Donnerstag, 28. März 2024

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Gesellschaftsforschung
Wie Gefühle Politik machen

"Besorgte Bürger" und "Wutbürger" bekommen die Aufmerksamkeit vieler Medien und Politiker. Wer als Bürger gehört werden will, tut also gut daran, seine Gefühle zu äußern. Spielen Argumente und Fakten also nur eine Nebenrolle? Die Historikerin Ute Frevert im Gespräch über den Einfluss von Emotionen auf Politik und Gesellschaft.

Die Historikerin Ute Frevert im Gespräch mit Thomas Kretschmer | 04.11.2018
    Ein streitendes Paar steht auf einer Wippe.
    Extreme Gefühlspolitik nach innen und nach außen ist laut Ute Frevert ein Kennzeichen von extremen Parteien. (imago / Ikon Images)
    Wut und Angst, Stolz und Ehre: Gefühle sind nicht nur Paarbeziehungen, Freundschaften und Arbeitsverhältnissen vorbehalten. Sie gestalten ganze Gesellschaften. Es gibt Gefühle, zum Beispiel Ehre, die uns fremd geworden sind, die aber unseren Groß- und Urgroßeltern noch vertraut waren. Umgekehrt finden heute Empfindungen wie Empathie und Mitleid großen Anklang, die in vormodernen Gesellschaften keine Rolle spielten. Emotionen haben Konjunktur. Die Historikerin Ute Frevert entwickelt im Gespräch, wie Gefühle die Geschichte und Gegenwart gleichermaßen beeinflusst und geprägt haben.
    Porträt von Ute Frevert, Direktorin des Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
    Ute Frevert, Direktorin des Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. (imago / Hans Scherhaufer)
    Ute Frevert, Jahrgang 1954, ist Historikerin und Direktorin des Forschungsbereiches "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ihre Forschungsgebiete sind Neuere und Neueste Geschichte sowie Sozial- und Geschlechtergeschichte. Einige Veröffentlichungen der letzten Jahre waren "Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne" (2013), "Vergängliche Gefühle" (2013) und "Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht" (2017). Sie lehrte in Berlin, Konstanz, Wien sowie Jerusalem, Stanford, New Hampshire und Paris. 2016 erhielt Ute Frevert das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

    Thomas Kretschmer: In diesen Tagen jährt sich zum 100. Mal das Ende des Ersten Weltkriegs und das Ende des Kaiserreichs. Die Novemberrevolution mit der Ausrufung der Republik prägt zurzeit das öffentliche Erinnern. Welche Gefühle haben vor 100 Jahren in der Gesellschaft vorgeherrscht, Ute Frevert?
    Ute Frevert: Es ist gut, Herr Kretschmer, dass Sie vom Plural sprechen, denn es gab eine Mischung verschiedener Gefühle, dadurch zunächst mal große Aufregung, große Erregung, große Erwartungen, was da auf die Deutschen zukommen würde. Man muss sich ja noch mal vor Augen halten, dass die Vorstellung, dass man diesen Krieg, den man vier Jahre lang gekämpft hatte, dass man den verlieren könnte, eine überhaupt vollkommen neue Idee war. Bis weit in den Herbst 1918 hat die oberste Heeresleitung die Bevölkerung in dem Glauben gelassen, dass man ihn natürlich gewinnen wird, und es gab ja auch unendlich anspruchsvolle ambitiöse Erwartungen, was man mit diesem Gewinn des Krieges alles einheimsen würde an Territorium, an Geld, an Macht, an Ehre. Jetzt auf einmal dämmert es den Menschen, dass man wohl auf all das keinen Anspruch haben wird, sondern ganz im Gegenteil einen Waffenstillstand schließen wird am 11. November 1918, dem ja der große Katzenjammer folgen würde. Also das war etwas, womit man überhaupt nicht gerechnet hatte und was eine tiefe Verunsicherung auslöste.
