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Gesellschaftlicher Kraftakt
Herausforderung Flüchtlingsintegration

Was bedeutet der Zuzug von Flüchtlingen für die Gesellschaft in Deutschland? Lässt sich von den Erfahrungen anderer Einwanderungsländer lernen? Was muss jetzt und in den kommenden Jahren getan werden, um die Flüchtlinge zu integrieren? Einige Antworten auf diese Fragen geben Kultur- und Sozialwissenschaftler.

Von Barbara Weber | 17.12.2015
    Der Teilnehmer eines Deutschkurses für Asylbewerber macht sich im Unterricht in Halle/Saale (Sachsen-Anhalt) am 11.11.2015 Notizen.
    Es gibt nicht genügend qualifizierte Deutschkurse für Asylsuchende, mahnen Forscher. (pa/dpa/Schmidt)
    Berlin-Reinickendorf. Deutschkurs für Ausländer. Heute ist Mittwoch. Seit Montag sind die Schüler dabei. Sie heißen Hassan, Alia, Mohammed. Sie gehören zu den weltweit rund 60 Millionen Flüchtlingen, die vor Krieg, Terror oder Armut weglaufen auf der Suche nach einem sicheren und besseren Leben. Sie treffen in Deutschland auf eine weitverbreitete Willkommenskultur, auf Ehrenamtliche, die ihnen helfen, auf Organisationen und Behörden, die ihr Bestes geben aber manchmal auch schlicht überfordert sind.
    Sie treffen aber auch auf Menschen, die Sorge und Ängste entwickeln und auf solche, für die Asylsuchende eine willkommene Gelegenheit bieten, ihre braune Ideologie zu verbreiten, ihre Anhängerschaft zu vergrößern oder Flüchtlinge mit brutaler Gewalt zu verdrängen.
    Unsere Gesellschaft steht in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen und vor dem Anspruch, Millionen von Menschen zu integrieren, gleichzeitig aber auch eine mögliche Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.
    "Der Anspruch ist hoch, weil viele die Demokratie ermüdet. Die meisten möchten wenig mit solchen Diskussionen zu tun haben", sagt Gianni D'Amato, Professor für Migration und Staatsbürgerschaft, Universität Neuenburg, Schweiz.
    "Deshalb ist es wichtig, dass man sich einbringt, und deshalb ist es auch wichtig, dass man sich auch mit Gegnern einer solchen, sagen wir mal, liberaleren Politik auch auseinandersetzt. Dafür braucht es Mut, dafür braucht es engagierte Bürgerinnen und Bürger, aber auch Menschen, die in der Politik schon stehen und Auseinandersetzungen dieser Art nicht scheuen. Aber man muss mit den Menschen reden, man kann nicht einfach nur über sie sprechen, ohne den Kontakt zu suchen."
    Von Sorgen und Ängsten
    Sorgen und Ängste in der Bevölkerung lassen sich nicht einfach aus dem Weg räumen, und wie die Wahlergebnisse in Frankreichs und Polen zeigen, können sie rechten Populisten wie im Fall Frankreich erdrutschartige Siege bescheren. Diese Entwicklungen zeigen auch, wie Stimmungen kippen können, wenn sie nicht ernstgenommen werden. Ein Grund mag bei den politisch Verantwortlichen liegen.
    "Die Bundesregierung muss klar vorgeben, was sie eigentlich will und muss einen Plan vorlegen", sagt Dietrich Thränhardt, Migrationsforscher und emeritierter Professor an der Universität Münster. "Der ehemalige Bundeskanzler Schröder hat ja sehr treffend formuliert: 'Die Bundeskanzlerin zeigte Herz, aber sie hatte keinen Plan.' Die Bevölkerung ist in ihrer großen Mehrheit sehr aufnahmebereit. Aber sie will wissen, wo die Reise hingeht, und dann wird das Vertrauen auch wieder da sein."
