Donnerstag, 28. März 2024

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Gesellschaft in der Coronakrise
"Aggressionen und Spaltungen herunterfahren"

Die Coronakrise sei als Ausnahmesituation für viele Menschen etwas sehr Beängstigendes, sagte der Psychiater Manfred Lütz im Dlf. Aggression und Passivität seien in so einer Stresssituation jedoch kontraproduktiv. Statt dessen sollten wir überlegen, was wir tun können, um soziale Kontakte zu stärken.

Manfred Lütz im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 03.04.2020
"Alles wird gut" - Regenbogen Kindermalerei klebt an einer Haustür / Coronavirus
Aktiv mit der Corona-Krise umgehen - das rät der Psychiater, Psychotherapeut und Theologe Manfred Lütz (imago / Martin Müller)
Die Corona-Pandemie und ihre Folgen prägen seit Wochen auch in Deutschland das Leben. Viele Menschen haben Angst. Davor sich zu infizieren oder dass Familienangehörigen erkranken oder sogar sterben.
Manfred Lütz, Psychiater, Psychotherapeut, Theologe und ehemaliger Leiter einer Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie in Köln, plädiert dafür, aktiv zu werden und Möglichkeiten der sozialen Kontaktaufnahme zu suchen und zu nutzen. Es werde zwar viele Menschen geben, die die aktuelle Situation belaste, die traurig und einsam seien. Eine Psychotherapie benötigten sie deshalb nicht alle.
Eine Frau trägt einen Mundschutz und blickt in die Kamera 
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Dirk-Oliver Heckmann: Herr Lütz, was ist das für eine Zeit, in der wir leben? Mit welchen Worten würden Sie die beschreiben?
Manfred Lütz: Das ist etwas Einmaliges in der Menschheitsgeschichte. Das hat es so noch nie gegeben. Wenn man sich überlegt: Selbst in Zeiten des Zweiten Weltkrieges war es ja so, dass man noch vergleichsweise demgegenüber normal lebte. Man ging normal aus, man hatte Gottesdienste, man konnte ins Restaurant gehen. Man hörte immer mal wieder von Todesfällen an der Front. Ab und zu gab es Bombenangriffe, man musste in den Luftschutzbunker. Aber es war nicht so, dass tagtäglich das Leben völlig verändert war. Das ist aber jetzt der Fall.
"Für viele Menschen etwas sehr Beängstigendes"
Heckmann: Sie haben im Vorgespräch den Begriff "apokalyptisch" benutzt.
Lütz: Ja, tatsächlich! Wenn man sich vorstellt, man hätte vor fünf Monaten gehört, ganz Paris ist abgesperrt, keine Restaurants mehr, keine Bars mehr, Flughafen zu, Grenzen zu und so weiter, hätte man gesagt, das ist ein bisschen übertriebenes Science Fiction, ein bisschen kitschig. Jetzt ist das aber überall so und es scheint, uns fast normal zu sein, aber das ist natürlich nicht normal. Das ist für viele Menschen etwas sehr Beängstigendes und es ist eine völlig unnormale Situation.
Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz bei der Aufzeichnung der ZDF-Talkshow Markus Lanz im Fernsehmacher Studio auf dem Phoenixhof / Hamburg
Manfred Lütz, Psychiater, Psychotherapeut und Theologe (imago / Future Image)
Heckmann: Sie haben auch gesagt, jeder Mitmensch muss als potenzieller Feind, als potenzielle Gefahr betrachtet werden. Was bewirkt so was in einer Gesellschaft? Was kann so was bewirken?
Lütz: Na ja, er muss nicht so gesehen werden, und ich versuche, Menschen auch nicht so zu sehen. Sondern im Gegensatz zu Kriegszeiten ist es so, dass tatsächlich jeder Mitmensch der potenzielle Infektor ist, dass man von dem einen Virus bekommen kann und dass man dauernd jetzt in Abstand von ihm steht. Aber Menschen gewöhnen sich an viele Situationen. Das muss man wissen. Es ist durchaus so, dass schwerste Traumata von Menschen ganz gut bewältigt werden können. Das sagen Trauma-Experten immer wieder. Zu denken, dass so eine Krise jetzt alle Menschen zutiefst psychisch verstört, das ist nicht der Fall.
