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Gesellschaft
Kritik am Ende - das Ende der Kritik

Schaut man sich in der westlichen Wertegemeinschaft um, so drängt sich ein Verdacht auf: Die einst als hohe Kunst gefeierte Gesellschafts- und Kulturkritik scheint passé, begraben unter einem Schutthaufen aus Likes und Dislikes. Können sich allen kulturpessimistischen Unkenrufen zum Trotz neue Kulturen der Kritik entwickeln?

Von Werner Köhne | 22.06.2014
    Mann vor der Gefällt-mir-Geste von Facebook
    Besteht die philosophische Kritik heute aus den Likes und Dislikes, Blogs und Verbrauchermeinungen im Netz? (dpa / picture alliance / Ole Spata)
    Vor 30 Jahren: Auf dem Gelände der Volkshochschule Köln gab es das sogenannte Forum - einen Flachbau mit zwei großen Sälen. Darin fanden Vorträge mit anschließender Diskussion statt, an der auch das Publikum rege teilnahm.
    Seit 1969 bot das Forum der Volkshochschule in direkter Nachbarschaft zum 1965 eröffneten VHS-Studienhaus ein anspruchsvolles Veranstaltungsangebot. Hier war der Ort für Diskurse über zeitaktuelle Themen mit Prominenten aus Politik, Wissenschaft und Kultur. Der Soziologe Oskar Negt trat auf, der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, und Peter Sloterdijk zelebrierte seine Philosophie der Gelassenheit. In dem VHS Bau herrschte eine Art geistiger Schwebezustand. Man fragte sich: Wer erlangt die Deutungshoheit in den Diskursen?
    Niklas Luhmann bestach durch kühle Analysen, die nahezu ohne Polemik auskamen und - man staune - besonderen Eindruck auf Ex-Kommunisten ausübten; Peter Sloterdijk kleidete seinen Vortrag in funkelnde Aperçus; dagegen pflegte Oskar Negt damals noch einen knorrigen Argumentationsstil, aus dem das Wort "gesamtgesellschaftlich" hervorstach wie ein marschierendes Stakkato. Das waren weniger persönliche Marotten der Vortragenden als mehr ein gewisses Know-how, durch das die Thesen und Argumente der Vortragenden erst Fasson gewannen.
    Keine klassischen Diskurse
    Dieses "Gewusst wie" unterschied die Redner deutlich voneinander; und die Differenz betraf mehr als bloße Rhetorik. Die Vorträge bewegten sich nicht auf den Gleisen klassischer Diskurse. Das "Kritik üben" in Gestalt einer Kultur- und Gesellschaftskritik, wie es noch in den Jahren zuvor Usus war, schien zumindest bei Luhmann und Sloterdijk an Bedeutung eingebüßt zu haben, ja in eine spürbare Krise geraten zu sein.
    2003 wurde das Kölner VHS-Forum abgerissen und wich dem Neubau des Rautenstrauch-Joest-Museums für Völkerkunde - der Beginn eines bald einsetzenden Baubooms von Museen. Man könnte in all dem einen Paradigmenwechsel sehen: Kontemplation war angesagt statt erhitzter Diskussionen, in denen es zuvor um nicht weniger als "Das Ganze" gegangen war - das Ganze, das im Ruf stand, das "Unwahre" zu sein. Vor diesem Hintergrund ist interessant, dass der Begriff des "Forum" nicht vollständig aus dem Sprachgebrauch verschwand. "Forum" überlebte und fand inzwischen sogar eine neue Heimat: das Internet.
    Die Währung Aufmerksamkeit
    Im Strom der Meinungen gilt allein die Währung Aufmerksamkeit und eine Positionierung just in time, also ein Marktverhalten. Und dieser Markt ist auch mit von der Partie, wenn Themen gestreut werden, worin das gute alte Medium Kritik zusammenschnurrt auf Verbrauchermeinungen. Verbrauchermeinungen sind denn auch, glaubt man der Schriftstellerin Sybille Berg, "das einzige Korrektiv unserer westlichen Kultur".