    Doch wo die Reise hingeht, kann heute noch keiner sagen. Wohin die Reise gehen sollte, vielleicht schon eher. Allerdings lassen sich die unterschiedlichen Vorstellungen in einer funktionierenden Demokratie nur mühsam auf einen Nenner bringen, Probleme häufig nur über den Diskurs aller Beteiligten lösen. Das schafft Unsicherheiten.
    Dazu kommen die via Netzwerke und Medien verbreiteten Bilder von überfüllten Flüchtlingsunterkünften oder chaotischen Zuständen wie die vor dem LaGeSo, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin.
    Das schafft ein Gefühl von Bedrohung, das vielleicht auch verstärkt wird durch Begriffe, die im Zusammenhang mit Asylsuchenden immer wieder verwendet werden, meint Beate Küpper, Professorin für soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein:
    "Krise, Chaos, Angst - das sind natürlich Begriffe, die den Menschen auch Angst machen, denn es ist nicht so, dass die Menschen zunächst Angst hatten, sondern da ist auch eine Menge Angst geschürt worden durch Bilder von vielen Menschen, durch diese Begrifflichkeiten, durch diese Deutungsmuster."
    Dadurch hervorgerufene Affekte lassen sich nur schwer mit Argumenten aus dem Weg räumen, vielmehr müssten die Menschen bestärkt werden in ihrem positiven Gefühl, meint die Sozialpsychologin. So entwickelten Menschen nicht nur Angst, "sondern sie haben auch ganz viel Mitleid, das sehen wir gerade bei den älteren Menschen, die vielleicht selber noch Fluchterfahrung und Vertriebenenerfahrung gemacht haben, die sagen: Mensch, ich weiß wie schlimm das ist, seine Heimat zu verlassen. Ich weiß, wie schlimm das ist, wenn man ankommt, wo man weiß, dass man nicht so willkommen ist. Auch da haben wir böse Erfahrungen in Deutschland machen müssen auch nach dem Krieg, und die sagen, genau aus dieser Erfahrung heraus tut mir das furchtbar leid, wenn ich die Flüchtlinge heute sehe, und aus diesem Gefühl heraus möchte ich da auch unterstützen, zumindest habe ich da ein positives Gefühl und sage, das müssen wir irgendwie hinkriegen."
    Doch so einfach funktioniert das nicht, meint Frank Nägele, Redakteur des "Kölner Stadt-Anzeigers", in der Ausgabe vom 21.Oktober:
    "Es ist diese Zerrissenheit. [...] Mein Bauch und mein Herz sagen, dass es für das Recht auf Asyl keine Einschränkung geben darf. Jeder verfolgte Mensch hat ein Recht darauf. Mein Kopf sagt mir, dass es so nicht gehen wird. Das ist verwirrend. Warum sagt er das? Er war doch sonst auch immer ein Stück links von der Mitte, wie das Herz und der Bauch. Wieso sagt mein Kopf mir jetzt, er kann sich das nicht vorstellen, dass alles einfach von selbst gut wird? Vielleicht ja, weil er ein bisschen rechnen kann [...]"
    Und nicht nur die monatliche Anzahl der Asylsuchenden addieren kann, sondern auch die Möglichkeiten von Behörden und Behördenversagen kennt, wie das des Innenministeriums und dem ihm unterstellten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
    "Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat seit 2008 jedes Jahr weniger Anträge bearbeitet als neue Anträge hinzugekommen sind", stellte der Migrationsforscher Professor Dietrich Thränhardt schon im Juli 2015 in einem Gutachten fest. "2013 hat die Koalition beschlossen, im Koalitionsvertrag dem Bundesamt mehr Stellen zu geben. Das ist aber verspätet und zu wenig passiert, sodass das Bundesamt in die große Migrationswelle in diesem Jahr hineineingegangen ist mit einem großen Defizit von mehreren Hunderttausend unbearbeiteten Anträgen. Und in diesem Jahr hat sich dieses Defizit Monat für Monat gesteigert. Wir gehen davon aus, dass wir jetzt etwa 900.000 unbearbeitete Anträge haben oder Anträge, die noch gar nicht gestellt werden konnten, und dass wir am Ende des Jahres ungefähr eine Million unbearbeitete Anträge haben werden, und nach allem, was wir wissen, wird es noch Monate oder Jahre dauern, bis diese Bearbeitungskrise aufgeholt ist."