    1918: Gemengelage sehr unterschiedlicher Gefühle
    Dann natürlich die Abdankung des Kaisers. Mit dem hatte man nun doch seit 1890 gut gelebt, wie man meinte. Man hatte sich an ihn gewöhnt, man kannte seinen Großvater. Also das Kaiserreich war sozusagen in der Erinnerung der Menschen fest implantiert, und dass das auf einmal ein Ende haben sollte, der ganze Pomp, dieses persönliche Regiment auch von Wilhelm den Zweiten, bei dem man sich zum Teil aufgeregt hat, aber er gehörte halt dazu. Auch das wurde mit Ängsten, mit Unsicherheit, aber natürlich in bestimmten Bevölkerungskreisen, die sich mehr geärgert als gefreut hatten, natürlich auch mit großer Genugtuung vermerkt. Was dann eigentlich kommen würde, wie so eine Demokratie beziehungsweise erst mal ja die Republik dann eigentlich aussehen würde, welche Kräfte dort die Oberhand gewinnen würden, wie man die verschiedenen Fliehkräfte auch dieser Gesellschaft zusammenhalten würde, das war ja alles, stand ja alles in den Sternen. Von daher, November 1918 eine Gemengelage von sehr, sehr unterschiedlichen Gefühlen, Erwartungen, positive Erwartungen, Enthusiasmus, Begeisterung über das Neue, aber auch tiefe Verunsicherung, was man sich denn eigentlich unter diesem Neuen vorstellen konnte beziehungsweise auch eine Unsicherheit, was man selber eigentlich tun konnte, um dieses Neue hervorzubringen.
    Relevanz von "Egodokumenten" für die Forschung
    Kretschmer: Um mal einen Schritt zurückzutreten und nach den Werkzeugen Ihres Fachs, nämlich der Geschichte der Gefühle zu fragen, wo finden sich denn belastbare Zeugnisse, um den Gefühlszustand einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit zu untersuchen, mit welchen Quellen arbeitet die Geschichte der Gefühle?
    Frevert: Um jetzt bei dem Beispiel 9. November 1918 zu bleiben, da haben wir natürlich einerseits die Presse. Damals gab es sehr viele Zeitungen, die sogar in mehreren Stunden des Tages, also häufiger als einmal am Tag auch erschienen sind und die mit Schlagzeilen aufwarteten, mit Extrablättern aufwarteten, und diese Texte und auch die Bilder, die sie veröffentlicht haben, geben uns Aufschlüsse darüber, in welcher Haltung, in welcher emotionalen Grundstimmung diese Journalisten zumindest erst mal ihre Neuigkeiten verbreiteten. Dann haben wir viele, viele Tagebücher von vor allen Dingen natürlich eher bürgerlichen schreibkundigen und auch schreibwilligen Zeitzeugen. Für mich ist ein sehr, sehr intensives Tagebuch zum Beispiel das, was Käthe Kollwitz geführt hat und die nun gerade auch diese letzten Tage des Krieges und dem Beginn des Friedens sehr, sehr gründlich dokumentiert hat und nicht nur gesagt hat, was sie wann getan hat und mit wem sie gesprochen hat, sondern auch sehr viel von der Stimmung und auch ihren eigenen Ängsten, ihren eigenen Erwartungen da mitteilt. Also diese sogenannten Egodokumente sind sehr, sehr wichtig.
    Käthe Kollwitz
    Die Künstlerin Käthe Kollwitz. Ihre Tagebuchaufzeichnungen geben die Stimmung einer Zeit wieder - und dienen somit auch Ute Frevert als Quelle für ihre Forschung. (picture-alliance / akg-images/Foto Lendvai-D.)
    Wir haben aber auch Mitschriften, stenografische Berichte dessen, was im Rat der Volksbeauftragten damals diskutiert worden ist, und dankenswerter vermerken diese Protokolle - wie übrigens auch die früher aus dem Reichstag und die später aus dem Reichstag - immer wieder, wenn Reden zum Beispiel unterbrochen worden sind und Menschen schreien "hört, hört" oder "das ist ja unverschämt" oder sonst was, wo man sich, ohne dass man über Tondokumente verfügt, auch ein Bild der Stimmungslage machen kann. Dann natürlich, klar, das ist schon die Zeit der Tondokumente. Das fängt ja so in den 1890er‑Jahren an, dass wir über Audiomaterial verfügen, und die sind, was den Gestus einer Rede, den Gestus einer Wiederrede betrifft, sind die natürlich sehr aussagekräftig, was Gefühle angeht.
    Kampf um die "Gefühlsführerschaft"
    Kretschmer: Und wie lässt sich jetzt aus so vielen Einzeldokumenten extrahieren, was sozusagen die ganze Gesellschaft betroffen hat oder welche Gefühle in der Gesellschaft zu finden waren, zu finden sind?