    Schaut man sich in der westlichen Wertegemeinschaft um, so drängt sich ein Verdacht auf: Die einst als hohe Kunst gefeierte Gesellschafts- und Kulturkritik scheint passé, begraben unter einem Schutthaufen aus Likes und Dislikes.
    Andererseits: Wer will denn noch endgültige Sätze hören wie diese:
    "Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Klassenkämpfe."
    "Es gibt kein wahres Leben im falschen."
    "Macht kaputt, was euch kaputt macht."
    Zwischen dem dauer-lockeren Meinungsäußern hier und den Überresten fundamentaler Kulturkritik da gibt es Kritikformen, die heute seriös und zugleich weniger belastet auftreten: die fachlich ausgewiesene Literaturkritik, die Kunstkritik, die Filmkritik, die Fernseh- und Medienkritik. Aber diese Formen der Kritik wirken oft formatiert und in modische Zyklen eingepasst.
    Können sich denn allen kulturpessimistischen Unkenrufen zum Trotz neue Kulturen der Kritik entwickeln? Was heißt es denn heute, in einem umfassenderen Sinne, etwa im Sinne Kants, kritisch zu sein?
    Immanuel Kant hatte das Medium der Kritik zum Motor der gesamten Aufklärung bestimmt. Der Mensch sollte mittels Kritik aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit werden. Programmatisch zuständig erklärt und als geschichtliches Großprojekt angelegt wurde dafür: die Vernunft.
    Erkenntnis durch Vielfalt
    Heute ist es geradezu ein Muss, dass man sich in der Kritik aller vorgegebenen Muster entledigt und gerade dadurch eine Vielfalt zu gewinnen sucht, die Erkenntnis fördert. Nach Meinung des Medientheoretikers Ralf Konersmann verfügen wir inzwischen über zahlreiche Formen von Kulturkritik, die sich absetzen von alten Beständen:
    "In die Krise geraten ist eine Kritik, die sich als Inhaberin des überlegenen Standpunkts wähnte - eines Standpunkts, der sich klassischerweise auf Mastersubjekte wie die Wahrheit, die Vernunft oder die Geschichte berief. Mit dieser Art Kritik und dem Gestus der starken Behauptung, der Einschüchterung und der Unterwerfung ist es nun vorbei. Kulturkritik heute ist anders. Sie verändert die Ansprüche, die Grundpositionen und ebenso das Erscheinungsbild. Statt exklusiv auf das gesprochene Wort zu setzen, erweitert sie das Ausdrucksrepertoire um gestische, ironische und rituelle Formen. Die Philosophie und die Presse dienen ihr ebenso als Forum wie der Roman und das Kino, die Mode ebenso wie Punk, Grunge oder Rap."
    Auffällig ist, dass mit dem Abgesang auf die klassische Kritik auch der Intellektuelle als deren einstiger Träger zur Zurückhaltung aufgefordert wird. Gleichzeitig gewinnt der geläuterte Kulturschaffende an Freiheit und Variabilität. Der neue Imperativ lautet denn auch: frei agieren, weder links noch rechts sein.
    Die "frei schwebende Intelligenz
    Der Soziologe Karl Mannheim hat Anfang des 20. Jahrhunderts den Intellektuellen als "frei schwebende Intelligenz" definiert. Trifft eine solche Definition noch zu, wo Kritiker wie Künstler unter einem gewaltigen Druck stehen? Auf dem freien Markt herrscht eine verschärfte Konkurrenzsituation der Intellektuellen untereinander. Es gilt, den geschichtlich-politischen Entwicklungen gerecht zu werden, die massiv auf eine ohnehin schon medial getrimmte Kulturgesellschaft abfärben. Es ist genau dieses Spektrum aus äußeren geschichtlich-politischen Einflüssen und Entwicklungen innerhalb der Kulturgesellschaft, in dem sich die Genese der Kritik nachweisbar vollzieht. Das beweisen gerade die letzten 30 bis 35 Jahre.
