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Gespaltene Gesellschaft

Die Demonstrationen und Ausschreitungen im Gezi-Park von Istanbul sind die Reaktion auf die Haltung von Ministerpräsident Erdogan. Er und seine konservative AKP beziehen sich immer mehr auf die großartige Vergangenheit des Osmanischen Reichs und die einstige Alleinherrschaft. Dagegen begehren die Menschen in der Türkei auf.

Von Reinhard Baumgarten | 29.06.2013
    Ist Recep Tayyip Erdogan jetzt da angekommen, wo er hingehört, oder wo er hin will? Was unterscheidet ihn noch von einem Hosni Mubarak, einem Muammer al-Gaddafi oder einem Baschar al-Assad? Er lässt seine Sicherheitskräfte nicht scharf schießen, er lässt nicht massenhaft foltern und Leute verschwinden.

    Es gibt glücklicherweise noch sehr viele andere Unterschiede zu den arabischen Despoten. Aber es gibt unglücklicherweise von Tag zu Tag mehr Ähnlichkeiten. Am auffallendsten sind sein zunehmend autoritäres Auftreten, seine einsamen Entscheidungen und seine Neigung Demonstranten zu delegitimieren, sie als Randalierer, Chaoten und Extremisten zu stigmatisieren sowie das brutale Vorgehen seiner Sicherheitskräfte gegen friedlichen zivilen Ungehorsam.

    Jagdszenen in Istanbul. Dichte Tränengaswolken hängen über Taksim-Platz und Gezi-Park. Das Zentrum der 15-Millionen-Metropole gleicht drei Wochen lang einem Schlachtfeld. Wasserwerfer fegen Demonstranten weg, prügelnde Polizisten treiben Menschen durch Straßen und Gassen. Autos und Barrikaden gehen in Flammen auf.

    Man sage ihm nach, er sorge ständig für Spannungen sorgen und er sei hart, bekennt Recep Tayyip Erdogan auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung.

    "Was hat man denn erwartet? Etwa, dass ich in die Knie gehe und die Demonstranten bitte, ihre Stofffetzen vom Atatürk-Kulturzentrum zu nehmen? Wenn man das Härte nennt, ja, dann ist das so. Entschuldigung, aber Tayyip Erdogan wird sich nicht ändern."

    "Genug der widersinnigen Bemerkungen und Verbote, genug der halsstarrigen Verordnungen und Befehle."

    Massen wollen individuelle Freiheit erhalten
    Istanbul Anfang Juni 2013. Die Metropole erbebt. Durch die Türkei rollt eine Welle des Widerstands.

    Die Menschen fordern den Rücktritt der Regierung, den Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

    Der Gezi-Park, so der "Hürriyet"-Kolumnist Şükrü Kücükşahin, stehe symbolhaft für viele Beschwerden.

    "Wenn wir uns nur auf den Gezi-Park beschränken, können wir das große Problem nicht diagnostizieren. Ich habe mit Hunderten Demonstranten gesprochen. Die Mehrheit sagt: Wir sehen unsere individuellen Freiheiten und unsere Privatsphäre gefährdet."

    Sie leisten zivilen Ungehorsam, besetzen den Gezi-Park neben dem zentralen Taksim-Platz. Sie bauen Zelte auf, richten ein Friedenslager ein und wollen einen der letzten grünen Flecken im Zentrum Istanbuls verteidigen. Hier, so sagen sie, sollen kein neues Einkaufzentrum und keine teuren Wohnungen entstehen.

    Wie ist unsere Haltung in dieser Sache, fragt Recep Tayyip Erdogan:

    "Stand da mal eine osmanische Kaserne, oder nicht? Ich habe nie gesagt, etwas bauen zu wollen, was früher nicht schon dort gewesen ist. Wir wollen wieder aufbauen, was 1780 dort hingebaut und später dann abgerissen wurde."

    Immer häufiger rekurriert Erdogan auf die vermeintlich großartige Vergangenheit des Osmanischen Reiches. Immer stärker führt er sich wie der Alleinherrscher früherer Jahrhunderte auf. Das ist es, wogegen mehr und mehr Menschen in der modernen Türkei des 21. Jahrhunderts aufbegehren. Der Konflikt um den Gezi-Park war nur die Initialzündung.