    Das sind Zahlen und Fakten, die sich nicht einfach wegdiskutieren lassen und erst kürzlich durch die Innenministerkonferenz auch einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurden.
    Und sie wecken Befürchtungen, zum Beispiel die, welche Folgen dieser Zuzug auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt haben könnte.
    Was den Arbeitsmarkt betrifft, glaubt Professor Herbert Brücker nicht, dass Bundesbürger durch Flüchtlinge womöglich weniger Chancen haben:
    "Nein, wir sehen praktisch überhaupt keinen Verdrängungseffekt. Das Erste, was man wissen muss, dass die meisten Flüchtlinge erst mit großem Zeitverzug in den Arbeitsmarkt münden. Wir gehen davon aus, dass dieses Jahr vielleicht 50.- bis 80.000 Menschen aus dieser Flüchtlingsmigration in den Arbeitsmarkt mündet, im nächsten Jahr etwa 350.000, im Jahr drauf etwa 680.000, und das setzt schon voraus, dass im Jahr 2015 etwa eine Million Menschen kommen und im Jahr 2016 auch", so der Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg.
    "Woran liegt das, dass das so wenig sind?"
    Erstens:
    "Das hängt damit zusammen, dass nur ein Teil der Menschen erfolgreich die Asylverfahren durchläuft, ein Teil der Menschen geht auch zurück, ein Teil der Menschen reist weiter, das heißt, die Nettozahlen sind doch sehr viel kleiner als die Bruttozahlen."
    Zweitens:
    "Dass diese Menschen in der Regel hinten in der Schlange stehen, also dass wenn sich ein Deutscher bewirbt mit der gleichen Qualifikation, er immer noch viel, viel bessere Chancen hat als ein Flüchtling. Sie bringen viele Hemmnisse mit, fehlende Sprachkenntnisse und Ähnliches. Wir beobachten empirisch, dass jetzt bei den gering qualifizierten Deutschen und den gering qualifizierten Migranten oder Flüchtlingen auch praktisch kein Wettbewerb im Arbeitsmarkt besteht. Die sitzen in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Um das an einem Beispiel zu sagen: An der Kasse im Supermarkt finden sie sehr häufig deutsche Frauen, manchmal auch deutsche Männer, das sind kommunikative Jobs, da muss man mit den Menschen reden, da ist Kommunikation gefordert, da sind Sprachkenntnisse wichtig, die bringen Migranten meist nicht mit. In demselben Supermarkt im Lager finden sie dann die Migranten."
    Drittens:
    "Konkurrieren eher Migranten, die schlechte deutsche Sprachkenntnisse haben, mit anderen Migranten, die schlechte deutsche Sprachkenntnisse haben, aber die konkurrieren eben nicht mit Deutschen. Das finden wir auch empirisch bestätigt: Die deutschen Arbeitnehmer gewinnen eigentlich in allen Qualifikationsgruppen, auch die geringer Qualifizierten, während Migranten, insbesondere Migranten, die erst wenige Jahre im Land leben, zu den Verlierern gehören."
    Das heißt:
    "Gesamtwirtschlich ist es so, dass es keine Verdrängungseffekte gibt, sondern es ist für den Arbeitsmarkt neutral. Die Arbeitslosenquote wird durch die Zuwanderung nicht steigen, sondern wird konstant bleiben oder aufgrund der günstigen Konjunkturlage wahrscheinlich sogar fallen."
    Was den Bildungssektor anbelangt, kommt eine Untersuchung der Mercator-Stiftung zu dem Ergebnis, dass weniger der ethnische Hintergrund als vielmehr der soziale Status der Eltern den Schulerfolg der Kinder beeinflusst.
