Dienstag, 16. April 2024

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Gespräche zur Gegenwartsliteratur
Lesen macht nicht dümmer

Unter dem Titel „Konstellationen“ treffen im Literaturbüro Oldenburg Schriftsteller und Fachleute zu einem moderierten Gespräch aufeinander. Es geht jeweils um ein aktuelles Buch. Nun ist eine Auswahl dieser Gespräche in einem Buch erschienen.

Von Martin Krumbholz | 21.12.2018
    Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff freut sich am 26.10.2013 in Darmstadt (Hessen) bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises
    Sibylle Lewitscharoff im Gespräch mit der Germanistin Sabine Doering: "Sadismus ist leicht, das schreibt sich weg wie geschnitten Brot...Auch Dante konnte das aus dem Effeff." (dpa / picture alliance)
    Von zwei verbotenen Fragen weiß die Kulturjournalistin Sieglinde Geisel - die erste laute: Warum schreiben Sie? Die Zweite: Haben Sie das alles selbst erlebt? Diese beiden Fragen also dürfe man einem Schriftsteller niemals stellen. Früher indessen stellte man derlei Fragen recht unbefangen, deshalb wissen wir, was der große Heinrich Böll auf die Frage: "Für wen schreiben Sie?" geantwortet haben soll:
    Er hat darauf ganz lange überlegt und dann in seinem wunderbaren Kölner Tonfall jesacht: "Für alle!"
    Mit einer Prise Humor
    Der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg wiederum, der, wie Michael Krüger es nennt, ein "gutgehender Philosoph" war, also einer mit einer relativ hohen Auflage von vielleicht 3.000 verkauften Exemplaren, hat auf die gleiche Frage die gleiche Antwort gegeben und ergänzt: "Das heißt, meine Bücher müssten in sieben Milliarden Exemplaren verbreitet werden." Michael Krüger ist übrigens ein Verleger im Ruhestand und außerdem selbst ein Autor; und wenn er auch als eingefleischter Kulturpessimist gelten darf, so kann man doch von ihm lernen, dass die Literatur zwar eine sehr ernsthafte, aber doch keine allzu ernsthafte Sache ist und dass man ihre Angelegenheiten auf jeden Fall mit einer Prise Humor betrachten kann. Wir kommen darauf zurück, wenn es um die essenzielle Frage geht, ob Literatur die Welt verändert, denn auch die muss ja vordringlich beantwortet werden, sobald Schriftsteller mit Fachleuten reden – und das ist das Programm der Oldenburger Gespräche über Literatur.
    Als Künstler brauchen wir die Angst
    Doch zunächst zu Annette Pehnt. Sie hat ein Buch mit dem Titel "Lexikon der Angst" veröffentlicht; dieses Buch ist zwar alphabetisch geordnet, versteht sich aber nicht als Nachschlagewerk, sondern als einen Text, in dem es in vielen kurzen Kapiteln um eher negative Gefühle geht. Im Gespräch mit dem Psychosomatiker Hans Wedler beantwortet Annette Pehnt die Frage, ob sie ihr literarisches Personal zum Arzt schicken würde?

