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Geschichtsunterricht im Stadion

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Überlebenden von Auschwitz. Jahr für Jahr wird am 27. Januar den Opfern des Nationalsozialismus gedacht. Seit 2005 wird auch im deutschen Fußball ein "Erinnerungstag" begangen, mit Veranstaltungen, Botschaften, Texten in Stadionmagazinen.

Von Ronny Blaschke | 29.01.2012
    Diese Initiative wurde nicht von Bundesliga-Funktionären ins Leben gerufen – sondern von Fans an der Basis. Sie ist also ein Sinnbild für die Erinnerungskultur im Fußball: Vereine haben sich lange gegen eine Aufarbeitung des Dritten Reichs gesträubt. Stattdessen graben Fans in der Geschichte ihrer Klubs.

    "Was verdrängt ist, das wirkt im Untergrund. Und wenn es nach außen kommt, wenn es gespiegelt wird, wenn es erkannt wird, verliert es auch seine Kraft und seine Bedeutung – und zwar seine negative Bedeutung."

    Eberhard Schulz engagiert sich in der Versöhnungskirche Dachau und im Sportverein Maccabi München. Er war einer der Initiatoren des Erinnerungstages im Fußball. Schulz ist in der Nachkriegszeit aufgewachsen. Er hat erlebt, wie hohe Institutionen über Jahrzehnte den Blick zurück gescheut haben. Die Kirche, Universitäten, Banken, Verlage. Auch der DFB ließ verharmlosende Schriften über seine Rolle erstellen. Erst Anfang dieses Jahrtausends ließ der Verband eine unabhängige Forschung zu. Eberhard Schulz wollte das Gedenken auch in die Stadien bringen, seine ersten Briefe an die Vereine blieben unbeantwortet. Doch Schulz blieb hartnäckig und wurde erhört: 2005 wurde der Erinnerungstag erstmals in den Arenen ausgerufen, inzwischen ist er Tradition.

    Anton Löffelmeier kennt die Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet der Historiker im Münchner Stadtarchiv. Zwischen den schweren Metallregalen des Archivs erforschte er auch die Geschichte seines Lieblingsvereins: des TSV 1860 München. Während des Krieges war viel Schriftmaterial zerstört worden. Um den Restbestand kümmerten sich die Vorstände des TSV 1860 kaum. Löffelmeier musste bei null anfangen.

    "Man muss auch sagen, dass Sportvereine oder Fußballvereine generell zur Schriftlichkeit eher ein gespaltenes Verhältnis haben. Viele Fußballvereine führen kaum ein Archiv, sind froh, wenn sie ihre tägliche Ablage irgendwie hinkriegen. Da gehen immer wieder Teile des Schriftguts und der Altregistratur verloren."

    Anton Löffelmeier recherchierte, dass Führungskräfte des TSV früh einen Pakt mit der NSDAP eingegangen waren. Auch deshalb standen viele Fans und Funktionäre seinen Forschungen zunächst skeptisch gegenüber. Unterstützung von Zeitzeugen erhielt er kaum. Er inserierte im Vereinsmagazin, verschickte Briefe an Vereine. Darauf hin rief ein älterer Herr bei ihm an und beschimpfte seinen Sohn, der ans Telefon gegangen war. Anton Löffelmeier:
    "Man ist auch in gewisser Weise unsicher. Was wird gefragt? Wie wird es ausgewertet? Werde ich vielleicht persönlich mit involviert? Schadet es mir persönlich, schadet es dem Verein? Da sind natürlich auch emotionale Hürden zu überwinden, bevor man so ein vertrauensvolles Gespräch führen kann."

    Was Recherchen bewegen können, zeigte sich in Gelsenkirchen. Der ehemalige Nationalspieler Fritz Szepan war beim FC Schalke als Idol verehrt worden. Er hatte Mitte der sechziger Jahre dessen Vorsitz übernommen. Bis heraus kam, dass Szepan 1938 ein Geschäft erworben hatte, dass Juden enteignet worden war. Der FC Schalke zog nach der Enthüllung den Antrag zurück, in der Nähe seines Stadions eine Straße nach Szepan benennen zu wollen. Auch Borussia Dortmund, Werder Bremen, Eintracht Frankfurt oder der FC St. Pauli haben Recherchen mittlerweile unterstützt. Aber, so schränkt der Historiker Löffelmeier ein, die meisten Vereine würden den "Marketingwert der Geschichte" nicht anerkennen.

    "Man sieht es ja auch bei anderen Projekten aus der Wirtschaft, dass die Firmen, die sich zum Beispiel mit der NS-Zeit befasst haben, eigentlich eher einen Image-Gewinn davon getragen haben. Das Bewusstsein dafür, dass man hier auch Geld investieren kann, genauso wie man in Merchandising Geld investiert oder in andere Werbemaßnahmen, dass das genauso gut investiert ist, dieses Bewusstsein ist bei den allerwenigsten Vereinen."

    Auch Markwart Herzog hat in seiner Freizeit die NS-Geschichte seines Lieblingsvereins erforscht: des 1. FC Kaiserslautern. Der Historiker hat acht Jahre für sein Buch recherchiert, in zwanzig Archiven und Bibliotheken, mit Zeitzeugen hat er dutzende Gespräche geführt. Ein angemessenes Honorar erhielt er dafür nicht. Vor allem die älteren Lauterer Fans hatten Angst, dass ihr Denkmal Fritz Walter posthum stürzen könnte. Herzog konnte schließlich Entwarnung geben: Wenn überhaupt, sei Walther ein Mitläufer gewesen. Herzog hat viele Dokumente auch an Erben früherer Vereinsmitglieder geschickt, so konnte er Fragen klären, auf die Familien Jahrzehnte keine Antwort kannten. Mit seinem 2006 erschienenen Buch tritt er auch als Pädagoge in Erscheinung.

    "Und ich weiß auch von Lehrern, die mein Buch im Geschichtsunterricht verwenden, weil diese Lehrer teilweise die Jugendlichen mit dem Thema Nationalsozialismus nicht mehr erreichen – aber mit dem Thema Fußball durchaus. Insofern ist Fußball als Massenmedium sicher ein probates Mittel, um auch Initiativen gegen Rassismus zu unterstützen."

    Markwart Herzog hat in Jüdischen Gemeinden und vor Schülergruppen zum Thema gesprochen. Auch als Direktor der Schwabenakademie Irsee bleibt er dem Thema treu. Am kommenden Wochenende veranstaltet die Akademie in der Nähe von Kaufbeuren eine internationale sporthistorische Konferenz. Das Thema: Der Europäische Fußball im Zweiten Weltkrieg.