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Geschmackssinn
"Schmecken ist Wissen"

Der Geschmackssinn ist wahrscheinlich derjenige der fünf menschlichen Sinne, der am engsten mit dem reinen Genuss verbunden wird. Gleichzeitig gilt das Schmecken als profan, da es keinen Erkenntniswert habe. Diesen und andere Widersprüche haben Neurologen, Kulturwissenschaftler, Philosophen und sogenannte Gastrosophen auf einem Symposium in Potsdam untersucht.

Von Cornelius Wüllenkemper | 19.12.2013
    "Wir schmecken immer das, was wir wissen. Das Geschmeckte ist ja immer in einer Geschichte verankert. Und das sollte man eben auch dahin gehend deuten, dass Schmecken Wissen ist."
    Harald Lemke, Philosoph am Zentrum für Gastrosophie der Universität Salzburg, fordert: "Habe Mut, dich deines eigenen Geschmacks zu bedienen." Lemke wendet das bekannte Zitat Immanuel Kants im Sinne der Aufklärung und Selbstbestimmung auf den Bereich der Kulinarik an. Gastrosophie heißt seine Disziplin - Denken und Erkennen mithilfe des Geschmackssinns. Vor 2500 Jahren, so Lemke, habe sich unsere Kultur zwischen Geist und Sinnlichkeit, zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Platon und Epikur für das rationalistische Menschenbild entschieden. Für den Erkenntnisgewinn spiele das Schmecken seitdem eine fälschlich vernachlässigte Rolle.
    "Der Gegenstand des Schmeckens beschränkt sich wahrlich nicht auf die vier oder fünf Grundwahrnehmungen süß, sauer, bitter, salzig, würzig. Er umfasst die grenzenlose Mannigfaltigkeit von Geschmäckern oder Geschmack. Schmecken bedeutet erkennen. Schmecken ist keine vernunftlose Sinnlichkeit, sondern eine durchaus vernünftige Sinnestätigkeit des Schmeckenden. In solchen Feststellungen kommen erste Grundsätze einer gastrosophischen Ästhetik des Geschmackssinns zur Sprache. Typische Grundfragen einer solchen "Essthetik" wären: Ist diese Avocado reif?"
    Geschmack, so meint der Gastrosoph Lemke, entsteht nicht auf der Zunge, sondern wird wie bei der Betrachtung eines Kunstwerks zusammengefügt aus der kognitiven Wahrnehmung, dem kulturellen Vorwissen und dem ästhetischen Empfinden. Immerhin spreche man von der Kochkunst, und insofern sei auch das "Hinschmecken", das Empfinden und die Einordnung des eigenen Geschmackserlebnisses eine künstlerische Tätigkeit. Nur, was weiß davon Otto-Normalverbraucher?
    Die Degradierung des Schmeckens gegenüber allen anderen Sinnen
    "Es hat 250 Jahre gedauert, bis wir uns an die Fast-Food-Mentalität gewöhnt haben. Also sollten wir uns auch 250 Jahre geben, um die Veränderung herbeizuführen und uns daran zu gewöhnen, dass wir auch anders und besser essen können. "
    Pessimistischer geht der Kulturwissenschaftler Professor Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg die Sache an. Auch er sieht eine Degradierung des Schmeckens gegenüber allen anderen Sinnen. In der Gesellschaft des post-agrarischen Zeitalters wissen die wenigsten von uns wirklich, was sie essen. Geschweige denn bauen sie ihre Nahrung selbst an, jagen sie oder bereiten sie zum Verzehr vor. Der Mensch habe das Schmecken schlicht verlernt.
    "Wer früher in der Stadt gelebt hat, der konnte die Qualität der Waren auf dem Markt oder beim Metzger beurteilen. Man fühlte, man schmeckte, oder man roch die Waren, bevor man sie aß. Und dann kamen Supermarkt und Convenience-Produkte ab den 1950er-Jahren. Die Folge: Wir nehmen das Essen nicht mehr sensorisch und haptisch war, sondern wir nehmen es optisch war. Dadurch verkümmert unser Sensorium, und wir werden anfällig für schnelles Essen und für das, was unsere Medien heute als 'schlecht' bezeichnen."