    Man kann, was diesen Zeitraum betrifft, von einem Werte- oder Funktionswandel der Kritik sprechen, der oftmals offen, manchmal aber auch verdeckt vonstattenging und sich zuweilen personifizieren lässt. Etwa bei Peter Sloterdijk. Im Mai 2014 trat auf der Kölner Veranstaltung Phil Cologne der Philosoph Sloterdijk im Gespräch mit Wolfram Eilenberger, dem Herausgeber des "Philosophiemagazins", auf. Es ging um Sloterdijks neues Werk mit dem Titel "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit". Der Titel weckte - nicht zu Unrecht - die Erwartung auf eine fundamental kulturkritische Schrift. Der Inhalt des Buches soll nicht weiter beschrieben werden. Interessant war in diesem Zusammenhang die Präsentation auf der Bühne: Moderator Eilenberger wartete in seiner Befragung mit Thesen auf, die er in gründlicher Lektüre aus dem Buch herausgefiltert hatte. Sie fügten sich zu einer recht harschen Kritik an der Moderne, etwa, dass der Fortbestand der Zivilisation bedroht sei, wenn die Traditionsfäden zwischen den Generationen reißen.
    Peter Sloterdijk
    Der Philosoph Peter Sloterdijk, Autor von "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit". (dpa / Andreas Gebert)
    Assoziationsverwegene Antworten
    Sloterdijk sollte diese Thesen - so hoffte wohl der Moderator - bestätigen oder näher erläutern. Aber genau das tat der Philosoph aus Karlsruhe nicht. Auf alle Fragen gab er ausweichend Antwort, indem er die Thesen, die ihm zugeschrieben wurden, in kleine Geschichten auflöste - sogenannte Narrative, oftmals anekdotisch, manchmal auch als "Histörchen" verpackt. Wenn Sloterdijk assoziationsverwegen seine Antworten schließlich enden ließ, wusste weder das Publikum noch der sichtlich beeindruckte Moderator, in welchem Zusammenhang diese Erzählungen zu den aus seinem Buch gefilterten kritischen Thesen zu sehen wären. Und das wirklich Erstaunliche war: Man war's dennoch irgendwie zufrieden und fand die Geschichten und Zitate reizvoll genug, um an keiner Stelle des Gesprächs auf weitere Klärung zu bestehen.
    Überhaupt erinnerte die Veranstaltung an eine Andacht, in der das säbelrasselnde Handwerk der Kritik dem feinen Florett aus subtilen Andeutungen weichen musste, obwohl doch die Anmutung einer Fundamentalkritik latent im Raum stand.
    Was den Fall paradigmatisch erscheinen lässt, ist die Art, wie heute offene Kritik vermieden wird, ohne dass auf Strategien der Kaltstellung des intellektuellen Gegners verzichtet wird. Das hat vor Jahren die kurz aufflackernde Auseinandersetzung Sloterdijks mit Jürgen Habermas bewiesen:
    Man argumentiert nicht mehr aus einer angreifbaren Position, sondern bricht Thesen und Überzeugungen auf Erzähltes, auf manchmal Abgelegenes, auf Narrative herunter, aus denen sich die Zuhörer ihren Reim machen sollen. In Vorgängen und Wirkzusammenhängen wie diesen spiegelt sich eine Revision innerhalb der jüngsten Geschichte der Kritik, die vor etwa dreißig Jahren einsetzte. Peter Sloterdijk war daran selbst beteiligt.
