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Gesprächsband "Jenseits des Selbst"
Buddhismus und Hirnforschung diskutieren

Ein Hirnforscher und ein Mönch gewordener Ex-Wissenschaftler reden acht Jahre lang über Buddhismus und Welterkenntnis. Das könnte leicht ins Ätherische abdriften. Im Gesprächsband von Wolf Singer und Matthieu Ricard führt es aber zu einer fruchtbaren Synthese.

Von Matthias Eckoldt | 17.01.2018
    Buchcover: Wolf Singer und Matthieu Ricard: "Jenseits des Selbst"
    Buchcover: Wolf Singer und Matthieu Ricard: "Jenseits des Selbst" (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: AP)
    Dem ersten Anschein nach wirkt das Buch "Jenseits des Selbst" ein wenig nach New Age und 80er-Jahre. Nach dem Motto: Westlicher Wissenschaftler trifft östlichen Mönch. Aber die ausgedehnten Dispute zwischen Wolf Singer und Matthieu Ricard, die in diesem Buch zu verfolgen sind, fördern erstaunlicherweise mehr Gemeinsames als Trennendes zutage.
    Ricard arbeitete als Molekularbiologe, bevor er dem westlichen Wissenschaftsbetrieb und Lebensstil vor 40 Jahren den Rücken kehrte. Seither praktiziert er im Himalaya den Buddhismus und berichtete in mehreren Bestsellern über seine Erfahrungen. Singer wiederum ist ein weltweit renommierter Hirnforscher, der dem Buddhismus nahekam:
    "Ich wollte einfach mal eine Woche lang nicht reden müssen. Und da bin ich – durch Zufall eigentlich – in so ein ganz striktes Zen-Regime reingepurzelt, wo man acht Stunden am Tag vor der weißen Wand sitzt und im Übrigen nicht spricht und keinen Blickkontakt hat und gar nichts. Da merkte ich: Das ist sehr eindrucksvoll. Das macht was. Und dann habe ich kennengelernt den Matthieu Ricard. Das war sehr interessant, denn der ist nun Profi mit diesen spirituellen Praktiken, aber gleichzeitig war er früher Naturwissenschaftler, sprach also meine Sprache, sodass wir uns verständigen konnten. Kurz und gut, wir haben angefangen zu reden und dann fanden wir das so interessant, dass wir gesagt haben: Lassen wir doch ein Band mitlaufen."
    Summe ihrer Gespräche aus acht Jahren
    In das vorliegende Buch flossen Gespräche zwischen Singer und Ricard aus acht Jahren ein. Mal trafen sie sich in Frankfurt, dann wieder im nepalesischen Himalaya oder im thailändischen Dschungel. Trotz dieses vergleichsweise langen Zeitraums wirkt das Buch wie aus einem Guss. In insgesamt sechs Kapiteln wird der Leser immer tiefer in die Problemhorizonte des Erkenntnisvermögen einerseits und der Lebensführung andererseits eingeführt.
    Hilfreich ist dabei, dass sich der Buddhismus nicht als Religion, sondern ebenfalls als Wissenschaft versteht – als 2.000 Jahre lang verfeinerte kontemplative Wissenschaft der Beobachtung des Bewusstseins. Matthieu Ricard stellt sein in jahrelanger meditativer Praxis gewonnnenes Wissen so eingängig dar, dass Singer zu Beginn des Buches eher wie sein Schüler und nicht wie ein gleichberechtigter Gesprächspartner wirkt.
    Etwa wenn vom Umgang mit Gefühlen die Rede ist. Ricards besonderes Augenmerk ist dabei auf die negativen Gefühle gerichtet, die sich in Affekten äußern und die Wahrnehmung der Welt verzerren. Wut ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr ist durch meditative Praxis beizukommen:
    "Statt zuzulassen, dass wir selbst zu Wut werden, sollten wir verstehen, dass wir nicht 'Wut sind'. Anschließend richten wir unsere Aufmerksamkeit ganz allein auf sie. Was passiert? Wenn wir aufhören, Holz ins Feuer zu legen, und nichts weiter tun als zusehen, dann wird das Feuer bald verlöschen."
    Was passiert beim Meditieren im Gehirn?