    Frevert: Also von der ganzen Gesellschaft und der Vorstellung, dass eine Gesellschaft sozusagen im Einklang fühlt, ist ebenso wenig auszugehen wie von der Vorstellung, dass eine Gesellschaft im Einklang denkt oder handelt. Gesellschaften sind auch damals schon sehr plural. Allerdings gibt es Meinungsgeber oder Meinungs-, nicht Meinungskontrolleure, Meinungskanalisierer würde ich eher sagen. Dazu gehört die Presse, dazu gehört dann auch der Rundfunk, dazu gehören Politiker, die durch die Art und Weise, wie sie eine bestimmte Botschaft ans Volk bringen, damit auch eine gewisse Rezeption voraussetzen oder auch nicht nur voraussetzen, sondern auch sozusagen bahnen. Aber auch da: Wir haben ja nicht nur eine politische Gruppe, die dort aktiv ist, sondern wir haben ganz viele, die sich auch bitter bekämpfen, das heißt, die auch um die Wortführerschaft und auch die Gefühlsführerschaft, kann man sagen, miteinander wetteifern, sodass wir immer ein ganz plurales Bild haben. So ein allgemeines Stimmungsbild der Gesellschaft würde immer sehr, sehr divers ausfallen, wie damals wie heute genauso.
    Sind Gefühle kulturell geformt?
    Kretschmer: Eine der zentralen Thesen der Geschichte der Gefühle lautet, Gefühle sind nicht nur individuell, sondern sie sind kulturell geformt und mitunter auch gemacht. Woran kann man das genau festmachen?
    Frevert: Na ja, zum einen sind Gefühle natürlich immer sehr individuell, weil sie von Individuen gefühlt werden. Es gibt keine Masse, die fühlt. Das ist zwar eine Vorstellung, die seit den 1890er-Jahren sozusagen herumwabert, die war auch für Adolf Hitler, der ja auch schon zu dieser Zeit aktiv gewesen ist, sehr einflussreich, aber diese Vorstellung von einer Masse, die fühlt, die sollte man sich eher erst mal vom Leib halten, weil sie mehr verdeckt als sie erklärt. Also es sind erst mal Individuen, die fühlen, aber was sie fühlen und wie sie es fühlen, wird sehr stark bestimmt durch gesellschaftliche und auch kulturelle, zum Teil religiöse, zu dieser Zeit schon wieder nicht mehr so stark religiöse, aber sagen wir mal im weitesten Sinne auch kulturelle und soziale Faktoren. Das heißt, wenn ich als Mitglied einer Partei, als Mitglied einer Konfessionsgemeinschaft, als Arbeiter oder als Intellektueller, als Bauer oder als Angestellter arbeite oder als Angestellte arbeite, als Frau oder Mann, als Junger oder Alter, habe ich bestimmte Gefühle, die mir meine, heute würden man sagen: Peergroup, also meine Klasse, mein Geschlecht, meine Region nicht vorschreibt - also so darf man nicht an diese Geschichte der Gefühle denken, dass man sagt, da ist so ein Mastermind, der das alles vorschreibt, was die Leute zu fühlen haben, nein -, aber es gibt so Bahnungen, es gibt Rahmungen, die von diesen gesellschaftlichen Großgruppen vorgegeben werden und natürlich dann auch von den Verlautbarungen, also den Medien, in denen sich diese Großgruppen äußern. All das wirkt zurück auf die Art und Weise, wie ein Individuum mit diesen neuen Informationen, mit dieser neuen Situation umgeht und welche Gefühle dann auch dieses Individuum empfindet. Das heißt, es ist sicherlich immer ein individueller Akt, aber dieser individuelle Akt ist, wie Sie es auch schon gesagt haben, gesellschaftlich, kulturell geformt.
    Emotionale Botschaften im Nationalsozialismus
    Kretschmer: "Essay & Diskurs" heute mit der Historikerin Ute Frevert. Vielleicht ist schon deutlich geworden, wie sehr Gefühle Politik beeinflussen können. Genauso versuchen aber auch Politiker Gefühle in ihrem Sinne zu verändern. Ute Frevert, Sie haben die Gefühlspolitik der Nationalsozialisten untersucht und kommen zu dem Schluss, Zitat: "Nie zuvor in der deutschen Geschichte hatte ein Staat so zielstrebig auf die Gefühle seiner Bürger durchgegriffen und flächendeckende Mechanismen ersonnen, sie zu erzeugen, wachzuhalten und auf seine politischen Ziele auszurichten", Zitat Ende. Können Sie beschreiben, welche Mechanismen das waren?