    "Unsere Entschlossenheit bezüglich des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks hält an. Ich möchte, dass die Demonstranten das größere Bild sehen und erkennen, was hier gespielt wird. Die ehrlichen Demonstranten möchte ich bitten, den Park zu räumen. Diese Demonstrationen werden ganz offensichtlich von einigen Kapitalgruppen, Zins-Lobbys und Mediengruppen ausgenutzt."

    So sei das Weltbild des 59-jährigen Regierungschefs, erklärt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar von der Bahçeşehir Universität. Erdogan glaube wirklich an eine internationale Verschwörung gegen sein Land. Und die Demonstranten seien willfährige Büttel dieser Verschwörer:

    "Er kennt keinen anderen Weg, Politik zu betreiben. Von Anfang an hat er eine konflikthafte Politik betrieben. Er hat immer den Konflikt mit seinen politischen Gegnern gesucht."

    "Wenn ihr so weitermacht, dann werden wir eine Sprache sprechen, die ihr Demonstranten versteht. Jede Geduld hat ein Ende. Niemand hat das Recht, die Türkei als ein Land darzustellen, in dem Terror tobt. Es ist schamlos, von Arabischem Frühling und Türkischem Frühling zu sprechen. Wie bekloppt seid ihr eigentlich?"

    Recep Tayyip Erdogan spricht und lässt sprechen. Seine Argumentationshilfen sind Tränengas, Schlagstöcke und Wasserwerfer. Die Türkei erlebt die heftigsten Unruhen seit Jahrzehnten. Fünf Menschen sterben bei den Unruhen, rund 7000 werden teils schwer verletzt. Es gab Versuche, den Konflikt um den Gezi-Park zu entschärfen. Staatspräsident Abdullah Gül und Vize-Regierungschef Bülent Arınc sind auf die Demonstranten zugegangen. Sie sprachen von Deeskalation, von überharten Reaktionen der Polizei und von Dialog. Doch dann kam der Regierungschef von einer Reise aus Nordafrika zurück.

    'Wir sind alle Tayyips Soldaten', rufen seine Anhänger. Freie Fahrt mit Metro und städtischen Bussen zum Atatürk-Flughafen sorgen dafür, dass er in Istanbul von knapp 10.000 Menschen begrüßt wird.

    Von Dialog und Kompromiss ist nach Erdogans Ankunft nicht mehr die Rede. Der 59-Jährige schwingt stattdessen die verbale Keule:

    "Sie sind in die Dolmabahçe-Moschee mit Schuhen eingedrungen und haben dort Bier getrunken - im Namen des Umweltschutzes. Man hat den Muezzin der Moschee bedroht und ihn zu falschen Aussagen gezwungen. Von wegen, das war nicht so. Wir haben alle Beweise in der Hand. Die werden wir mit Bildern und Aufzeichnungen vorlegen."

    Erdogan einflussreichster Herrscher nach Atatürk
    Nichts ist vorgelegt worden. Der Imam der Dolmabahçe-Moschee sagt Tage später bei der Polizei in Beşiktaş aus, niemand habe Bier in dem Gotteshaus getrunken. Schuhe hätten nur jene getragen, die in Panik und Aufregung Verletzte vor Gas und Prügelattacken der Polizei in Sicherheit bringen wollten.

    Aber bis heute hält der Regierungschef an seiner Version fest:

    "Meine Kopftuch-tragenden Töchter und Schwestern haben sie angegriffen. Und damit nicht genug: Sie sind mit Bierflaschen und mit Schuhen in die Dolmabahçe-Moschee eingedrungen."

    Recep Tayyip Erdogan sei ein einsamer Herrscher, befindet der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar von der Bahçeşehir Universität:

    "Er hat um sich herum aufgeräumt. Er ist allein. Die einzigen Leute, die ihm nahekommen, sind seine Ja-Sager. Sie sind seine Geschöpfe. Sie existieren wegen ihm. Sie werden also niemals sagen, mein Herr, das geht so nicht. Die werden es niemals wagen, so etwas zu sagen."