    Die Psychologin Professor Petra Stanat, Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, betont in einem Interview, dass in Klassen mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungshintergrund tendenziell zwar geringere Leistungen erzielt werden, sich diese aber vollständig auf die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft zurückführen lasse. Entscheidend sei die Frage, wie viele Kinder aus bildungsfernen Schichten stammen. Abgesehen von speziellen Sprach- und Fördermaßnahmen gelte auch hier: Der Lernerfolg hängt von der Qualität des Unterrichts ab.
    Nicht nur Veränderungen auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt führen zu Befürchtungen. Berechtigte Sorgen bereitet der Wohnungsmarkt, der ebenfalls von dem Flüchtlingszuzug betroffen ist. Professor Dietrich Thränhardt:
    "Wo wir ein Problem bekommen werden, ist der Wohnungsmarkt. Der ist natürlich sehr unterschiedlich in verschiedenen Landesteilen. Im Osten haben wir bis vor kurzem Häuser abgerissen mit Bundessubventionen, weil es einfach leerstehende Wohnungen gab. Das ist jetzt zu Ende, und dieser Auszehrungsprozess wird nicht auf dieselbe Weise weitergehen. In den Ballungszentren wie München oder Frankfurt oder Stuttgart haben wir ein ernsthaftes Wohnungsproblem schon vor dieser neuen Zuwanderung. Und wir werden einfach mehr Wohnungen bauen müssen. Das ist dieselbe Situation wie nach dem Krieg. Damals ist es gelungen in einer relativ armen Gesellschaft, eine Million Wohnungen pro Jahr neu zu bauen. Und etwas Ähnliches muss heute auch passieren."
    Aber auch hier ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass weniger Deutsche mit Migranten konkurrieren, als vielmehr sozial bessergestellte mit Ärmeren. Vermutlich haben schon jetzt potenzielle Interessenten mit einem deutsch klingenden Namen größere Chancen bei der Wohnungssuche als solche, deren Migrationshintergrund schon der Name verrät.
    Was bedeutet der Zuzug von Millionen von Asylsuchenden für unsere Gesellschaft? Ob und wie sich die Situation in Zukunft ändern könnte, zeigt ein Blick in die klassischen Einwanderungsländer: USA, Kanada und Australien. Alle drei Länder sind wissenschaftlich gut untersucht.
    Von anderen lernen
    Hannover Ende November. Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der Volkswagen Stiftung, begrüßt die Anwesenden im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen. Hier hat sich eine illustre Schar von Migrationsforschern versammelt. Ihr Thema: "Lernen von Anderen und seine Grenzen: Migrationsmanagement und Integrationsförderung im internationalen Vergleich".
    Eigentlich ist geplant, das Ende letzten Jahres abgeschlossene wissenschaftliche Gutachten des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration zu diskutieren. Doch in weiten Teilen bestimmt die aktuelle Lage die Debatte. Dafür sorgt auch der Eingangsvortrag.
    Professor Randall Hansen von der Universität Toronto spricht über das Thema "Making Immigration Work: How Europe can overcome its Immigration Crisis". Der Migrationsforscher wertet seit Jahren zahlreiche Untersuchungen aus USA, Kanada und Australien aus. Das Ergebnis:
    "Einwanderung ist eine große Bedrohung und mit Kosten für die Wirtschaft verbunden - falsch!"
    "Einwanderung ist eine Bedrohung für den Sozialstaat - falsch."
    "Einwanderung ist die Lösung des demografischen Problems oder hat keinen Effekt darauf - falsch."
    Die Studienlage legt nahe, so Randall Hansen, dass die ökonomischen Auswirkungen von Einwanderung nur gering sind: Wenn Einwanderer über Fähigkeiten verfügen, die komplementär zu denen der einheimischen Bevölkerung stehen, schafft das mehr Wohlstand. Falls Einwanderer dieselben Fähigkeiten mitbringen, die schon vorhanden sind, sinken die Löhne und einheimische Arbeitnehmer werden - anders als in Deutschland prognostiziert - aus dem Markt gedrängt. Ein Beispiel:
    "Wenn Sie in New York City einen in den USA geborenen Taxifahrer suchen, werden Sie keinen finden! Das sind alles Einwanderer. Das war mal ein Sektor, indem sie bis in die 1990er-Jahre weiße Arbeiter angetroffen haben. Das hat sich völlig geändert."
