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Geschmackssinn
Harnröhrenzellen "schmecken" Bakterieninfektion

Neurowissenschaften. - Bei manchen Dingen möchten wir lieber nicht so genau wissen, wie sie schmecken. Urin gehört ganz sicher dazu. Wissenschaftler der Uni Gießen haben jetzt eine Sinneszelle in der Harnröhre entdeckt, die schmecken kann. Befremdlich, aber überraschend nützlich.

Von Anneke Meyer | 04.07.2014
    Eine Petrischale mit Bakterienkulturen zur Genvermehrung und Reaktionsgefäße mit Enzym- und Salzlösungen für gentechnische Arbeiten
    Der Körper braucht keine komplexe Apparatur, um Bakterien zu identifizieren, er schmeckt sie einfach. (dpa picture alliance / Michael Rosenfeld)
    Ein sehr bitterer Geschmack auf der Zunge ist oft eine Warnung vor schlecht Verdaulichem. Unser Mund ist allerdings nicht die einzige Körperöffnung, die solche Signale versteht. Auch in der Harnröhre sitzen Sinneszellen...
    "...und die können schmecken. Die können wirklich schmecken wie Zellen auf der Zunge."
    Wenn auch nur zwei Geschmacksrichtungen: bitter und umami, also Eiweisse. Wolfgang Kummer und seine Mitarbeiter von der Uni Gießen haben die Zellen entdeckt.
    "Die Zelle als solche, also eine Zelle ganz ähnlicher Gestallt und Funktion, hat man vor über 50 Jahren in den Atemwegen gefunden. Und dann auch im Magen-Darm-Trakt."
    Von ihrer Existenz in der Harnröhre wusste man aber bis vor kurzem nichts. Die birnenförmige Zelle trägt an ihrem Ende viele kleine fadenförmige Fortsätze, so genannte Mikrovillli. Ihr haariges aussehen klingt auch in ihrem Namen an: Bürstenzelle. In der Harnröhre verkosten die Bürstenzellen ständig Urin. Und zwar zu unserem Schutz. Dringen Bakterien in die Harnröhre ein bleibt das nicht unbemerkt, denn sie hinterlassen Stoffwechselprodukte.
    "Solche Substanzen schmecken wir in unserem Mund als bitter. Wir sollten also weder bitter noch freie Aminosäuren, umami, auf andren Schleimhäuten haben, die gehören nicht dahin und diese Zellen können das schmecken und uns dann warnen."
    Schmecken die Bürstenzellen unwillkommene Bakterien, schütten sie Acetylcholin aus. Ein Botenstoff, den alle Bürstenzellen miteinander gemein haben, egal ob in den Atemwegen oder im Harntrakt. Durch ihn gelang es Wolfgang Kummer und seinem Team die Sinneszellen überhaupt zu finden. Die Wissenschaftler veränderten das Erbgut von Mäusen so, dass zusammen mit dem Acetylcholin immer auch ein grün fluoreszierender Farbstoff gebildet wurde.
    "Das heißt, wenn man sich Gewebeschnitte von einem solchen Tierchen anschaut, dann leuchten einem die Zellen schon von alleine entgegen. Das war dann bei der gezielten Suche natürlich sehr hilfreich. Und wir haben dann auch diese leuchtenden Zellen benutzt um diese Zellen dann aus der Harnröhre heraus zu Isolieren, damit wir sie einzeln in der Hand hatten und ihre Funktion auch untersuchen konnten."
    Dabei zeigte sich, dass in den Zellen genau der gleiche Signalweg abläuft, der auch in den Geschmackssinneszellen der Zunge stattfindet. Anders als auf der Zunge, leiten die Harnröhrenzellen ihre Informationen aber nicht an das Gehirn weiter. Das von ihnen ausgeschüttete Acetylcholin aktiviert stattdessen periphere Nerven.
    "Ja, und was passiert dann? Das Naheliegendste ist, wenn ich etwas in der Harnröhre habe, das da nicht hin gehört ist: spülen. Und so kommt es dann tatsächlich zu einer Miktion – das ist der vornehme Ausdruck für Wasser lassen."
    Und zwar nicht nur bei der Maus, sondern auch beim Menschen. Dass Bakterien den Harndrang erhöhen, überrascht niemanden der schon einmal eine Blasenentzündung gehabt hat. Warum die Sinneszellen trotzdem so lange unbemerkt bleiben konnten, erklärt sich Wolfgang Kummer mit einer falschen Vorstellung darüber, wo der Reflex seinen Ursprung hat.
    "Man hat früher gezielt nach so einer Zelle im Harntrakt gesucht. Aber in den interessanten Organen, und interessant ist halt die Niere, die Harnblase und die Prostata, weil dort so viele Krebse entstehen, aber die Harnröhre gilt ja allgemeinhin als einfach langweilig und da hat keiner geguckt."
    Mit dem Ruf als Langweiler dürfte es für die Harnröhre jetzt vorbei sein. Schon lange suchen Mediziner nach der Ursache für ein Syndrom, das als "Überaktive Blase" bekannt ist. Die Erkrankung geht oft mit Inkontinenz einher. Sie betrifft in Deutschland etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Der durch die Bürstenzellen ausgelöste Entleerungsreflex, bietet nicht nur eine Erklärung, sondern auch einen Angriffspunkt zur Entwicklung gezielter Therapien.