    Frevert: Wir könnten das, um jetzt bei den Jahrestagen zu bleiben, eigentlich sehr gut machen, wenn wir uns den 9. November 1938 vor Augen führen. Der jährt sich ja jetzt auch zum 80. Mal. Die sogenannte Reichskristallnacht - heute spricht man eher von Pogromnacht -, als ein von oben angeordnetes, erwünschtes Zerstörungswerk sich über die jüdische Bevölkerung Deutschlands ergoss. Man wollte gerne, dass das als Volkszorn sozusagen in die Zeitungen und dann auch in die Geschichtsschreibung einging und hat seitens des Propagandaministeriums, wie Goebbels, das auch immer so gesagt, aber im Hintergrund gab es eindeutige Anweisungen, eindeutige Befehle, eindeutige Richtungsorientierungen, die der Bevölkerung beziehungsweise den Mitgliedern der NSDAP und den Mitgliedern der SA gesagt haben, so, heute Nacht ist jetzt nicht die "Nacht der langen Messer", das hatten wir vorher, sondern es ist die Nacht, in der die Synagogen zu brennen haben und in der die Juden endlich begreifen, dass sie in diesem Land nicht mehr geduldet werden.
    Passanten vor einer zerstörten Fensterfront eines jüdischen Geschäfts in Berlin nach der Reichspogromnacht 1938.
    Zerstörte Fensterfront eines jüdischen Geschäfts in Berlin nach der Reichspogromnacht 1938. Die Zerstörung wurde als "Akt des Volkszorn" deklariert. (picture alliance/KEYSTONE)
    Diese Botschaft wurde sehr, sehr emotional sozusagen immer unter diesem Begriff des: hier ist ein Volkszorn, der sich darüber aufregt, dass ein junger polnischer Jude in Paris einen deutschen Diplomaten angeschossen hat, der dann auch am 9. November an diesen Schussverletzungen gestorben ist, das ist dann zu einem großen Hype geworden, also vonseiten des Propagandaministeriums. Der Sinn dieses Ganzen war, einerseits die Deutschen sozusagen zusammenzufügen mit dieser emotionalen Politik, ihr müsst euch doch jetzt bitte aufregen, ihr müsst doch jetzt bitte zornig sein.
    Selbstdarstellung als von Leidenschaften getriebene Politik
    Vieles daran erinnert an das, was Alexander Gauland nach den Chemnitzer Vorfällen gesagt hatte. Also es wurde sozusagen dem Volk geradezu in den Mund gelegt, dass es jetzt zornig zu sein hat und diesen Zorn auch auszudrücken hat in einem beispiellosen Zerstörungsakt gegenüber den jüdischen Mitbürgern. Das ist ein Teil dieser Gefühlspolitik, die versucht, Gefühle selbst … erst mal sehr stark als Politik mit Gefühlen zu arbeiten, die auch selbst sehr passioniert ist, fanatisch. Der Begriff des Fanatismus wird von den Nazis ganz positiv neu erfunden für ihre Politik: Wir sind fanatische Nationalsozialisten, wir wissen, wofür wir kämpfen und wogegen wir sind und tun das mit all unserer emotionalen und physischen Kraft. Also, erstens, diese Selbstdarstellung als eine passionierte, als eine von Leidenschaften getriebene Politik, zweitens, der Versuch, die Bevölkerung selber darauf zu verpflichten. Man wusste ja schließlich, nicht alle Wähler haben Ende 1932 oder Anfang 1933 für die Nazis gestimmt, die Hälfte blieb weg oder hat für andere gestimmt, und auch die wollte man sozusagen auf diese Politik verpflichten und sie letztendlich auch zu einer Art von nicht nur Zeugen dieser Politik, sondern zu Mitläufern, zu Sympathisanten dieser Politik machen.
    Kretschmer: Ganz allgemein gefragt, kann man sagen, Politik kann suggestiv wirken auf Teile der Gesellschaften und ihre Gefühle?
    Frevert: Suggestiv weiß ich gar nicht. Unter Suggestion würde ich mir immer noch so vorstellen, dass da mit Verhüllungen gearbeitet wird, dass das sozusagen eher subkutan läuft, unter der Oberfläche. Hier, während der Nazizeit, lief alles über der Oberfläche. Das war sehr sichtbar, sehr hörbar, sehr fühlbar. Jedes Wort, was Hitler gesagt hat, jede Rede, die Goebbels gehalten hat, kann man, würde man heute als Hate Speech bezeichnen, die ganz deutlich, ganz sichtbar, ganz fühlbar mit Gefühlen hantiert hat und die sowohl selbst ausgedrückt hat als auch dann - ein Volk, ein Reich, ein Führer - bei den Mitgliedern dieses Volkes selbst auch hervorrufen wollte.