    Auch das Vorurteil, dass nur gebildete Einwanderer einer Gesellschaft nützen, sieht der Migrationsforscher widerlegt:
    "Ich bin ein großer Fan ungebildeter Einwanderer. Es funktioniert aber nur, wenn sie arbeiten. Wenn sie nicht arbeiten, führt das in die Sozialhilfe. Ein liberaler Arbeitsmarkt - ohne zu sehr zu vereinfachen - ist der Grund, warum Einwanderer in Kanada, Amerika und Australien im Arbeitsmarkt integriert sind - ganz im Gegensatz zu Europa, wo sie oft von Sozialhilfe leben. Wie das funktioniert? 'Tough Love and Training' oder 'Fördern und Fordern'. Wenn sie das nicht glauben, frage ich sie: Warum war die Agenda 2010 so erfolgreich? Was überhaupt nicht funktioniert, ist ein Sozialhilfesatz, der über dem Arbeitseinkommen liegt und gleichzeitig eine große Zahl von ungebildeten Einwanderern."
    Was die Sozialhilfe anbelangt, meint Hansen, haben unzählige Wissenschaftler seit den 1990er-Jahren nachgerechnet, was Einwanderung die USA an Sozialhilfe kostet. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Einwanderung den Staat jährlich nur so viel kostet wie die Wirtschaftsleistung von zehn Tagen Arbeit.
    Sein Resümee:
    "Immigration wirkt sich leicht positiv auf die wirtschaftliche Situation aus und bedroht nicht den Wohlfahrtsstaat. Sie wirkt moderat der Bevölkerungsalterung entgegen. Gebildete Migranten werden überall willkommen geheißen, aber auch ungebildete können positive Effekte haben. Sie verbessern die Möglichkeiten nicht nur für sich selbst, weil sie mehr verdienen. Sie vergrößern auch die Möglichkeiten der Mittelschicht, die durch billigere Arbeitskräfte ihre Lebensqualität verbessern kann durch billige Reinigungskräfte, Lieferanten und Kindermädchen. Die öffentliche Meinung mag skeptisch gegenüber Migration sein, aber wenn die Grenzen und die Migration kontrolliert werden, kann man die Bevölkerung gewinnen. Und zum Schluss: Die gesetzlichen Möglichkeiten für Migranten, Geld zu verdienen und ein dynamischer Arbeitsmarkt können helfen, Migranten in den Arbeitsmarkt zu integrieren und nicht in die Sozialhilfe. Und das ist es, worauf es ankommt: Immigration funktioniert in Kanada, USA und Australien, weil Immigranten in den Arbeitsmarkt integriert sind. Das ist die Hauptbotschaft: Einwanderungspolitik und Einwanderung funktionieren, wenn Einwanderer arbeiten."
    Doch was kann Europa, kann Deutschland von den klassischen Einwanderungsländern lernen? Darüber wurde auf der Tagung heftig diskutiert.
    Ein Einwand: Die Grenzen in Europa lassen sich nicht so einfach schließen wie die der USA, von Kanada und Australien, die ihre Landesgrenzen martialisch bewachen und eine sehr rigide Einwanderungspolitik verfolgen. Auch die geografischen Verhältnisse an den Außengrenzen der EU unterscheiden sich von denen der typischen angelsächsischen Einwanderungsländer.
    Deshalb ist es fraglich, wie erfolgreich die Gesetzesinitiative der Europäischen Kommission ist, die die europäische Agentur Frontex zu einem voll funktionsfähigen europäischen Grenz- und Küstenschutz ausbauen will - ganz abgesehen von den nationalen Interessen einzelner Länder, die berührt würden.