    Singer missversteht diese buddhistische Praxis jedoch als Abstumpfungsprozess: "Geht es dir um ein klares von allen emotionalen Färbungen befreites Bewusstsein? Ich bezweifle sehr, dass solche emotionslosen Menschen überleben könnten." Ricard erwidert: "Es geht nicht darum, keine Emotionen zu haben, sondern sich nicht von ihnen versklaven zu lassen."
    Im weiteren Verlauf des insgesamt 340-seitigen Gesprächs bekommt auch Singer beide Beine auf den Boden, indem er eine Fülle faszinierender Einblicke in sein Fachgebiet gibt. Etwa wenn er detailliert die hirnphysiologischen Prozesse beschreibt, die ablaufen, wenn ein Mensch eine neue Fertigkeit – wie die des Meditierens – erwirbt.
    Oder auf welche Weise das Sehzentrum im Hirn permanent Signale von einem der beiden Augen unterdrückt, um Doppelbilder zu vermeiden. Von der eminent wichtigen Rolle des Schlafes für die Gedächtnisbildung erfährt der Leser gleichsam nebenher, während die erkenntnistheoretische Situation unseres Hirns von zentraler Bedeutung ist:
    "Heute wissen wir, dass wir nur einen sehr kleinen Ausschnitt der physikalischen und chemischen Welt wahrnehmen können. Diese wenigen Signale nutzen wir, um unsere Wahrnehmungen zu strukturieren, und unsere naive Intuition sagt uns, dass diese Signale uns eine umfassende und kohärente Weltsicht bieten."
    Buddhismus als Wissenschaft
    An dieser Stelle – etwa in der Mitte des Buches – wird aus dem teils abtastenden, teils wechselseitig belehrenden, dann wieder in mehrseitigen Monologfragmenten nebeneinander herlaufenden Gespräch ein wirklicher, intensiver Dialog. Denn der Buddhismus teilt die in der westlichen Welt als Konstruktivismus bekannte Reserviertheit gegenüber unseren Sinnesdaten. Die nämlich liefern kein objektives Abbild der Welt, sondern im besten Fall ein für das Überleben brauchbares.
    Ricard arbeitet an dieser Stelle brillant heraus, dass die Verwechslung der Wahrnehmung der Realität mit dieser Realität selbst im Buddhismus als Quelle des menschlichen Leids angesehen wird. Spätestens an dieser Stelle wird der Sinn und Wert des Buches deutlich, denn die beiden Wissenschaftler überbrücken beispielhaft die Kluft zwischen der Erste-Person-Perspektive der subjektiven Empfindung und der Dritte-Person-Perspektive der wissenschaftlichen Forschung. Damit nimmt das Buch enorme Fahrt auf und hält die Höhe auch in den letzten beiden Kapiteln, in denen es um das Thema des freien Willens und schließlich um die Frage aller Fragen für Hirnforscher und Buddhisten gleichermaßen geht – die des Bewusstseins.
    Hier schließt sich letztlich der Kreis zum Anfang des Buches, denn wiederum ist es Matthieu Ricard, der die Führung im Gespräch übernimmt und die Position des Hirnforschers Wolf Singer ungewöhnlich scharf attackiert:
    "Wie kannst du also versuchen zu beweisen, dass sich das Bewusstsein auf Hirnaktivitäten reduzieren lässt, wenn du auf der anderen Seite die Idee akzeptierst, dass es der physikalischen Analyse unzugänglich ist und du deine subjektive Erfahrung brauchst, um deine Theorie überhaupt artikulieren zu können?"
    Warum westliches Denken oft in die Irre läuft
    So macht das Dialogbuch "Jenseits des Selbst" deutlich, was dem westlichen Lebensstil im Allgemeinen und der westlichen Hirnforschung im Besonderen fehlt. Aus dem ungeheuer reichhaltigen faktischen Wissen mag zwar ein virtuoses technisches Können entspringen, jedoch keine Lebensphilosophie, weswegen es so oft in die Irre läuft. Dieses eher zwischen den Zeilen des Buches zu findende Fazit lässt den Leser nachdenklich zurück.
    Wolf Singer/Matthieu Ricard: "Jenseits des Selbst: Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch"
    Suhrkamp, Berlin 2017. 350 Seiten, 24,99 Euro