    "Ganz unemotional kann keine Partei operieren"
    Kretschmer: Weil Sie gerade die Hate Speech und die Gegenwart damit angeführt haben, kann man plakativ fragen, ist Hate Speech oder diese extreme Form der Emotionalisierung der Politik ein speziell rechtes oder rechtsextremes Phänomen?
    Frevert: Leider nicht. Wir finden ziemlich widerliche, also für unsere heutigen Sensibilitäten, ziemlich irritierende Aussagen auch auf der extremen Linken. Also die KPD hat auch eine Sprache gepflegt, die, man kann auch sagen: Gossensprache gewesen ist, die direkten Zugriff auf die negativen Gefühle, Neigungen von Menschen versucht hat, die allerdings für sich intern natürlich auch nur von der Freundschaft und Kameradschaft und Liebe zu Stalin und sonst was geredet hat. Also extreme Gefühlspolitik nach innen und dann auch nach außen, das ist ein Kennzeichen von extremen Parteien. Man würde vielleicht, von unserer heutigen Begrifflichkeit noch mal ausgehend, sagen: extremen und populistischen Parteien, also Parteien, die einerseits sehr polarisieren, die andererseits aber den Anspruch erheben, für das Volk zu sprechen.
    Der Slogan "Wir sind das Volk" passt ja irgendwie immer, wenn man sich vom "System" schlecht behandelt fühlt.
    "Wir sind das Volk" - diesen Claim nutzten schon viele Parteien und politische Bewegungen. In den letzten Jahren wurde er von der Pegida-Bewegung wieder aufgegriffen. (dpa / picture alliance / Sophia Kembowski)
    Das hat sowohl die KPD gemacht, "wir sind das Volk", und die NSDAP hat sich sozusagen als Volkes Stimme begriffen, während Parteien, - also jetzt noch mal auf die Weimarer Zeit zu sprechen zu kommen -, die anderen Parteien haben sich nicht als Volksparteien damals begriffen, sondern haben immer für eine bestimmte Klientel gesprochen. Das hat sich natürlich dann in der Bundesrepublik geändert, aber selbst die Volksparteien der Bundesrepublik haben eher einen Stil gepflegt, den man sozusagen als nüchtern, als relativ unemotional bezeichnen kann. Also ganz unemotional kann keine Partei operieren, die auf Stimmenfang geht und die etwas für ihre Wähler und ihre Mitglieder tun will. Es ist immer wichtig, eine gewisse emotionale Grundstimmung auch abzuschöpfen oder auch nicht nur abzuschöpfen, sondern auch zu erzeugen, um Zustimmung zu gewinnen. Aber diese Art von extremer Polarisierung und damit verbunden diese extremen Gefühle, das ist sozusagen das Kennzeichen von extremen Parteien, auf der rechten, aber auch auf der linken.
    Der Begriff der Rationalität in der BRD
    Kretschmer: Die 1950er-Jahre gelten tatsächlich als eher gefühlsarm oder zurückhaltend im Ausdruck von Gefühlen bis zu hin zu dem bekannt-berühmten Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich, der "Unfähigkeit zu trauern", das 1967 veröffentlicht wurde. Ist da was dran, dass da tatsächlich eine Gefühlskälte oder eine Gefühlsreduktion herrschte und tonangebend war in der Gesellschaft nach dem Ende der NS-Diktatur?