    1983 veröffentlichte er sein heute berühmtes Erstlingswerk Kritik der zynischen Vernunft. In diesem Buch ging es um eine Abrechnung mit jenen Standards und Werten, die die 1970er Jahre noch intellektuell bestimmt hatten. In der Bundesrepublik dominierte die Kritische Theorie die Diskurse. Sie verstand sich als Kulturkritik, mehr noch als Gesellschaftskritik, und vor allem als Kritik an der Aufklärung. In diese geistige Landschaft schleuderte Sloterdijk damals folgende Sätze:
    "Die europäische Neurose fasst Glück als ein Ziel ins Auge und kritische Vernunftanstrengung als einen Weg dahin. Man muss die kritische Sucht des Besserns auflösen, dem Guten zuliebe, von dem man sich auf langen Märschen so leicht entfernt. Ironischerweise ist das Ziel der kritischsten Anstrengung das unbefangenste Sichgehenlassen."
    Das Zitat richtet sich gegen eine ganze Tradition der Kritik. Sloterdijk schrieb das Buch im Zustand einer existenziellen Unsicherheit, die damals viele erfasst hatte, die an kollektive Utopien geglaubt hatten und nun nach Wegen suchten, ihre Biografien mit den sich ankündigenden Zeitläufen in Einklang zu bringen. Später zwang man diese Suchbewegungen in Formeln wie "neuer Subjektivismus" oder auch "Zeitgeist".
    Neurotische Kritik
    Sloterdijks Polemik richtete sich vorrangig gegen eine Kritik, wie sie die Aufklärung entfesselt hatte. Deren Ziel lautete, den (nicht befriedigenden) Zustand der Welt besser machen zu wollen. Genau diese Zielsetzung wird im Rahmen eines psychiatrischen Befunds als neurotisch betrachtet - eine Neurose, die selbst die damals gerade zurückliegende Studentenbewegung betraf. Sloterdijk setzte dieser Krankengeschichte als Korrektiv das antike Ideal des gelingenden Lebens entgegen. Darin - und das ist entscheidend - herrschen nicht länger die Instrumente der Kritik, die Idee der Verbesserung, sondern Gelassenheit, beziehungsweise ein "die Dinge sein lassen".
    Sloterdijk reihte sich mit dieser Kritik an der Kritik in eine schon länger währende Tradition ein: Nicht so sehr die Kultur der Moderne, sondern der Fortschrittsglaube der Aufklärung wird hier attackiert.
    1979, vier Jahre vor Sloterdijks Kritik war ein anderes Buch erschienen, das den gefühlten Wandel ebenfalls ansprach. Die "Stichworte zur geistigen Situation der Zeit" bezogen sich auf eine Schrift von Karl Jaspers, in der dieser die Situation im Deutschland Anfang der 1930er Jahre beschrieben hatte. Diese Patenschaft deutete die Gewichtigkeit des publizistischen Unternehmens an. Jetzt versammelte sich unter der Anführung von Jürgen Habermas eine "nachdenklich gewordene Linke" und leckte ihre Wunden.
    "In diesem Band, so ist mein Eindruck, präsentiert sich eine nachdenkliche Linke, gleich weit entfernt von Gewißheit wie von Unsicherheit. In diesen Jahrgängen ist das Bewußtsein, daß unsere Republik auch im dreißigsten Jahr ihres Bestehens noch auf tönernen Füßen steht und daß sie gegen die, die sich heute nicht mehr genieren, ein Zuviel an Demokratie offen zu beklagen, verteidigt werden muß, in beinahe konventioneller Klarheit ausgebildet."
    (Jürgen Habermas)
    Möglichkeiten und Chancen für eine Kulturgesellschaft
    Aus der Sammlung seien hier zwei Texte hervorgehoben. Der Historiker Hans Mommsen beklagte in seiner Auseinandersetzung eine Art Verselbstständigung der subkulturellen Szene, welche die Kulturgesellschaft desintegriere, als Ganzes auflöse.
