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Geschlechterneutrale Bezahlung
Personalerin entwickelt 16-Punkte-Systematik

Frauen verdienen statistisch weniger als Männer, vergleichbare Jobs werden unterschiedlich entlohnt. Wie kann man Arbeit fair, objektiv und geschlechterneutral bewerten? Eine Personalchefin in Berlin hat ein Modell für gerechte Bezahlung entwickelt.

Von Daniela Siebert | 02.11.2017
    Teilnehmer der Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB stehen am 20.03.2015 am Brandenburger Tor in Berlin anlässlich des "Equal Pay Day" mit Transparenten zusammen.
    Die Forderung gibt es schon lange: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Aber wie setzt man das durch? Eine Personalerin aus Berlin schlägt vor, den Wert einer Arbeit mit einer 16-Punkte-Systematik festzulegen (dpa/picture-alliance/Stephanie Pilick)
    "Es ist wichtig an der Stelle jetzt in den Diskurs zu kommen, zu überlegen: Was wollen wir eigentlich in dieser Gesellschaft? Wollen wir solche Funktionen, die im Moment deutlich weniger bezahlt bekommen, die vor allem von Frauen ausgeübt werden wie eben Erzieher, PflegerInnen, Krankenschwestern, so bewerten, dass sie einen ähnlichen Stellenwert haben wie Ingenieure oder BWLer oder Manager oder was auch immer?"
    Julia Borggräfe ist selbst in einer Schlüsselposition, um solch eine Diskussion in Gang zu bringen. Die 43-jährige Juristin ist Personalchefin bei der Messe Berlin und Unternehmensberaterin. Zu den markanten Eckpunkten ihres Lebens gehört die langjährige Arbeit für Mercedes-Benz und das politische Engagement im Lesben- und Schwulenverband. Ungleichbehandlung von Menschen beschäftige sie schon immer, erklärt sie. Das motivierte die zweifache Mutter auch vor knapp drei Jahren eine neue Systematik für gerechtere Löhne zu entwickeln.
    Psychosoziale Belastung werde oft nicht berücksichtigt
    Das Hauptproblem sei die gängige Bewertung von Arbeit, urteilt Julia Borggräfe:
    "Also allgemein ist die Situation so, dass so ziemlich in allen Tarifverträgen ein sogenanntes 'summarisches Verfahren' zur Anwendung kommt. Das, was in den summarischen Verfahren in der Regel nicht der Fall ist, ist dass dieses Element, was viele weibliche Berufe ausmacht, nämlich diese psychosoziale Belastung, dass dieses Kriterium bei der Funktionsbewertung in der Regel nicht herangezogen wird, das führt natürlich dazu, dass solche Berufe sehr viel schlechter bewertet sind im Quervergleich zu anderen Jobs."
    Julia Borggräfe 2012
    Julia Borggräfe (imago / Wolf P. Prange)
    Dieses System sei nicht objektiv und nicht transparent, kritisiert Julia Borggräfe. Es lasse so viel Interpretationsspielraum, dass oft Menschen, die die gleiche Tätigkeit ausüben, in sehr unterschiedlichen Lohngruppen landeten. Auch zum Leidwesen von Frauen.
    Sei man etwa oft mit Schicksalsschlägen konfrontiert?
    Die Personalerin hat dazu eine Alternative entwickelt, eine neue Bewertungsmethode mit einem Punktesystem, das 16 verschiedene Aspekte berücksichtigt wie Können, Wissen, physische Anforderungen und Verantwortung. Diese Methode beziehe auch die Wertschätzung sogenannter "psychosozialer Faktoren" mit ein, betont Julia Borggräfe:
    "Wie belastend ist eine Situation, mit der ich konfrontiert bin? Bin ich häufig mit dieser Situation konfrontiert, also ist das Teil meines Alltags? Zum Beispiel im medizinischen Bereich ich oft mit schweren Schicksalsschlägen konfrontiert bin, ist das Teil meines Jobs? Oder nicht? Und da stufen wir sozusagen auch wieder ab. Und wenn es der Regelfall ist, dann bekomme ich da relativ viele Punkte."
    Messe Berlin unterwirft sich freiwillig dem TVöD
    Ob ihre Methode schon irgendwo angewendet wird, ist nicht bekannt. Ihr eigener Arbeitgeber – die Messe Berlin – praktiziere nun eine Art Mischform, berichtet sie:
    "Die Messe ist auf dem Weg dahin und wir sind da natürlich auch intensiv in Gesprächen mit unserem Betriebsrat, der das mitentwickelt hat und auch der Mitarbeiter, um zu schauen, um zu schauen: Was ist die beste Möglichkeit das zu implementieren? Wir haben uns jetzt darauf verständigt, dass wir im Prinzip ein zweistufiges Eingruppierungsverfahren haben, wir haben immer dieses System zuerst in der Anwendung, das heißt wir reduzieren unseren Ermessensspielraum und legen dann die Schablone des TVöD nochmal drauf."
    Modell würde Tarifverträge über den Haufen werden
    Das ist der Tarifvertrag öffentlicher Dienst, dem sich die Messe freiwillig unterworfen hat. Ein Dammbruch ist das nicht. Tatsächlich ist Borggräfes Ansatz so tiefgreifend, dass er das ganze bisherige System in Frage stellt und bei kompletter Umsetzung auch die bestehenden Tarifverträge angreifen würden. Daher sind auch die Gewerkschaften zurückhaltend, ihre Idee zu unterstützen:
    "Ich kann die Gewerkschaften natürlich auch verstehen, wenn sie sagen: Das würde unsere ganze Tarifsystematik auch ein stückweit über den Haufen werfen, weil die tarifliche Systematik ja eben auf diesem summarischen Modell aufbaut und nicht auf dem analytischen."
    Auch wenn die ganz großen starken Fürsprecher für ihr Modell also noch fehlen: Ans Aufgeben denkt Julia Borggräfe deshalb noch lange nicht. Getreu dem Zitat von Immanuel Kant, das sie zum Leitspruch in Ihrem eigenen Unternehmen Autenticon gewählt hat: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"