    Frevert: Wenn man es vergleicht mit dem, was man vorher hatte, sicherlich. Es war auch eine ganz bewusste Abstandnahme, Distanznahme von der NS-Diktatur, wie man es dann beschrieben hat. Man wollte das Volk nicht mehr aufputschen, man wollte ihm auch nicht mehr Versprechungen geben, die man niemals erfüllen würde. Man wollte eine eher nüchterne politische Sprache pflegen, man wollte natürlich auch ganz andere demokratische Verhaltensweisen und Umgangsweisen erproben. Dazu gehört die Kultur des Kompromisses, und in einer Kultur des Kompromisses tut es selten gut, wenn auf beiden Seiten derjenigen, die dann einen Kompromiss finden müssen, zunächst erst mal emotional hochgerüstet wird. Von daher gab es eine ganze Reihe von Merkposten, die der jungen Bundesrepublik gewissermaßen in ihren Geburtsschein geschrieben worden sind: Tu das nicht, tu lieber das. Das hat nicht unbedingt ausgeschlossen, dass natürlich mit der Angst vor dem Kommunismus auch sehr viel Politik gemacht worden ist. Also wenn man die frühen Wahlplakate der CDU und auch der CSU anschaut, dann erschrickt man. Das sieht man sehr viel nationalsozialistische Bildersprache noch, die die Vertierung des Rotarmisten, der mit gierigem Blick nach Westeuropa greift. Also da gibt es eine Kontinuität auch, aber wenn man sich zum Beispiel Reden anhört, auch die im Bundestag gehalten worden sind, sind die im Verhältnis zu dem, was wir in der Endphase der Weimarer Republik erlebt haben, sind die relativ zurückhaltend. Insofern hat die Bundesrepublik sich selbst auch wiederum natürlich in Absetzung zur DDR, nicht nur zur NS-Zeit, sondern auch zur DDR als eine eher, ich würde nicht sagen gefühlskalte, aber der Begriff der Rationalität, der hat damals eine große Rolle, eine große positive Rolle gespielt. Lass uns rational miteinander umgehen und nicht kalt, aber doch so, dass die Gefühle nicht die zentrale Rolle spielen, die sie vorher gespielt haben.
    Gefühlspolitik heute
    Kretschmer: Um mal den Sprung in die Gegenwart zu wagen, da ist eine oft gehörte Zeitdiagnose, dass die Gefühle wieder an Stärke gewinnen in der öffentlichen Debatte, Rationalität und auch Fakten und Zahlen verdrängen würden. Manche Beobachter sprechen schon von einem Siegeszug der Gefühle. Teilen Sie diese Beobachtung beziehungsweise sprechen Fakten dafür?
    Frevert: Das ist, gerade weil man es jetzt so viel hört, muss man dann wiederum skeptisch sein. Es ist sicherlich so, dass gerade vonseiten des Rechtspopulismus Gefühle wieder eine neue Wertigkeit, eine neue Bonität gewinnen. Man scheut sich nicht, sehr tief in diese Kiste von Gefühlen zu greifen und sie den Menschen, also den Wählern, den Mitgliedern, auch anzubieten als legitime Gefühle, die sie legitimerweise haben dürfen und auch haben sollen. Sie sollen sich auch gedemütigt fühlen von dem sogenannten Establishment, was ja offenbar nur mit Verachtung auf sie guckt und sie ihre Interessen gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Sie sollen Wut empfinden gegen dieses Establishment, und diese Wut soll sie dann auch zu bestimmten Taten befähigen, die dieses Establishment dann irgendwann hoffentlich, aus AfD-Sicht, zu Fall bringen werden. Also diese Gefühlspolitik, dass man Gefühle wichtig findet und dass man sie vor allen Dingen den potenziellen Followern auch als wichtig und legitim anempfiehlt, das ist etwas, was im Moment sehr stark zu beobachten ist. Ob die Leute dann wirklich vorher schon so gefühlt haben, ob sie sich alle gedemütigt gefühlt haben, vor allen Dingen im Osten, das steht auf einem ganz anderen Blatt, aber diejenigen, die dann die AfD wählen oder die zu diesen Parteiveranstaltungen gehen und ihren Führern da auch zujubeln oder die in Dresden immer noch montags demonstrieren für ihr Volk, wir sind das Volk, das sind schon Menschen, die diese Botschaft, die diese Empfehlung dann auch ernst nehmen und auf einmal sich offenbar doch alle gedemütigt fühlen und daraus die Legitimität gewinnen, sich zu wehren.
    Die Instrumentalisierung der Demütigung
    Kretschmer: Warum ist diese Demütigung so stark, warum kann aus Demütigung so viel Zorn entstehen, der dann auch öffentlichkeitswirksam wird?
