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Gespür fürs Groteske

Der polnische Erzähler Jan Himilsbach ist über seinen großen Erfolg als Schauspieler und seinen frühen Tod 1988 ein wenig ins Hintertreffen geraten. Zu Unrecht: Himilsbach hatte eine unnachahmliche Sprache voller Selbstironie und überraschender, neuer Ausdrucksweisen. Martin Sander hat nun "Die Welt des Jan Himilsbach" ausgezeichnet übersetzt.

Von Katharina Narbutovic | 15.02.2007
    Ein Mann sitzt allein in seiner Wohnung da, vertieft in ein Zwiegespräch mit sich selbst, versunken in Gedanken, die schwer sind wie Steine und vertrackt wie Bibelverse. Am Rand seines Liegesofas sitzt er Heiligabend da, unrasiert, mit mageren Hühnerbeinen und behaartem Oberkörper, nur in Schlafanzugjacke, raucht hastig Zigarette um Zigarette und ficht mit sich selbst das "Jüdische Duell" aus. Zerrissene Gedanken, die sich im Kopf des Mannes drängen und um die ewige vertrackte Frage des Woher und Wozu kreisen: "Woher kam er? Wo war er?" Ist der Mensch am Ende nichts weiter als ein Korn im endlosen Wüstensand?

    Die Suche nach der eigenen Identität und ein sehr individuelles Verständnis von Wahrheit, sie waren von zentraler Bedeutung für den berühmten polnischen Schauspieler und Schriftsteller Jan Himilsbach, den in Polen jedes Kind aus dem Film "Die Dampferfahrt" von Marek Piwowski kennt. Denn mit der Wahrheit über Jan Himilsbach ist das so eine Sache. Das fängt schon mit dem Geburtsdatum an: 31. November 1931 steht in seiner Taufurkunde geschrieben, ein Datum, das nicht existiert. Doch auch Jan Himilsbach hat wenig dazu unternommen, Klarheit in seine Biografie zu bringen. Im Gegenteil: Mal behauptete der in Minsk Mazowiecki geborene Sohn einer aus Sibirien eingewanderten Russin, sein Vater sei ein 1917 (also 14 Jahre vor Himilsbachs Geburt!) verstorbener deutscher Kaufmann gewesen, mal erzählte er, er habe einen "kollektiven Vater" gehabt, das "vor dem Zweiten Weltkrieg in Minsk Mazowiecki beheimatete 7. Regiment der Ulanen".

    Wie aber soll einer auch seinen Platz im Leben finden, wenn es keine verlässliche Angabe über die eigene Herkunft gibt, wenn selbst ungewiss ist, ob der Nachname der Mutter tatsächlich Himilsbach lautete. Auf der Suche nach seiner Identität probierte Jan Himilsbach Biografievarianten aus wie Schauspieler Rollen im Theater und bediente sich dabei zugleich eines perfekten Ablenkungsmanövers. Denn neben allem Vergnügen, das ihm diese kleinen Schwindeleien bereiteten, waren die zahllosen Geschichten, die über Jan Himilsbach bis heute kursieren, das perfekte Versteck für die Verletzungen eines Menschen, der zu früh hatte erwachsen werden müssen.

    In seinen wunderbar dichten Erzählungen jedoch, die nahe an der eigenen Biografie entlang geschrieben und nun in der ausgezeichneten Übersetzung von Martin Sander erschienen sind, lässt er uns ein in "Die Welt des Jan Himilsbach": die Kindheit in der untersten Unterschicht von Minsk Mazowiecki; der frühe Tod der Mutter 1942, als er gerade mal elf Jahre alt war; die Kriegsjahre als Vollwaise, ganz auf sich gestellt, als er jederzeit damit rechnen musste, als Straßenkind, Dieb und getaufter Jude ans Messer geliefert zu werden; später dann der Beruf des Steinmetz; die Arbeit als Heizer in der Binnenschifffahrt auf der Weichsel; die ersten Schritte als Schriftsteller, als ihm vom Warschauer Arbeitskreis für junge Autoren ein Stipendium für den Kauf von Socken, Schlafanzug und Hausschuhen zugesprochen wurde.