    Regierungschef Erdogan ist zweifellos nach Staatsgründer Atatürk der einflussreichste Politiker der Republik Türkei. Er und seine Parteigänger haben aus einem schwächelnden Land in elf Jahren eine aufstrebende Wirtschaftsnation gemacht. Die Türkei weist beeindruckende Wachstumsraten auf. Nach China war die Türkei in der vergangenen Dekade das Land mit der höchsten Zunahme des Bruttoinlandprodukts unter den 20 größten Industriestaaten. Im Tourismus hat sie sich mit deutlich mehr als 30 Millionen Besuchern per anno in der europäischen Spitzengruppe fest etabliert.

    Allein nach Istanbul, dem Ort der heftigsten Auseinandersetzungen, kamen 2012 rund elf Millionen Touristen. Doch das rasante Wachstum unter Regierungschef Erdogan hat Schattenseiten, warnt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar.

    "Der Preis für beschleunigtes Wachstum sollte nicht die Untergrabung geltender Gesetze sein. Das ist völlig inakzeptabel. Das ist es auch, warum diese jungen Leute protestiert haben, protestieren und auch damit fortfahren werden. Er ist niemand, der weiß, was mitwirkende Demokratie bedeutet.

    Ein Denkmal für die AKP in Çamlıca
    Die Hügel von Çamlıca im Stadtbezirk Üsküdar auf der asiatischen Seite von Istanbul. Spektakulär ist der Blick von hier über die 15-Millionen-Metropole.

    Spektakulär soll auch sein, was auf dem Çamlıca-Hügel in den kommenden Monaten entstehen soll, schwärmt der Bürgermeister von Üsküdar, Mustafa Kara.

    Eine Moschee mit sechs Minaretten soll gebaut werden, dazu ein Konferenzsaal, ein Kunst- und Kulturhaus sowie eine Studienanstalt. Tausende Gläubige sollen in der dann größten Moschee Istanbuls Platz finden. So will es Bürgermeister Kara. Und so will es vor allem Regierungschef Erdogan.

    "In Çamlıca - diese Riesenmoschee, inshallah. Sie wird so geplant, dass man sie von allen Ecken der Stadt aus sehen kann."

    Widerstand ist scheinbar zwecklos. Was sich der islamisch-konservative Ministerpräsident in den Kopf setzt, das will er auch verwirklichen. Vor allem dann, wenn es um Religion und wenn es um Bauvorhaben geht. Eng sind die Bande zwischen der religiös-konservativen AK-Partei und der türkischen Bauindustrie. Premier Erdogan will hoch hinaus. 107,1 Meter sollen die Minarette messen – im Gedenken an die Schlacht von Manzikert. Im Jahr 1071 besiegte ein muslimisch-türkisches Heer ein christlich-byzantinisches Heer und leitete die Eroberung Anatoliens ein. Erdogan und seine AK-Partei wollen sich in Çamlica ein Denkmal setzen.

    Istanbul werde zum größten Teil durch Entscheidungen des Ministerpräsidenten regiert, stellt Gürkan Alkan bitter fest. Nach 20 Jahren als Bürgermeister der Stadt und Regierungschef des Landes wolle Erdogan seinen symbolträchtigen Bau.

    Istanbul als Zeichen des AKP-Machterhalts
    Erdogan und seine Getreuen haben noch andere hochtrabende Pläne. Eine Seilbahn soll vom europäischen Stadtteil Mecediyeköy den Bosporus überspannen und Besucher zur neuen Großmoschee auf dem Çamlıca-Hügel bringen. Istanbul bekommt einen Großflughafen mit einer angestrebten Kapazität von 150 Millionen Passagieren pro Jahr sowie eine dritte Brücke über den Bosporus. Beide Bauvorhaben drohen den Belgrader Wald, Istanbuls wichtiges Naherholungsgebiet, nachhaltig zu schädigen. Geplant ist auch ein Kanal parallel zum Bosporus als zweite Verbindung zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer. Regelmäßig weiht Recep Tayyip Erdogan neue Shopping-Malls ein. Moscheen und Konsumtempel - das, so sagen Kritiker, seien die Orte der Anbetung dieser neoliberalen, turbokapitalistischen Regierung.

    "Die Stadt Istanbul hat eine zentrale Bedeutung für den Machterhalt der AKP. Wer Istanbul regiert, der sitzt am Hebel. Die Angst, Istanbul zu verlieren, ist die Triebfeder dieser Bauwut. Der Bauboom und der Konsum in Istanbul schaffen einen wirtschaftlichen und politischen Wert. Diesen Wert will die AKP um keinen Preis verlieren."