    Zudem erschwert die politische Gemengelage in der Europäischen Union ein gemeinsames, einheitliches Vorgehen in der Flüchtlingspolitik. Häufig dominieren nationale Interessen der Mitgliedsländer. Zugleich erstarkt die politische Rechte, wie zuletzt in Frankreich und Polen.
    Deutschland versteht sich als Staat mit einer sozialen Marktwirtschaft und unterscheidet sich darin von den angelsächsischen Ländern USA, Kanada und Australien mit ihren weniger regulierten Arbeitsmärkten. Zudem steht zu vermuten, dass es durch den gesetzlichen Mindestlohn nicht zu einer allgemeinen Senkung des Lohnniveaus kommen wird.
    Neu ist, dass auch Wissenschaftler vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung die Einwanderung ungebildeter Arbeitskräfte nicht mehr per se negativ sehen. Zwar fallen einfache Jobs in der Industrie weg, doch der Dienstleistungssektor berge neue Chancen, so die Arbeitsmarktforscher.
    Was sich von den Einwanderungsländern lernen lässt - zeigen die berücksichtigten internationalen Studien - Einwanderung funktioniert, wenn Einwanderer arbeiten.
    Wie Integration gelingen kann
    "Schönen guten Tag! Mein Name ist Gabriele Kolmorgen und ich bin von der Bundesagentur für Arbeit hier in Berlin Welcome in Germany! Und wir haben ein Projekt bei der Bundesagentur für Arbeit hier in Berlin, wo wir Asylsuchenden helfen, sich schneller und besser in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren." Ein Asylsuchender auf Deutsch: "Ich will hier arbeiten und leben. Ich bin Programmierer und Statistiker."
    Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Außenstelle Berlin Spandau.
    Erst seit vier Wochen ist der Syrer in Deutschland, der im Anzug mit Weste und Krawatte zwischen der Arbeitsvermittlerin und dem Dolmetscher sitzt. Er lernt Deutsch mithilfe von Smartphone und Zeitung und wohnt zurzeit in einer Halle auf dem Messegelände.
    Vormittags hat der syrische Programmierer im Erdgeschoss seinen Asylantrag gestellt. Schon am frühen Nachmittag sitzt er in der ersten Etage, um sich über seine Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu informieren.
    Der Idealfall, aber erst mal nur ein Modellprojekt - "Early Intervention" heißt es. Beteiligt sind die Bundesagentur für Arbeit, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und das vom Europäischen Sozialfonds geförderte Bundesprogramm "XENOS". Das Modellprojekt wurde in sechs Städten getestet.
    "Early Intervention ist ein Projekt, wo es darum geht, dass man Flüchtlinge ganz früh anspricht, im Prinzip, wenn sie nach Deutschland kommen. Das ist die Idee, und man wird sich an den Ergebnissen dieses Projektes orientieren, wenn man jetzt ganz generell die Betreuung der Flüchtlinge neu aufstellt. Es geht dabei darum, erst mal mit den Menschen zu reden: Was haben sie überhaupt für eine Vorstellung. Was wollen sie machen? Es geht dann darum, für sie die geeigneten Strategien zu entwickeln. Da geht es natürlich zuallererst um Sprache. Ohne Sprache geht in Deutschland sehr, sehr wenig", sagt Professor Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
    "Es geht um die Fortsetzung ihrer Bildungsbiografie. Was wollen sie noch für Bildungsabschlüsse, für Ausbildungsabschlüsse machen? Und es ist in der Tat eines der wesentlichen Programme, dass man die Menschen qualifiziert. Dann gehören dazu Programme der Qualifikationsfeststellung, das heißt, dass man Menschen in Unternehmen schickt, und dass die Unternehmen sich dann ansehen, was haben die denn für Qualifikationen, was haben die für Fähigkeiten, und dass man diese Fähigkeiten zertifiziert. Man erhofft sich davon natürlich auch, dass die Menschen in Unternehmen verbleiben und dauerhaft dort arbeiten."