    "Eine Qualitätskrise, die wir aber gar nicht haben"
    Laut Hirschfelder befinden wir uns derzeit in einer Kompetenzkrise: Wir haben die Fähigkeit verloren, uns selbstbestimmt unseres Geschmacks zu bedienen. Die Hühnerbrust ist in aller Munde, obwohl sie doch das geschmackloseste Teil des Hühnchens ist. Hirschfelder zeigt zugleich die politisch-historische Dimension des Schmeckens auf: Spätestens durch die Industrialisierung und die damit einhergehende Verarmung der Arbeitermassen sei das lustvolle Essen einer vor allem effizienten Ernährung gewichen. Essen als Treibstoff für den arbeitenden Menschen, aber nicht als Sache des Schmeckens und Genießens nach Lust und Laune. Heute, im postindustriellen Zeitalter sei die geschmackliche Vielfalt und Freiheit gerade in Wohlstandsgesellschaften zwar ungleich größer. Genuss komme dabei dennoch nicht auf, meint Gunther Hirschfelder.
    "Wenn Menschen heute ans Essen denken, dann haben sie Hunger, Appetit und Lust auf der einen Seite, also Freiheitsfantasien. Aber noch stärker sind die Zwänge und die Ängste. Das ist die Angst vor Gift, vor Zusatzstoffen, vor Gentechnik, vor Fettleibigkeit. Der Reflex ist dann die Suche nach gesunden und natürlichen Lebensmitteln. Der moderne Mensch empfindet grundsätzlich eine Qualitätskrise, die wir aber gar nicht haben. Denn faktisch haben wir eine Vertrauenskrise. Und deshalb handelt der Mensch sprunghaft, vor allem auch im Bezug auf das Essen."
    Einerseits sei der Mensch in keinem Bereich so traditionell geprägt wie in seinen Essgewohnheiten. Andererseits werde auf der Suche nach noch schmackhafteren, noch schadstofffreieren und ethisch korrekt hergestellten Lebensmitteln ständig Neues ausprobiert. Zumindest wenn man es sich leisten kann: Während die Oberschicht über Tierhaltung und Lebensmittelindustrie, über Gentechnik und Antibiotika auf unserem Teller philosophiert, lassen sich die weniger Privilegierten das Billigsteak aus der Massentierhaltung schmecken, meint Gunther Hirschfelder.
    "Demgegenüber kann der Einkommensschwache nur eine Form des natürlichen Protests artikulieren: den des ungehemmten Nahrungsmittelkonsums. Auf die Logik des Tierschutzes steigt er nicht ein, sondern er konzipiert eine andere: Das Tier leidet, das ist mir gerade recht, ich leide ja auch. Wir können also als These festhalten: Massenkonsum als weitergereichte Form von Unterdrückung und Ausbeutung. "
    Um das Essen werden Riten und Mythen kreiert
    Fleischkonsum als Protest gegen die wirtschaftliche Ungerechtigkeit? Eine gewagte These, die noch zu beweisen wäre. Für Hirschfelder sind Essen und Schmecken höchst politische Themen, Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft: Wer Markenartikel wie Coca-Cola oder die Burger der großen Fast-Food-Ketten kauft und verzerrt, darf sich als vollwertiges Mitglied der Konsumgesellschaft fühlen. Gesundheit oder gar Geschmack spielen da keine Rolle mehr. Ganz allgemein laden wir das, was wir essen, mit symbolischem Gehalt auf, kreieren Riten und Mythen: bei der Hostie in der Kirche, bei Omas Sonntagsbraten oder bei der Baguette als Nationalsymbol Frankreichs. Das weltberühmte Wiener Schnitzel wurde bis Anfang des 16. Jahrhunderts sogar in echtem Blattgold paniert und repräsentierte somit zugleich Patriotismus und Reichtum, betont der Wiener Architekt und Food-Designer Martin Hablesreiter. Auch heute, so Hablesreiter, erzählen erfolgreiche Lebensmittel eine Geschichte:
    "Und dann gibt’s natürlich ganz neue Mythologien, die da eingebracht werden. Zum Beispiel ein österreichisches Dosengetränk, das einem verspricht, schneller, potenter, wacher, schöner, männlicher zu werden. Ein französischer Joghurt-Drink, der uns verspricht, uns gesund zu machen, der auch sechs Zuckerwürfel enthält."
    Das bewusste Schmecken sowie die Gestaltung des Essens und der Verzehrsituation, ob am Höhlenfeuer oder im Gourmet-Restaurant, gehören laut Martin Hablesreiter zu den ältesten Zivilisationsmerkmalen überhaupt. Sapere gaude - mit Lust die Welt erkennen, sie mit allen Sinnen erfahren, dieses Motto des Potsdamer Symposiums lädt dazu ein, sich selbstbestimmt seines eigenen Geschmacks zu bedienen.