    Jan Himilsbachs Figuren sind wie er selbst: zähe, gewiefte Überlebenskünstler, rauhbeinige Gesellen mit sorgsam versteckter Warmherzigkeit, trockenem Humor und einem untrüglichen Gespür fürs Groteske, wie in der Erzählung "Zirkus", in der Jan Himilsbach von dem Pogrom berichtet, das 1936 im 40 Kilometer östlich von Warschau gelegenen Minsk Mazowiecki stattgefunden hat und auf das er erst ganz am Ende und fast beiläufig zu sprechen kommt, nach zwei beeindruckenden Schleifen, in denen er zunächst die allabendlichen Vorstellungen des gerade im Städtchen gastierenden Zirkus sowie den Aufmarsch der örtlichen Kavalleriedivision zur sonntäglichen Parade Punkt zwölf Uhr nach dem Hochamt auf dem Ringplatz eingehend beschreibt. Ursache des Pogroms ist bei Jan Himilsbach nicht die Politik, sondern eine unglückliche, tragikomische Verkettung von Umständen: Wären die Zirkusleute nicht "auf ein balkonartiges Gerüst über dem Zirkustor" geklettert, "um das seltene Schauspiel besser sehen zu können", und hätten sich ferner die sechs Zirkusliliputaner oben nicht so nahe wie möglich an die Balustrade gedrängt, wäre nichts passiert. Hätten sie durch ihre Unvorsichtigkeit nicht das Gerüst zum Einsturz gebracht, so dass alle Zirkusleute sich in einem laut schreienden Knäuel auf dem Kopfsteinpflaster des Ringplatzes wiederfanden, und hätte der Oberst diesen störenden Krawall nicht als Beleidigung seiner Truppe angesehen, wäre auch noch alles in Ordnung gewesen. So aber ritt der Oberst auf den riesigen Menschenkörper los, schlug mit der stumpfen Seite seines Säbels auf die Menge ein, und am selben Abend lag bereits eine gewaltige Schlägerei in der Luft. Die Dinge nahmen ihren Lauf.

    Jan Himilsbach hat ein sicheres Gespür fürs Groteske, Absurde, Spießige, und vor allem: Er machte sich nichts vor über die Natur des Menschen. Als Kind hat er mehr als einmal in die Abgründe des Irdischen geblickt - denn er selbst hätte sehr wohl jener einsame hungrige jüdische Junge aus der Erzählung "Unsere Straße" sein können, den die Menge ungerührt wie einen räudigen Hund zum Abschuss durch die Polizei freigibt.

    Berühmt wurde Jan Himilsbach durch das Kino, durch die Auftritte, die der charismatische polnische Spencer Tracy mit der markanten Reibeisenstimme als Laienschauspieler in 69 Filmen hatte. Berühmt war er auch durch die bunte Gesellschaft aus Ganoven, Nutten und Künstlerboheme, in der er sich bewegte, durch sein Leben außerhalb der sozialistischen Kollektivgesellschaft, durch die vielen Geschichten, die über seine Alkoholeskapaden im Umlauf waren. Die Menschen liebten ihn, weil er stets seinem Charakter treu blieb und sich nicht verbiegen ließ, weil er von ganz unten kam, ein Star war und doch nie einen Zloty in der Tasche hatte. Der Erzähler Jan Himilsbach ist über den großen Erfolg im Kino und seinen frühen Tod 1988 ein wenig ins Hintertreffen geraten. Zu Unrecht. Jan Himilsbach ist ein Meister des ersten Satzes. Er hat eine unnachahmliche Sprache voller Selbstironie und überraschender, neuer Ausdrucksweisen. Und seine Erzählungen sind von jener schwer zu erreichenden Einfachheit, die voller Tiefe und Erkenntnis über das Leben steckt.

    Hätte Jan Himilsbach nur die Erzählung "Jüdisches Duell" hinterlassen, in der er ungeschützt die Essenz des eigenen Daseins vor uns ausbreitet, er wäre allein schon deshalb wert, als großartiger Erzähler entdeckt zu werden - ganz abgesehen davon, dass Jan Himilsbach in dieser Geschichte die Wahrheit über sich und sein Leben versteckt hat.