    Recep Tayyip Erdogan ist ein machtbewusster Politiker mit überbordendem Selbstvertrauen, das jetzt von einer erstarkenden Zivilgesellschaft herausgefordert wird. Erdogan war mächtig genug, das über Jahrzehnte omnipotente Militär in demokratische Schranken zu weisen. Er hat den religiösen Minderheiten in der nominell laizistischen Türkei mehr Rechte eingeräumt als alle seine Vorgänger. Er ist dabei, gemeinsam mit PKK-Chef Abdullah Öcalan den Kurdenkonflikt beizulegen, der in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als 40.000 Menschenleben gefordert hat. Recep Tayyip Erdogan hat sich um sein Land verdient gemacht. Vieles setze er jetzt aufs Spiel, weil er nicht begreife, wie moderne Demokratien funktionierten, urteilt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar.

    "Er geht mit Konflikten konfrontativ um. Er kennt keine andere Politik als den konfrontativen Weg. Das ist das Problem. Deswegen berät er sich auch nicht oder will anderer Leute Ideen nicht hören. Deshalb macht er andere klein, jede Art von Opposition. Deswegen unterschätzt er die jungen Leute. Er nennt sie arme Bettler, Hooligans und so weiter."
    Hunderte von Demonstranten sind inzwischen festgenommen worden, viele sollen nach geltenden Anti-Terror-Gesetzen behandelt werden. Rache und Abrechnung, das scheint das Gebot der Stunde zu sein. Wer sind sie? Wer stellt sich Recep Tayyip Erdogan in den Weg? Wer versammelt sich nach der Gezi-Parkräumung Abend für Abend in den anderen Parks von Istanbul?

    "Ich bin Krankenschwester und arbeite in der Nachtschicht. Ich habe viele Verletzte gesehen. Menschen mit Schädelbruch, mit Asthma, die durch das Gas litten. Da habe beschlossen, solidarisch mit zu sein."

    "Soll er uns Chaoten nennen oder Außenseiter. Wir sind das Volk und wir sind hier, um uns gegen Druck und Gewalt zu wehren."

    "Ich bin ein Individuum. Ich bin eine türkische Staatsbürgerin. Ich bin eine Kemalistin. Ich demonstriere hier gegen einen Mann, der einen dreisten Stil hat und der sich uns gegenüber autoritär verhält. Ich bin hier, um die türkische Nation und meine Freunde zu verteidigen."

    "Ich bin jemand aus dem Volk. Niemand hat mich gezwungen, hierher zu kommen. Hier sind so viele Menschen, die noch nie zuvor demonstriert haben. Wir versammeln uns, um zu sagen: Hier ist das Volk und wir wollen Dich nicht!"

    Bis vor Kurzem noch war die Türkei eine Insel der Stabilität in einem Meer sie umgebender instabiler Staaten. Es grenzt an blankem Wahnsinn, mit welchem Starrsinn Ministerpräsident Erdogan und seine Leute gesellschaftliches Mit- und Nebeneinander durch Rechthaberei, Kraftmeierei, Brutalität und der Unfähigkeit zum Konsens aufs Spiel setzen. Die Keile, die durch Erdogans Politik jetzt in die türkische Gesellschaft getrieben werden, verursachen tiefe Risse. Der Blick übers Mittelmeer und nach Süden zeigt, wohin eine solche Politik der Delegitimisierung ziviler Proteste in letzter Konsequenz führen kann. Der Blick in die eigene Vergangenheit müsste den Regierenden in Ankara klar machen, wohin gesellschaftliche Spaltungen und Radikalisierungen führen. Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre lieferten sich linke und rechte Gruppierungen derart blutige Auseinandersetzungen, dass das Militär mit einem Putsch eingriff und die Türkei für viele Jahre unter einem bleiernen Mantel verschwand. Droht nun eine gesellschaftliche Spaltung entlang einer religiös-säkularen Bruchlinie?

    Ein kluger Regierungschef, der das Wohl nicht nur seiner Anhänger und Klientel im Auge hat, sondern gesamtgesellschaftlich denkt, hätte in den vergangenen Wochen weniger wie ein rechthaberischer Machthaber, sondern mehr wie ein moderner Staatsmann gehandelt, der bereits viel erreicht hat und seine politischen Erfolge nicht mutwillig aufs Spiel setzt.