    Soweit die Theorie.
    Das Modellprojekt konzentriert sich auf die Gruppe der relativ gut ausgebildeten Asylbewerber, deren Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen, groß ist.
    Wissenschaftlich begleitet das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung das Projekt seit seiner Entstehung im Januar 2014. Hierzu wurden in zwei Wellen Interviews mit verschiedenen Beteiligten in den Modellagenturen durchgeführt.
    "Es hat sich herausgestellt, dass es einige Hürden gibt. Eine Anfangshürde ist der Erwerb der deutschen Sprache."
    Was auch daran liegt, dass es nicht genügend qualifizierte Deutschkurse gibt, sagt Karsten Strien, Projektmitarbeiter und Forschungskoordinator am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung.
    Eine weitere Hürde ist die Feststellung des bislang ausgeübten Berufes. Das geschieht häufig mithilfe eines Dolmetschers, manchmal auch mithilfe von Bildern, die den Teilnehmern vorgelegt werden. Ein weiteres Problem - so die befragten Arbeitsvermittler - ist, dass viele Flüchtlinge nicht im Besitz ihrer Zeugnisse sind.
    "Das ist ein großes Problem - und möglicherweise aus Angst vor Repressalien gegen Verwandte im Heimatland auch diese Unterlagen nicht anfordern können. Möglicherweise sind auch Unterlagen während der Flucht verloren gegangen."
    Und selbst wenn die Zeugnisse die Flucht überstanden haben, gibt es Hindernisse, auch wenn ein Gespräch mit der Arbeitsvermittlerin zunächst sehr erfolgreich verläuft:
    Der irakische Arzt hat auf der Flucht seine Unterlagen sorgfältig in Plastikhüllen geschützt, diverse Zeugnisse über sein Abitur, Studium, seine Facharztausbildung und seine Berufstätigkeit und überreicht sie der Arbeitsvermittlerin Ines Ben Said.
    Hier stößt deutsches Recht an seine Grenzen. Ein polizeiliches Führungszeugnis lässt sich für einen Regimegegner in Bagdad nicht beschaffen. Zudem herrschen in Mossul inzwischen Chaos und der sogenannte IS. Andererseits ist ein Führungszeugnis in der Regel erforderlich, um in Deutschland als Arzt arbeiten zu dürfen.
    Ein Beispiel für Probleme, die auftreten können. Ein weiteres Problem besteht darin, dass es die in Deutschland üblichen und erforderlichen Gesellen- und Meisterprüfungen in den Herkunftsländern der Asylsuchenden nicht gibt.
    Da ist Improvisation gefragt, sagt Tina Brockstedt, Teamleiterin des Teams Asylsuchende, auch vonseiten der Arbeitgeber.
    "Eine wichtige Schnittstelle sind auch die Kammern, die Arbeitgeber, die Arbeitgeberverbände, um da einfach auch unsere Kunden an die richtigen Stellen zu verweisen, Hilfsmöglichkeiten zu schaffen, Vergleiche zu bringen."
    Zum Beispiel mithilfe von Praktika. Allerdings zeigt die Begleitstudie auch, dass es nicht immer einfach ist, Menschen aus einem anderen Kulturkreis in den Arbeitsalltag zu integrieren.
    Zudem tun sich Arbeitgeber schwer mit Flüchtlingen, die lediglich einen subsidiären Schutz genießen, das heißt, eine sichere Aufenthaltsgenehmigung nur für ein Jahr erhalten.
    Das ist für beide Seiten ein Hemmnis, meint Professor Brücker: "Wenn man sich in die Lage der Flüchtlinge versetzt: Wenn man weiß, man bleibt womöglich nur ein Jahr in Deutschland, wird man sich schwerer tun, die deutsche Sprache zu lernen und eine deutsche Ausbildung zu machen. Das heißt, diese ganzen Maßnahmen, die man jetzt macht, um Flüchtlinge abzuschrecken nach Deutschland zu kommen, haben einen großen Nachteil. Wir erschweren enorm die Integration in die Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt, in das Bildungssystem, und die Vergangenheit lehrt, dass das meistens nicht so funktioniert, wie die Politik sich das denkt. Die Menschen bleiben dann doch hier, investieren dann aber zu wenig in Bildung, werden zu spät in den Arbeitsmarkt integriert und werden dann möglicherweise dauerhaft eine Last für den Sozialstaat."