    Frevert: Das hat damit zu tun, dass Demütigung, also die Herabdrückung, die Entwürdigung von Menschen, in unserer Gesellschaft einen sehr negativen Klang besitzt, nämlich in einer Gesellschaft, die sich als eine Gesellschaft von Gleichen, Bürgern mit gleichen Rechten, mit einer gleichen Würde, zu schützenden Würde empfinden. Für die ist die Vorstellung, dass sie von anderen Bürgern, gleichen Bürgern herabgedrückt werden, in die Knie gezwungen werden, eigentlich unerträglich und sollte auch unerträglich sein. Also ich glaube, keiner von uns, nicht mal Kinder heutzutage mehr möchten gerne gedemütigt werden. Vor 200 Jahren war das noch etwas anders, als diese Vorstellung von Gleichheit nicht unter den Menschen war, aber diese ist nun mal Gott sei Dank unter uns, und von daher ist das Gefühl der Demütigung eigentlich nicht zu ertragen. Das gilt für alle, aber dass sich jetzt eine bestimmte Gruppe so gedemütigt fühlt von einer anderen Gruppe, also die Ossis durch die Wessis, die AfD-Anhänger durch die CDU-Kanzlerin und, und, und, das ist eine Instrumentalisierung dieses auch legitimen Gefühls, dass eine Herabsetzung folgen würde, eine Instrumentalisierung dieses Gefühls für bestimmte politische Zwecke.
    Schulmädchen wird gemobbt
    Das Gefühl der Demütigung ist in unserer heutigen, gleichberechtigten Gesellschaft nicht mehr zu ertragen - und wird deswegen instrumentalisiert. (Imago/Ikon Images)
    "Politisch instrumentalisierte und aufgeblähte" Wahrnehmung
    Kretschmer: Um mal ein immer wieder gehörtes Gegenargument vorzubringen: Wie passt es zusammen, denn Menschen in Deutschland geht es, zumindest der immer noch großen Bevölkerungsgruppe der Mittelschicht, doch relativ gut? Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, es ist Geld zum Konsumieren da. Wie passt es zusammen mit dieser Gefühlslage, die zumindest die öffentliche Debatte ganz schön mitbestimmt?
    Frevert: Das ist ja eigentlich jetzt in vielen Ländern schon eine Beobachtung wert, dass die Menschen nicht unbedingt, wie man ihnen früher immer nachgesagt hat, auf eine Verschlechterung ihrer sozioökonomischen Bedingungen reagieren und dann aufgeregt sind und sich wehren und nach einer anderen Politik rufen, sondern dass es eher kulturelle Verwerfungen sind, kulturelle Irritationen sind, die im Hintergrund dieser Bewegung stehen. Also ich halte relativ wenig von der These, ja, der Osten ist so abgehängt und da gibt es keine Arbeitsplätze mehr. Das kann es nicht sein, gerade in einer Gesellschaft, in der Vollbeschäftigung und unglaublich viel Reichtum unter den Leuten ist. Sicherlich nicht unter allen, aber auch diejenigen, die nicht an ihm partizipieren, verhungern in diesem Land nicht. Diese Vorstellung, uns geht es immer schlechter, ist eher eine, die unter denjenigen, die sich dazu ja auch bekennen, dann eher diese Vorstellung erweckt, ich fühle mich fremd im eigenen Land, ich habe nicht mehr den Eindruck, dass die Regeln, nach denen ich hier lebe, dass das die sind, über die ich mitbestimmt habe, sondern das sind jetzt andere. Das macht sich natürlich in erster Linie fest an den Migrationsbewegungen, die wir haben, und vor allen Dingen an den Ereignissen von 2015, die allerdings ja auch extrem in dieser Wahrnehmung - und ich würde immer noch sagen: in dieser politisch instrumentalisierten Wahrnehmung - extrem aufgebläht werden. Das hat ja dann mit realen Erfahrungen überhaupt kaum noch etwas zu tun. Ein Ereignis, was sicherlich sehr zu bedauern ist und was nicht hätte stattfinden müssen, im Sinne von Gewalt, die ausgeübt wird von Migranten, die wird zur Bedrohung aufgebläht. Dass Gewaltverbrechen unter der nicht-migrantischen Bevölkerung mindestens genauso häufig sind und natürlich in absoluten Zahlen viel, viel häufiger sind, das wird dann immer gerne übersehen, das passt dann nicht ins Bild, aber es sind eher die kulturellen Verwerfungen, denke ich.
    Bereitschaft zu Mitgefühl weiterhin stark ausgeprägt
    Kretschmer: Ute Frevert, Sie haben in einem schönen Essay beschrieben den Aufschwung der Empathie, des Gefühls der Empathie seit der Aufklärung. Die Humanität und die Menschenwürde sind eigentlich zentral in unseren Gesellschaften. Beispielhaft die Zeile von Schiller: "Alle Menschen werden Brüder", die wir ja auch in der Europahymne singen. Es gibt so Anzeichen, dass zum Beispiel die Verächtlichmachung von empathischen Menschen als Gutmenschen oder Trump und seine Mannen als Indizien, dass diese Konjunktur der Empathie im Abschwung sein könnte - trifft diese Diagnose zu aus Ihrer Sicht?