"Psychische Krankheiten nehmen in Krisen nicht zu"
Heckmann: Wir wissen aber auch, dass in solchen Situationen - das weiß man auch aus China, aus den Hotspots, wo das Virus wütete - die häusliche Gewalt, auch in Italien beispielsweise sexueller Missbrauch von Frauen oder von Kindern, dass das ansteigt, sehr stark sogar.
Lütz: Ja. Ich meine, das ist ja etwas, was nicht eine psychische Störung ist, sondern das ist widerlich zum Teil, das ist böse, das ist etwas, was Menschen auch abstellen können. Das ist jetzt nicht behandelbar in diesem Sinne. Ich habe in letzter Zeit häufiger über psychische Krankheiten geredet. Die schweren psychischen Krankheiten nehmen in schweren Krisensituationen nicht zu. Wir müssen versuchen, diese Dinge etwas herunterzufahren.
Wenn Sie die Aggressionen zum Beispiel ansprechen: Ich glaube, für uns alle ist jetzt wichtig, dass wir weniger aggressiv mit unseren Mitmenschen umgehen. Das heißt, dass wir uns klarmachen, wenn wir jetzt auf irgendjemanden, eine Kassiererin oder irgendwen aggressiv reagieren, weil wir auch ein bisschen unter Stress sind, dann reagiert der wieder auf andere Leute, auf seine Familienangehörige aggressiv. Das heißt, wir müssten alle unsere Aggressionen versuchen wenigstens, ein bisschen runterzufahren.
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Heckmann: Wir sind eine Gesellschaft in einem Ausnahmezustand. Das kann man, denke ich, festhalten, ohne auch zu wissen, wann das wirklich endet. Schweißt das eher zusammen, oder kann das auch spalten, weil viele Menschen halten ja zum Beispiel anderen Verantwortungslosigkeit vor, weil das Bedrohungsgefühl ein anderes ist und deshalb auch das Verhalten?
Lütz: Mein Eindruck im Moment ist - das kann ich nur so aus meinem Eindruck mit anderen Menschen sagen -, dass es eigentlich eher zusammenschweißt. Ich habe den Eindruck, dass tatsächlich die Aufforderung, dass man soziale Kontakte verstärkt, nicht die körperlichen Kontakte, aber die telefonischen und anderen Kontakte, das merkt man im Grunde. Die Menschen sind ja auch erstaunlich bereit, diese Einschränkungen auf sich zu nehmen. Es gibt eigentlich keine Spaltung und noch nicht mal eine politische Spaltung in der Situation. Man versucht, dem gemeinsamen Feind zu begegnen.
Auch die Christen waren ja am Anfang ein bisschen fast eingeschüchtert. Man hat die Gottesdienste erst mal gestrichen. Aber zum Beispiel der Kardinal Woelki hier in Köln hat gesagt, das bedeutet aber nicht, dass man die Caritas streicht, dass man die Nächstenliebe streicht. Und der hat zum Beispiel aufgefordert, wo die Tafeln, die ja wichtig sind für Menschen in Not, nicht mehr aufmachen können, dass da Ministranten, Firmlinge und so weiter, junge Leute behilflich sind. Es gibt viel Fantasie, wie man die soziale Komponente in unserer Gesellschaft verstärkt im Moment, und das, finde ich, müssen wir fördern und darüber muss man auch berichten.
Coronavirus
Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Dass das Ganze beängstigend, beunruhigend ist, das ist klar, aber es stört mich manchmal ein bisschen, es werden dauernd selbsternannte Experten befragt, was das jetzt mit Menschen macht, und die sagen dann, ja, wenn Menschen auf engstem Raum sehr lange zusammen sind, das ist schon schwierig. Auf so eine Idee wäre ich auch gekommen. Dafür brauche ich aber kein Experte zu sein. Ich muss als Experte mal gucken, wie kann man in diesen Situationen behilflich sein, dass es eben nicht explodiert.
"Psychiatrische Versorgung funktioniert sehr gut momentan"
Heckmann: Was würden Sie empfehlen?
