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Gesellschaft
Chinas dramatisch zunehmendes Wohlstandsgefälle

Der Reichtum, der in den Straßen von Schanghai und Peking zur Schau getragen wird, ist enorm. Auf der anderen Seite lebt nach den Maßstäben von Weltbank und UN die Bevölkerungsmehrheit dauerhaft in Armut. Eine Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg haben sie kaum. Das birgt enorme soziale Sprengkraft.

Von Sebastian Hesse | 25.05.2016
    Ein Mann bettelt in China.
    Die Preise in China explodieren - für viele werden Lebensmittel immer unerschwinglicher. (AFP / Frederic Brown)
    Oft sind es nur wenige Schritte, dann hat man in Schanghai die Welt der glamourösen Mega-Malls hinter sich gelassen - und steht in einem kleinen, traditionellen Ecklädchen.
    "Die Preise sind zum Verrücktwerden", schimpft diese Rentnerin, "Fleisch, Gemüse - alles wird langsam unbezahlbar!"
    "Wir Alten schlagen uns irgendwie durch", meint sie, "aber wenn man Kinder satt kriegen muss."
    Seit Chinas Reiche immer reicher werden, explodieren auch die Preise. In dem kommunistischen Land gibt es geschätzte 600 Dollar-Milliardäre - und über drei Millionen Millionäre!
    Das sozialwissenschaftliche Institut der Uni Peking hat unlängst berechnet, dass ein Prozent der Bevölkerung inzwischen ein Drittel des chinesischen Gesamtvermögens besitzt. Während sich das einkommenschwächste Viertel ein mageres Prozent des immensen Wohlstands teilen muss.
    Seit der Öffnung des kommunistischen Riesenlandes, Ende der 70er-Jahre, hat die Ungleichheit in einem Maße zugenommen, dass der soziale Frieden allmählich auf dem Spiel steht, rechnet Hu Xingdou vor. Professor Hu unterrichtet Wirtschaftswissenschaften an der Beijing University of Science and Technology.
    "Das Wohlstandsgefälle ist enorm", so der Ökonom, "der Gini-Koeffizient, ein Index für die Kluft zwischen Arm und Reich, lag schon vor zehn Jahren bei über 0,4. Jetzt dürfte er zwischen 0,5 und 0,7 liegen!" Die 0 steht beim Gini-Koeffizienten für totale Gleichheit, die 1 für vollständige Ungleichheit.
    "Ab 0,4 ist beim Gini die rote Linie überschritten, dann steigt das Risiko für Gewalt und Proteste in einer Gesellschaft", so Professor Hu. Weltweit ist der Gini nur in Südafrika und Brasilien höher als in China. Der Ökonom Hu glaubt, dass der Trend sich so schnell nicht wird brechen lassen:
    "Die meisten Menschen in China haben keine Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg", urteilt Hu, "nach den Maßstäben von Weltbank und UN lebt die Bevölkerungsmehrheit dauerhaft in Armut!" Und das kann man sich kaum vorstellen, wenn man den Reichtum erlebt, der in den Straßen von Schanghai und Beijing zur Schau getragen wird. Und nicht nur das: Der eigentliche Wohlstand wird im Verborgenen generiert:
    "Die reichsten Leute in China sitzen in der Regierung", sagt der Volkswirt Hu, "die missbrauchen ihre Stellung, um anderen das Geld wegzunehmen. Das sind die unsichtbaren Reichen!"
    Steuerreform längst überfällig
    Doch auch die sorgen sich unterdessen um die sozialen Folgen der immer weiter auseinanderklaffenden Schere. Bereits 2013 versuchte Peking gegenzusteuern: Mit einem höheren Mindestlohn für Arme und einer Luxussteuer für Reiche. Das wird nicht reichen, sagt Professor Hu:
    "Um den Wohlstand gerechter zu verteilen, müssten zunächst viele der hochsubventionierten Staatsbetriebe dichtgemacht werden. Und wir brauchen eine Steuerreform: Der chinesische Steuerzahler berappt mindestens so viel, wie in den skandinavischen Ländern. Aber dem steht kein vergleichbares Sozialsystem gegenüber!" Das sickert allmählich auch bei der Pekinger Führung ein: Deren aktueller Fünf-Jahres-Plan zielt auf Bildung für alle und ein bezahlbares Gesundheitssystem. Doch angesichts von Korruption und Vetternwirtschaft wird das nicht reichen, betont Professor Hu:
    "China braucht politischen Wandel: Nur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit können die Unzulänglichkeiten des Kapitalismus korrigieren!" Der Volkswirt weiß um die bittere Ironie des China von heute: Die marktwirtschaftlichen Reformen haben die Volksrepublik zu einem der ungleichsten Staaten der Welt gemacht. Mangels demokratischer Kultur lehnt dagegen bislang niemand auf.