    "Vorne in das Buch habe ich einen Satz von Else Lasker-Schüler geschrieben. Ich zitiere: "Die Angst, die mich durchs Leben trieb, die lernt‘ ich, da sie bei mir blieb, wie einen echten Freund zu lieben." So eine Aussage ist vermutlich für einen Arzt nicht sehr plausibel, der Menschen erlebt, die von ihren Ängsten gelähmt sind, aber ich sehe in der Angst auch einen gewissen Reichtum. Die Angst stellt mir auch Bilder zur Verfügung, Fantasien, die ich künstlerisch umsetzen kann. Ob man Extremzustände immer abschleifen sollte, weiß ich nicht. Als Künstler brauchen wir sie jedenfalls."
    Ein Sado-Buch in 14 Tagen
    Nun ein Sprung zu Sibylle Lewitscharoff, Jahrgang 1954. Lewitscharoff hat ein Buch mit dem Titel "Das Pfingstwunder" geschrieben, in dem 33 Dante-Forscher wundersamerweise in den Himmel auffahren. Im Gespräch mit der Germanistin und Theologin Sabine Doering erläutert Lewitscharoff ihre Dante-Lektüre, konkret die unterschiedliche Rezeption des "Paradieses" und der "Hölle" in der Göttlichen Komödie, einem Sprachwunderwerk, das kaum jemand gelesen habe. Dante konnte das Paradies beschreiben, das findet unsere Zeitgenossin beneidenswert:
    "Sadismus ist leicht, das schreibt sich weg wie geschnitten Brot. Das ist überhaupt kein Problem. Ich garantiere Ihnen, dass ich Ihnen in 14 Tagen einen schaurigen Schmöker runterschreibe, wenn Sie mir die Aufgabe stellen, ein Sado-Buch zu schreiben. Immer wieder auf diese Körper einprügeln und die schrecklichen Säfte spritzen lassen, dass es nur so kracht - kein Problem. Auch Dante konnte das aus dem Effeff. Sehr viel schwieriger ist es, die Schönheit ohne Kitsch zu beschreiben."
    Die Abschaffung des Geldes
    Folglich bewundert Lewitscharoff das "Paradiso", das noch viel weniger Menschen gelesen haben als das "Inferno", weil sie vermuten, dass es langweilig ist - sie hält es mit seinem wunderbaren Klang für eine "ganz große poetische Leistung", wie sie sagt. Und damit springen wir weiter zu Ingo Schulze, der einen Schelmenroman geschrieben hat mit dem barocken Titel "Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst". Peter Holtz lebt in der DDR und später im vereinigten Deutschland, und was ihn auszeichnet, ist der Umstand, dass er sozialistischer als die Sozialisten, aber auch kapitalistischer als die Kapitalisten ist. Es kann natürlich kein glückliches Leben unter den Bedingungen des Geldes geben. Deshalb ist die Abschaffung des Geldes der gewissermaßen paradiesische Zustand, der im Hintergrund dieses Romans aufscheint - von den Kommunisten versprochen, aber nie realisiert. In der DDR, erklärt Ingo Schulze, hätten viele Menschen, die Häuser besaßen, diese der Kommune geschenkt, weil sie für die Häuser kaum Miete verlangen durften. Schulze:
    "Peter lässt sich als Kommunist und Maurer auch ein Haus schenken, er nimmt es auf sich, muss man wohl sagen, obwohl alle ihm davon abraten. Aber er bindet sich ein Haus nach dem anderen ans Bein und wacht nun (nach der Wende) als mehrfacher Immobilienmillionär auf. Das ist sein neues Problem: dass er plötzlich wahnsinnig viel Geld hat. Eigentlich möchte er die Häuser dann denen schenken, die darin wohnen, aber man sagt ihm, das sei falsch. Er akzeptiert schließlich die Vorstellung, dass alle Beziehungen Geschäftsbeziehungen sein sollten, und diese Einschätzung überträgt er auch auf sein Verhältnis zu Lilly. Er überlässt ihr ein Haus und gründet dadurch, ohne sich dessen bewusst zu sein, ein Bordell."
    Die Gesellschaft verändern? Quatsch mit Soße
    Lilly ist eine Prostituierte, die der Held kennengelernt hat. Und damit, wie versprochen, wieder zurück zu Michael Krüger, zu seinem Buch "Das Irrenhaus" und zu der Frage, ob Literatur die Welt verändert. Auch der Ich-Erzähler dieses Romans hat übrigens ein Haus geerbt. Er will sich zurückziehen und Philosoph werden; doch auf seine Fragen gibt es keine Antworten. Auch die Frage, warum einer tatsächlich schreibe, erklärt Krüger, werde eine ungeklärte Frage bleiben:
    Mögliche Antworten lauten: um die Gesellschaft zu verändern oder zu erfreuen oder so etwas. Das ist aber Quatsch mit Soße. Keiner, der mit einem Blatt Papier vor sich am Tisch sitzt, käme je auf die Idee, mit dem Gedicht - und sei es noch so ein großartiges Gedicht - die Welt zu verändern. Man stelle sich vor: Goethe sitzt da und schreibt: "Über allen Wipfeln ist Ruh", und denkt dabei, dass er die Welt verändert. Darauf kommen nur Germanisten.
    Man wird durch Lesen nicht dümmer
    Schön und gut - aber warum lesen wir eigentlich? Das kann ja keine verbotene Frage sein. Wird man durch Lesen klüger? Krüger:
    "Man wird auch nicht dümmer. Bücher wie Die Wahlverwandtschaften oder Die Blechtrommel oder Wunschloses Unglück setzen Reize, die einen in jedem Fall affizieren und damit verändern. Alles, was mich angreift, verändert mich."
    So darf am Schluss dieses Streifzugs durch die zeitgenössische Literatur doch eine optimistische Aussage stehen. Man wird jedenfalls nicht dümmer, meint Michael Krüger, Nicht-Germanist, Verleger, Schriftsteller. Dem hofft der Rezensent sich anschließen zu dürfen.
    Monika Eden (Hrsg.): "Konstellationen. Gespräche zur Gegenwartsliteratur"
    Wallstein Verlag, Göttingen, 248 Seiten, 20 Euro.