    Der Philosoph Herrmann Lübbe hingegen erwog in seinem Beitrag schon damals die Möglichkeiten und Chancen für eine Kulturgesellschaft jenseits ideologischer Fixierungen. Sein Programm richtete sich dezidiert an Intellektuelle, denen er riet, bei der Kritik mehr auf literarisch rhetorische Potenzen zu setzen als auf Diskurstraditionen. Zuletzt äußerte Lübbe die These, dass Kritik nicht länger an Institutionen oder Ideen geknüpft werden sollte, sondern allein an das Individuum gerichtet, das sie übt.
    Diesem Wandel hin zur Individualisierung entsprachen weitere Entwicklungen. In den 70er Jahren galt die Soziologie noch als die paradigmatische Wissenschaft auf der Höhe ihrer Zeit - was zur Folge hatte, dass sie Gesellschaft mit all ihren Gegensätzen ins Blickfeld der Kritik rückte. Dann entstand innerhalb kurzer Zeit ein publizistischer Boom um die Ethik, angestoßen von der geistig moralischen Wende und dem 1979 erschienenen Buch "Das Prinzip Verantwortung" des Philosophen Hans Jonas. Jonas entwickelt darin eine "Ethik für die technologische Zivilisation". In der Folge dieser Neuorientierung der Ethik war das Individuum angesprochen, nicht länger das Kollektiv. Die Frage der Kritik verschob sich von der Gesellschaft auf den Einzelnen.
    Kritik auf der Schwundstufe
    Dieser Wandel brachte einen verordneten Sprachgebrauch hervor, der schwammige Formulierungen von Verantwortungsträgern und moralischen Dilemmata, die den Menschen an sich betreffen, einbrachte. Kritik befindet sich in diesem Szenario auf der Schwundstufe: vordergründig sich an das Individuum richtend, schwammig da, wo es um Aussagen zur Struktur der Gesellschaft geht.
    Ähnliches ließe sich von einer Diskursform sagen, die seit den späten 70ern bis in die frühen 90er Jahre die westliche Kulturgesellschaft in Bann hielt: die Postmoderne. Diese Denkschule, die von ihrer Idee her gar keine sein wollte, brach wie eine Sturzflut über akademische Seminare, Verlage und Vernissagen herein. Mit Kritik wollte man sich nicht länger gemeinmachen. Hinter ihr vermuteten die postmodernen Denker aus Paris ein Subjekt, das auf Kosten der Vielfalt und Tiefe des Lebens imperial agiert. All die durch Kritik inspirierten Theorien der Aufklärung wurden als "große Erzählungen" ausgemacht, die nun mit dem Handwerkszeug der Textinterpretation dekonstruiert wurden. Im Konzept des "Wilden Denkens" vollzog sich die Abstinenz von Kritik - hatten die Autoren Felix Guattari und Gilles Deleuze ein zukunftsweisendes Bild für das Denken entwickelt, das sich wie ein Wurzelwerk, ein Rhizom entfalten sollte - im Gegensatz zu jenem zielfixierten "Geradeaus Denken" der Moderne.
    Folglich wurde die klassische Kritik mit Begriffen wie "Dekonstruktion", "Revision", "Subversion" und "ironische Strategie" unterlaufen und erlaubte sich dabei einige radikale Auswüchse:
    "Der Augenblick ist gekommen, um den Terror der Theorie zu brechen. Es mangelt uns an einer Teufelei, einer Apathie, die so beschaffen ist, dass das theoretische Genre Subversionen erleidet."
    (Jean François Lyotard)
    "Ich meine die Moderne ist in Ekstase. Die Revolutionen sind in so großen Beschleunigungen begriffen, dass dies schließlich zu einer großartigen Steigerung der Trägheit führt."