Lütz: Zum Beispiel die Benedikt-Regel, um das mal zu sagen. Die Benediktiner leben seit 1.500 Jahren in Quarantäne. Oder, wie ich eben schon sagte, dass man versucht, den Tag ein bisschen zu strukturieren und Konflikte, die sich in einer Familie zum Beispiel abspielen, runterzufahren und mal zu sehen, dass man wertschätzender miteinander umgeht. Und mein Eindruck ist, dass das vielfach auch passiert. Das was man sich spontan denkt, das muss ja jetzt unbedingt zu Aggressionen führen, das sollte man nicht im Sinne einer "self-fulfilling prophecy" bei sich selbst zelebrieren, sondern, weil man die Gefahr davon sieht, eher Aggressionen und Spaltungen runterfahren.
Heckmann: Herr Lütz, trotzdem muss man festhalten, dass vulnerable Gruppen, alte Menschen, Kranke, Behinderte auch in Heimen, Wohnungslose, auch psychisch Kranke übrigens von dieser Krise wahrscheinlich besonders hart getroffen werden. Mit welchen Folgen?
Lütz: Zunächst einmal, wie ich eben schon gesagt habe: Die schweren psychischen Krankheiten nehmen in schweren Krisen in der Regel nicht zu. Das ist im Moment auch so. Ich habe da gestern mal eine Umfrage gemacht.
Heckmann: Pardon, wenn ich einhake. Aber die, die sowieso schon eine psychische Erkrankung haben und jetzt in dieser Situation sich befinden, in Therapie sich eigentlich befinden, wo möglicherweise die Therapie nicht stattfinden kann wegen des Kontaktverbots, was heißt das für diese Leute?
Lütz: Erstens: Die Therapien - das ist eine wichtige Botschaft - finden statt. Wer eine schwere psychische Krankheit in Deutschland hat, der findet in den Psychiatrien Deutschlands - die haben Aufnahmepflicht und die Betten sind auch frei und diese Krankenhäuser kann man jetzt auch nicht belegen mit Beatmungspatienten, weil diese Möglichkeiten in Psychiatrien gar nicht bestehen. Das heißt, die psychiatrische Versorgung funktioniert sehr gut im Moment, nach wie vor. Dass das für uns alle, für psychisch Kranke und für nicht psychisch Kranke eine Belastung ist, ist klar! Aber ich sage es jetzt mal so: Es gibt psychisch Kranke, die haben schon mehrere schwere Krisen hinter sich, die sind stationär behandelt worden, die kennen Krisensituationen besser als Sie und ich.
"Aus der passiven Haltung rauskommen"
Heckmann: Und was schließen Sie daraus?
Lütz: Dass sie, wenn jetzt so eine Situation eintritt, wo sie stationär sind, in Quarantäne, so eine Situation möglicherweise eher bewältigt bekommen als Leute, die das überhaupt nicht kennen, für die das völlig neu ist und wo das aus heiterem Himmel jetzt gekommen ist. Man sollte jetzt nicht so denken, laienhaft, dass jemand, der mal psychisch krank war, jetzt ganz sicherlich wieder ausrastet oder so. Sondern psychisch Kranke, die stabil sind, können auch mit dieser Situation ganz gut klarkommen. Es wird viele andere Menschen geben, die gar nicht psychisch gestört sind, die belastet sind, die auch depressiv sind in dieser Situation, die traurig sind, die einsam sind.
Und da ist es wichtig, dass wir jetzt nicht sagen, die müssen jetzt alle in Psychotherapie. Sondern dass wir selber – das können wir ja selber machen – aus dieser passiven Haltung mal rauskommen, dass wir immer nur die Zahlen sehen, wie wir das alle machen, woran wir auch nicht viel ändern können. Sondern dass wir überlegen: Was kann ich in dieser Situation tun? Welche einsamen Menschen kenne ich? Wen rufe ich mal an? Wo sehe ich zu, dass ich den sozialen Kontakt wieder herstelle oder vertiefe? Da kann man sehr viel machen und da passiert auch schon viel. Ich erlebe das auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.