    Doch die meisten - so Herbert Brücker - wollen so schnell wie möglich arbeiten, auch um Geld nach Hause zu schicken und bleiben damit häufig unter ihrer Qualifikation. Wie die Studie gezeigt hat, ist es in solchen Fällen sinnvoll, zum Beispiel parallel zu einer Helfertätigkeit die Flüchtlinge zu motivieren, ihre Ausbildung zu vervollständigen.
    Fazit der Begleitstudie - so Karsten Strien: "Das Ziel einer qualifikationsadäquaten Arbeitsmarktintegration braucht von allen Seiten sowohl von den Asylbewerbern auch aufseiten der Arbeitgeber und aufseiten der Agentur Geduld und auch höhere Anstrengungen, um die Arbeitsmarktintegration entsprechend zu bewerkstelligen."
    Zwar läuft das Modellprojekt Ende 2015 aus, wird aber danach in Berlin mit größerem Team regulär weitergeführt, um das Ziel der Integration in den Arbeitsmarkt oder eine Ausbildung möglichst schnell zu erreichen.
    Integrationshürden abbauen
    Ein weiterer Versuch, das Verfahren zu beschleunigen von der Erstregistrierung bis zur Entscheidung und möglichst alle der betroffenen Behörden unter ein Dach zu bringen, wird in der Berliner Bundesallee erprobt. Hier sitzen jetzt das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das BAMF, die Ausländerbehörde und die Agentur für Arbeit an einem Ort. Der Vorteil: Die Betroffenen müssen nicht mehr durch die Stadt irren, um die verschiedenen Behörden aufzusuchen.
    Was auf jeden Fall verhindert werden soll und jetzt schon viel zu häufig passiert, ist Asylsuchende monatelang zum Nichtstun zu verdammen. Zwar können Initiativen von Ehrenamtlichen bei der Integration helfen, angefangen von Deutschkursen bis hin zu gemeinsamen Unternehmungen. Aber ihr Selbstbewusstsein finden die Geflohenen erst in einer Tätigkeit wieder, die auf ihre Fähigkeiten aufbaut und ihnen ermöglicht, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Deshalb ist die Beschleunigung der Abläufe so wichtig.
    Fragen stellen sich natürlich auch im Zusammenhang mit der großen Anzahl von Flüchtlingen, die wenig oder gar keine Bildung haben, die womöglich Analphabeten sind oder nur die arabische Schriftsprache beherrschen. Was Migrationsforscher und inzwischen auch Politiker erkannt haben: Die Fehler, die bei den sogenannten Gastarbeitern gemacht wurden, dürfen sich nicht wiederholen.
    Professor Herbert Brücker: "Die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge braucht Zeit. Und wir haben ein paar Daten aus der Vergangenheit, und da kann man sagen, dass nach fünf Jahren haben wir normalerweise etwa 50 Prozent der Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Das ist langsamer als bei anderen Migrationen. Die interessante Frage ist jetzt: Wir tun jetzt mehr als in der Vergangenheit. Wir investieren mehr in Sprache, wir haben verstanden, dass wir diese Menschen integrieren müssen. Das heißt, es gibt möglicherweise Anlass zu Optimismus, dass wir dann vielleicht schon bei 60 Prozent stehen anstatt bei 50 Prozent. Ich bin da insgesamt optimistisch. Ich glaube, dass wir die 50 Prozent übertreffen können."
    Was dann auch dazu beitragen könnte, Ängste in der Bevölkerung abzubauen, um womöglich Zustände wie in den französischen Banlieues erst gar nicht entstehen zu lassen.