    (Jean Baudrillard)
    Kalkulierte Wissenschaftsparodie
    Derlei Denken ist vielleicht nur noch vermittelbar, wenn man den historischen Kontext miteinbezieht - jene 1980er Jahre, in denen das Prinzip "anything goes" im geistigen Leben seine eigenen Possen trieb. Mit einer davon hatte der angesehene Physiker Alan Sokal die internationale Forschergemeinschaft aufgeschreckt. Sokal hatte in der Zeitschrift "Social Text" einen Beitrag veröffentlicht, in dem es vor Plattitüden wimmelte. In einem Wortgemenge aus unterkühlten Begriffen und wirren Metaphern verstieg er sich zu der These, dass die physikalischen Naturgesetze abhängig seien von Weltbildern und kulturellen Wertvorgaben. Doch damit nicht genug. Die kalkulierte Wissenschaftsparodie gipfelte in der bizarren Forderung nach einer emanzipatorischen Mathematik. Spätestens hier schien eine Bewegung zum Abschluss gekommen, die sich jenseits der Moderne neu erfinden hatte wollen, dabei aber einem Mythos erlag: dem Mythos des "Ganz Anderen" - jenseits von Kritik und Argument.
    Allerdings sollten gewisse Aspekte der postmodernen Revolte später, wenn auch in anderer Funktion wieder aufgegriffen werden. Zuvor setzte die Geschichte eine Zäsur. Der Mauerfall und die nachfolgenden Ereignisse verbannten das Gespenst der Utopien für immer in den Orkus der Ideengeschichte. Der politisch-historische Wandel sprach deutlicher als Entwicklungen innerhalb der Kultur es je hätten können - für den laufenden Kritikbetrieb bedeutete das auf den ersten Blick eine Versachlichung der Themen und Einstellungen und ein Gewinn an Ausdrucksformen. In diesem Kontext wurde auch ein neuer Typus der Kritik aus der Taufe gehoben: der Medienintellektuelle. Der Medienwissenschaftler und Autor des Buches "Am Ende der Gutenberg Galaxis" Norbert Bolz verlieh diesem Phänotyp der Stunde deutlich Kontur.
    "Es kann gerade für Intellektuelle heute nicht mehr darum gehen, irgendwelche Schatzkammern des Seins zu verwalten, beliebige Ideologien oder heilige Programme zu tradieren, sondern er kann nur seine geistige Kraft trainieren und versuchen, sich von Fall zu Fall auf eine sehr schnell sich ändernde Wirklichkeit neu und geistesgegenwärtig einzustellen."
    Das Flimmerteilchen
    Das beschriebene Profil erinnert an Gottfried Benns Bild vom Flimmertierchen: Das Flimmertierchen greift mit seinen Sensoren alle äußeren Reize auf und reagiert in Sekundenschnelle darauf. Ein Kritikermodell der Zukunft? Hat man bei diesem von Norbert Bolz entworfenen Profil von einem gesellschaftlichen Status quo auszugehen, der fundierte Kritik als zu zeitraubend einstuft und eher ein ordentliches Krisenmanagement verlangt? Ein "muddling through", "sich-Durchwursteln" - wie es in der Organisationstheorie heißt?
    Reicht diese eingeschränkte Phänomenologie der Kritik in Zukunft aus, um einer offensichtlich krisenhaften Spätmoderne etwas Kritisches entgegenzustellen?
    Eines ist klar: Eine Antwort darauf kann sich weder von totalitären Ideologien nähren noch allein von der Vielfalt eines groovenden und schwingenden
    Kulturmarktes.
    Die Kritik als Religion
    Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Kritik war eines der zentralen Themen der Poetikvorlesungen, die der Schriftsteller Wolfgang Hilbig im Sommersemester 1995 unter dem Titel "Abriss der Kritik" an der Frankfurter Universität hielt. Es ging ihm nicht allein um die Literaturkritik, sondern um die Kritik als Motor der Aufklärung und unserer Kultur schlechthin. Hilbig nimmt die Kritik deshalb keineswegs von der Kritik aus:
    "Die Aufklärung begann mit der Kritik an der Religion, und das Bewegungselement dieses Zeitabschnitts griff nach und nach auf alle anderen Bereiche über und unterwanderte sie; dies dauerte so lange, bis die Kritik schließlich selbst zu einer Art Religion wurde. Um das ganze metaphorisch zu fassen: dem positiven weißen Gott der Religion wurde die schwarze Gottheit der Negation entgegengesetzt."
