Freiheitskämpfer, besonders für Mahatma Gandhi. Aber bis zum 70. Jahrestag der Teilung vor einem Jahr gab es kein Haus, das sich der dunklen Seite der Unabhängigkeit widmet.
    "Jedes andere Land erinnert an die Geschichte. Holocaust, Apartheid, sogar die Anschläge vom 11. September, daran wird bereits jetzt schon erinnert. Die Teilung Indiens hat einen ganzen Subkontinent und das Leben so vieler Menschen geprägt. Und trotzdem hat noch niemand daran erinnert. Aber die Menschen, die damals das Trauma erleiden mussten, haben Erinnerung verdient", sagte Mallika Ahluwalia.
    Anders als Aanchal Malhotra, die oft Verwunderung über ihre Fragen erlebt hat, stellt sie festgestellt: "Jetzt wollen die Menschen reden, jetzt haben sie genug Abstand. Man merkt es richtig, dass sie reden wollen, dass sie diese Last der Erinnerung loswerden wollen. Wenn wir ihnen jetzt nicht zuhören, werden ihre Geschichten verschwunden sein."
    Viele Völker, viele Geschichten, an die zu erinnern wäre
    Während die Aufarbeitung des Teilungstraumas vor allem durch die Enkelgeneration jetzt begonnen hat, fehlt dies noch bei jüngeren Gewaltepisoden der indischen Geschichte, sagt der Historiker und Verlagslektor Prasun Chatterjee: "Andere traumatische Ereignisse wie die Sikh-Aufstände 1984 oder der Ausnahmezustand unter Indira Gandhi, wie die Menschen sich da gefühlt haben - darüber ist noch nicht geredet worden. Und es ist nicht so dokumentiert worden für die Nachwelt, wie es sein sollte."
    Amritsar wäre nicht nur der Ort für ein Museum, das an die Teilung des Subkontinents in Pakistan und Indien erinnert. Es wäre auch ein guter Erinnerungsort für die von Prasun Chatterjee angesprochenen Ereignisse. Allerdings gibt es in Indien, dem Land der vielen Völker, Sprachen und Kulturen nicht nur diese nationale Geschichte, sondern viele Geschichten. Auch Unterdrückungsgeschichten, die nach Prasun Chatterjees Meinung dringend aufgearbeitet werden müssen.
    Am dringlichsten sind für ihn dabei die Erfahrungen der Dalits, also der außerhalb des Kastensystems stehenden Menschen, der Frauen in Indien und die der vielen Religionen: "Diese Punkte sind zu diskutieren. Es gibt Erinnerungen, die sich unterscheiden. Ich würde sagen, wir brauchen einen Pool von Erinnerungen. Das Land ist so unterschiedlich."