    Frevert: Nein. Ich denke nicht, dass die Bereitschaft der Menschen, Mitgefühl zu empfinden für Menschen, denen es nicht so gut geht wie ihnen selber, dass diese Bereitschaft nach wie vor sehr stark ausgeprägt ist. Das ist etwas, was wir an vielen Fakten auch zeigen können, also die Bereitschaft, freiwillig für diese Gesellschaft etwas zu tun und für andere Mitglieder dieser Gesellschaft zu tun ist heute so stark ausgeprägt wie in der Geschichte nie zuvor. Also die Anzahl der Bundesdeutschen, die ehrenamtlich tätig sind als Hausaufgabenhelfer, als Altenhelfer, wie auch immer, die ist enorm, die war noch niemals so hoch. Auch das Spendenaufkommen, wenn man jetzt mal für die Dinge empathisch ist, die nicht vor der eigenen Haustür gerade passieren, sondern in weit entfernten Ländern, die von irgendwelchen Katastrophen menschlicher oder auch nicht menschlicher Art heimgesucht werden, auch diese Spendenbereitschaft ist irrsinnig hoch. Das hatten wir noch nie. Insofern sehe ich keinen Abschwung von Empathie.
    Zug der Liebe - Rave für mehr Mitgefühl und Nächstenliebe unter dem Motto: Presse- und Meinungsfreiheit am 01.07.2017 in Berlin.
    Die Bereitschaft dazu, Mitgefühl zu empfinden, ist laut Ute Frevert heutzutage stark ausgeprägt. (imago/Müller-Stauffenberg)
    Ich sehe aber - und das gehört zur Polarisierung unserer Gesellschaft -, ich sehe, dass auf der Seite derjenigen, die sich früher nicht zu Wort gemeldet haben, die aber ein Ressentiment sicherlich gehabt haben als: Ich bin abgehängt, ich kann nicht so richtig mit, ich mache mir irgendwie Sorgen um die Zukunft meiner Kinder, wie auch immer, auch selbst, wenn es mir persönlich gut geht -, dass diese ressentimentbeladenen Menschen aus der Phase des heimlichen Grolls - nichts anderes heißt Ressentiment - übergetreten sind in eine Phase des offenen Grolls, indem sie ihre Vorbehalte, ihre Probleme offen und lautstark zum Ausdruck bringen, erwünscht, kanalisiert, zum Teil auch aufgeputscht durch eine Partei, die diese Gesellschaft von Grund auf verändern möchte. Gott sei Dank hat diese Partei - also Gott sei Dank aus meiner Sicht -, glücklicherweise offenbar jetzt in Bayern nicht mehr als zehn Prozent bekommen. Zehn Prozent ist zu viel, aber zehn Prozent sind auch nur zehn Prozent. Gleichwohl führt diese Partei einen extrem polarisierenden Wahlkampf, und zu dieser Polarisierung gehört es dann auch, dass man diese empathischen Bürger, diese Menschen, die Mitgefühl empfinden und dieses Mitgefühl auch ausdrücken, als Gutmenschen verachtet.
    Kretschmer: Was kann man dieser Polarisierung aus Ihrer Sicht entgegensetzen?
    Frevert: Was kann man ihr entgegensetzen. Ich denke, es gibt immer in jeder Gesellschaft einen Rand von Menschen, die nicht gesprächsbereit sind, die nicht konfliktfähig sind in dem Sinne, die auch nicht reflexionsbereit sind. Mit diesem Rand kann man auch und soll man auch nicht reden. Es gibt aber Menschen, die suchend sind, und die zum Teil, heißt es ja dann auch, aus Protest gegen die anderen ihre Stimme diesen rechtsextremen Gruppierungen geben. Ich glaube, mit diesen Menschen muss man reden, sollte man reden und kann man reden und sie auch zurückgewinnen für eine Gesellschaft, die sich nicht als eine Gesellschaft des Hasses und der extremen Polarisierung begreifen möchte.
    Kretschmer: Vielen Dank, Ute Frevert, für dieses Gespräch!
    Frevert: Vielen Dank, Herr Kretschmer!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.