    Wolfgang Hilbig wähnte schon vor Jahren die Kritik in einem unauflöslichen dialektischen Dilemma, das die Kultur lähmt. Von der Aufklärung bis in die Niederungen der Literaturkritik verfolgt Hilbig den Gang kritischen Denkens. Am Ende sieht er im medialen Flow unserer Zeit die einst absolut auftrumpfende Kritik in inhaltlose Negation umgewandelt. Ansätze zur Erneuerung einer gehaltvollen Kritik fand der 2007 verstorbene Dichter kaum mehr vor.
    Passanten tragen in der Münchner Innenstadt ihre Einkäufe.
    Begriffe wie "Konsumkritik", "Kunst für alle" inspirierten die Studentenbewegung und provozierten die kritische Theorie. (dpa / Frank Leonhardt)
    Anders die Autoren des Sammelbandes "Kulturen der Kritik". In ihren 2011 erschienenen "Medialen Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest" geben die Herausgeber Ole Petras und Kai Sina das Credo dieser Kulturen vor.
    "Wo einst die ‚Kulturkritik' ihren Generalangriff auf die Gesellschaft vollzog, wuchern heute ‚Kulturen der Kritik' - ein unübersehbares Gewirr von Verlautbarungen, Analysen, Kommentaren, Beschwerden und Widerlegungen, die ohne zeitlose Ideale auskommen und auf autoritäre Gesten verzichten."
    !!Kritische Beschreibungen des gesellschaftlichen Status quo"
    Dieser Verzicht bedeutet für die zumeist jungen Autoren jedoch nicht ein Abgleiten in Rhetorik und zynischen Kulturpessimismus. Die Gegenwart zeichnet sich vielmehr durch ein Bedürfnis nach kritischen Beschreibungen des gesellschaftlichen Status quo aus. In zahlreichen Aufsätzen werden Grenzen und Möglichkeiten von Kritik durchgespielt - in den Bereichen Literatur, Film und selbst in dem der Theoriebildung, die hier unverkrampft wieder zugelassen wird. Allerdings wird im Vorwort eine Einschränkung gemacht, die auf einer generationsspezifischen Erfahrung der Autoren beruht:
    "Kritik kommt heute nur selten über den Status einer Inszenierung hinaus."
    Dahinter verbirgt sich vielleicht die bittere Erkenntnis, dass Selbstinszenierung heute zu einem wesentlichen Impuls des Kritikbetriebs geworden ist. Angesichts all der Karrieren von "jungen Wilden" in den Medien ein nicht unberechtigter Verdacht: Die Wege führen von der alternativen Stadtzeitung über die "taz" zum "Spiegel" und zur "Zeit".
    Für die Autoren des "Kulturen der Kritik"-Bandes sind diese Berufsbiografien Anlass, sich ihrer eigenen Geschichte zu erinnern. Sie verlief abseits der intellektuellen Auseinandersetzungen und war meist popkulturell begleitet.
    Pop und intellektuelle Diskurse
    Pop konnte erstmals vor 50 Jahren in die intellektuellen Diskurse eingreifen. In der Malerei standen die Kunstauffassungen von Andy Warhol brüsk gegen die von Mark Rothko, hier eine kalkulierte oder entfesselte Alltagskunst, dort der tiefenscharfe Blick der klassischen Moderne. Die konträren Perspektiven warfen erstmals Fragen nach der Geltung von Kritik überhaupt auf. Wie affirmativ darf Kunst sein? Begriffe wie "Konsumkritik", "Kunst für alle" inspirierten die Studentenbewegung und provozierten die kritische Theorie.
