Dienstag, 16. April 2024

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Gesellschaft in der Coronakrise
Was Isolierung und Distanzierung mit uns machen

Das gesellschaftliche Leben in Deutschland kommt durch die Coronakrise zum Erliegen. Kontaktverbote führen zu Isolierung und Distanzierung. Wie gehen Menschen damit um? Welche Probleme entstehen?

Andreas Beckmann im Gespräch mit Andreas Stopp | 27.03.2020
Draufsicht auf einen jungen Mann, der entspannt auf einer Couch sitzt und vor sich einen Tisch stehen hat, auf dem sich eine Schale Chips befindet.
Ein junger Mann schaut Fernsehen (imago/Spectral Panthermedia)
Konkrete Antworten auf die Frage, wie sich Isolation und Distanzierung in der Coronakrise auf die Gesellschaft auswirken, gebe es zwar noch nicht, aber man könne Analogien zu vergangenen Krisen ziehen, berichtet Dlf-Journalist Andreas Beckmann.
Holger Lengfeld, Soziologe an der Universität Leipzig sagt zum Beispiel, dass sich die Menschen in einer absolut paradoxen Situation befinden: Sie sollen zusammenstehen, ohne zusammenzustehen, also ohne sich nahezukommen. Das sei gegen jede Intuition.
Persönliche Zuwendung kann man schwer ersetzen
Normalerweise organisiere man Solidarität durch gemeinsame Treffen - im Betriebsrat oder in Nachbarschaftsinitiativen beispielsweise. "Manches kann man online ersetzen, aber nicht die persönliche Zuwendung, die uns eigentlich ja Sicherheit gibt", sagt Beckmann. Damit die Menschen auch weiterhin ein Gefühl der Sicherheit hätten, "muss der Staat noch funktionieren". Die Behörden und Institutionen müssten da sein, um zum Beispiel dafür zu Sorgen, dass wirtschaftliche Hilfen fließen. "Wenn die Menschen sich nicht nur um ihre Gesundheit , sondern in großer Zahl auch um ihre Existenz sorgen müssen, dann besteht die Gefahr, dass die große Zustimmung, die ja jetzt noch da ist zu all den Beschränkungen, dass die schnell schwindet und dann wäre das gesamte Krisenmanagement gefährdet."
Coronavirus
Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Herausforderung für Familien
Die Ausnahmesituation ist auch für Familien eine besondere Herausforderung. Bisher verkrafteten diese das noch ganz gut, meint Beckmann. Aber: Wenn es über die Osterferien hinausgeht, dann wird es gerade für ärmere Familien schwerer. Das zeigen vergleichbare Studien aus den USA, wo die Sommerferien von zum Teil drei Monate andauern. Da lasse sich beobachten, dass Kinder aus gut gestellten Familien in dieser Zeit etwas dazulernen, weil sie ein anregendes Umfeld hätten, sagt Beckmann. Ärmere Kinder hingegen seien da im Nachteil.
Zunahme von häuslicher Gewalt möglich
Ungleichheiten würden sich besonders im Verhältnis zwischen den Geschlechtern verschärfen. Soziologin Martina Franzen von der Uni Essen fürchtet, dass die häusliche Gewalt zunehmen wird. Frauen und Kinder sind anders als Männer statistisch gesehen im eigenen Haushalt viel mehr von Gewalt oder Kriminalität bedroht als auf der Straße. Hilfetelefone müssten deshalb so lange wie möglich weiterbetrieben werden, sagt die Wissenschaftlerin. Auch Frauenhäuser sollten offen bleiben. Zudem sei die nachbarschaftliche Solidarität gefragt.
Eine Frau trägt einen Mundschutz und blickt in die Kamera 
Coronavirus - Strategien gegen Angst und Einsamkeit
Homeoffice, Ausgangsbeschränkungen, weniger Kontakt etwa zu den Großeltern: Das Coronavirus fordert in Deutschland auch eine Abkehr von bisher ganz selbstverständlichen Dingen des gemeinsamen Lebens.
Sorge um Menschen in Gefängnissen
Problematisch sei die Situation auch für Strafgefangene, sagt der Professor für Sozialarbeit an der Uni Merseburg, Jochen Borchert. Kaum noch jemand habe die Möglichkeit, in die Anstalten reinzukommen. Das führt dort zu Einsamkeit, Depression und Wut. Langfristig könne das die Rückfälligkeit der Personengruppe beeinflussen.
Ganz schwierig sei zudem die Situation in Flüchtlingsunterkünften - "vor allem wenn sich da jemand infiziert und alle unter Quarantäne gestellt werden. Dann sind die Menschen auch wie gefangen", so Beckmann.
Über uns und unsere Biografie nachdenken
Um gesund durch die Krisenzeit zu kommen, müsse man sich zu Hause wohlfühlen, sagt Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Uni Halle. "Er sagt, wir sollen jetzt mehr mit Menschen telefonieren oder uns über das Internet austauschen. Wir können auch über uns und unsere Biografie nachdenken, uns selbst und unsere Umwelt bewusster wahrnehmen, als wir das sonst im Alltag tun", zitiert Beckmann den Wissenschaftler.