    Die linke Subkultur entwickelte sich schon 15 Jahre später zum Mainstream. Junge Autoren wie Dieterich Diederichsen und Julie Burchill attackierten den Konnex zwischen linker Kritik und narzisstischem Sendungsbewusstsein. Die Kernfrage war: Wie lässt sich ein Anspruch von Kritik retten, ohne in die Fallen des kapitalistischen PR-Systems zu geraten. Oder auch: Wie subversiv, also auch im alten Sinne zersetzend kritisch, können Rollen sein, die den alten Hiatus zwischen Authentizität und Inszenierung unterlaufen? Die Antwort glich einer Provokation: Wir spielen das Spiel der Affirmation ironisch mit und gewinnen so eine neue Position des Widerstands. Diese Versuche unterschieden sich schon damals wohltuend von den akademischen Triaden der Postmoderne.
    "Gequatsche über das nächste Buch"
    Wer sind heute die realen Subjekte der Kritik und wie wirken historisch politische Gegebenheiten darauf ein?
    Alles, was ihn intellektuell umtreibe, sei "ermöglicht von politischen Anlässen, politischen Gelegenheiten, politischen Zusammenhängen, nicht literarischen oder kulturellen", schrieb der Schriftsteller Dietmar Dath im Rahmen der deutschen Literaturdebatte im vergangenen Jahr in der "FAZ".
    Sinnvolle Kritik entsteht gemeinhin dort, wo es Krisen gibt oder Machtverhältnisse sie erzwingen. Jene, die an diesen Machtverhältnissen Anstoß nahmen, waren vor mehr als zweihundert Jahren die Philosophen; seit Ende des 19. Jahrhunderts tritt an deren Stelle der Intellektuelle. Sein Dilemma: Wie soll er sich verhalten zwischen Ohnmacht und Aufbegehren, zwischen griffigen Formeln und einer Medienwirklichkeit, die ihm eben doch vorschreibt, was zu machen ist?
    Doch der Schriftsteller Dietmar Dath, selbst lange genug im Medienbetrieb unterwegs, um noch an die Segnungen der kulturellen Vielfalt von Kritik zu glauben, bindet seine Skepsis an eine kritische Zeichnung des wendigen Intellektuellen.
    "Wenn wir Intellektuelle nicht irgendwann aufhören zu tricksen, werden wir zwar immer wendiger, aber gleichzeitig auch totenstarr. Wir müssen uns klar machen, dass es um etwas Größeres gehen muss als bloß um das Gequatsche über das nächste Buch."
    Nach dem Ende der Ideologien, das für meine Begriffe etwas zu genüsslich proklamiert wurde, wäre die Vielfalt einer Kulturkritik nur dann zu begrüßen, wenn sie am Wahrheitsanspruch aufklärerischer Kritik festhält.
    Das geschieht durchaus. Der Philosoph Michael Hampe hat in seinen "Lehren der Philosophie" auf einen zentralen Gedanken der Postmoderne zurückgegriffen, auf die Rede von der "großen Erzählung", die die Theorien und Ideologien demaskieren sollte. Nun hat Hampe einer verblüfften Leserschaft vorgerechnet, dass die letzte große Erzählung die kapitalistische Ökonomie schreibt. Diese imperiale Erzählung ist so eng mit unserem Alltag und unserer Denkweise verbunden, dass kaum jemand sie erkennt.
    Da gilt es, mit der Kritik anzusetzen. Für Hampe bedeutet das, die mythisch große Erzählung der Ökonomie in erkennbare kleine Erzählungen aufzulösen - was vielfach eine subtile Sprachkritik erfordert. Wo wir uns "just in time" "positionieren" - selbst in den heiligen Hallen der Kultur - sind wir eben genau das und eben nur das: Marktteilnehmer. Kritik könnte der Versuch sein, das zu ändern.
    Werner Köhne ist Autor und Filmregisseur und lebt in Köln.