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Getrennter Schulunterricht
Orbán will Entschädigung für Roma-Kinder verhindern

Getrennte Klassen, keine Teilnahme an Ausflügen und am Schwimmunterricht. Jahrelang wurden Roma-Kinder an einer Schule in Ungarn diskriminiert, bis ein Gericht ihnen Entschädigung zusprach. Doch Ministerpräsident Viktor Orbán will das verhindern.

Von Clemens Verenkotte | 06.03.2020
Demonstranten gegen die Diskriminierung von Roma am 23.02.2020 in Budapest.
Demonstranten gegen die Diskriminierung von Roma am 23.02.2020 in Budapest. (imago/Martin Fejer)
Budapest, 23. Februar – Tausende von Menschen ziehen durch die Innenstadt, demonstrieren vor dem Obersten Gerichtshof und dem Parlament gegen die Diskriminierung von Roma: "Ein Ungarn - wir gehören hierher! Alle zusammen! Ein Ungarn, wir gehören hierher", skandieren sie. Die Regierung müsse Gerichtsurteile, die zugunsten der Roma ausfallen, respektieren.
Gyöngyöspata, eine Kleinstadt, eine Autostunde nordöstlich von Budapest entfernt. Rund 2.500 Menschen leben hier, circa 20 Prozent gehören der Roma-Minderheit an. Unterhalb der historischen Dorfkirche zur Heiligen Jungfrau Maria liegt die Grund- und Hauptschule. Bis zur Pensionierung des alten Direktors im Jahr 2017 wurden hier Roma-Kinder von den übrigen Schulkindern getrennt. Die 21-jährige ehemalige Schülerin Nicolett erinnert sich: "Wir waren unten, im Erdgeschoss. Sie, die ungarischen Kinder waren oben, im ersten Stockwerk. Sie haben getrennte Jahrgänge für die Klassen 1, 2 und 3 gehabt."
Roma-Kinder wurden systematisch von anderen Kindern getrennt
Eine richtige Schulausbildung habe sie nicht erhalten. Systematisch seien sie und die übrigen Roma-Kinder von "normalen" Schülern getrennt worden: "Wir haben Mittagessen in einem getrennten Raum bekommen. Wir durften nicht ins Schwimmbad gehen. Wir duften nicht an Ausflügen oder Auftritten teilnehmen."
Schon 2012 hatte das Landgericht Eger zugunsten der Kinder geurteilt: In Gyöngyöspata seien die Roma-Kinder rechtswidrig von den anderen Schulkindern getrennt worden. Die Stadt und die Schule gingen in Berufung und verloren, sieben Jahre später, auch diese Klage. Im Herbst 2019 gab das zuständige Bezirksgericht in Debrecen den 62 ehemalige Roma-Schüler recht: Die Roma hätten ihre ganze Schulzeit widerrechtlich in einer von den Nicht-Roma getrennten Schule verbringen müssen, sie hätten Unterricht auf niedrigerem Niveau erhalten und seien damit diskriminiert worden.
Orbán will Entschädigungszahlung an Roma verhindern
Den 62 ehemaligen Schülerinnen und Schülern stehe eine Entschädigungssumme in Höhe von insgesamt 100 Millionen Forint zu, umgerechnet rund 300.000 Euro. Das Geld könne ja wohl kaum ausgezahlt werden an Menschen, die dafür nicht gearbeitet hätten, kündigte Ministerpräsident Viktor Orbán Anfang Januar dieses Jahres auf einer Pressekonferenz für die Auslandspresse an: "Ich bin kein Einwohner von Gyöngyöspata. Aber wenn ich dort leben würde, würde ich mich fragen: Wie ist das denn eigentlich? Dass eine Gemeinde, die mit mir im selben Dorf lebt, zu einer bestimmten ethnischen Gruppe gehört, eine erhebliche Summe bekommt, ohne jegliche Arbeit."
"Wir fanden das ungerecht und empörend, dass er das vor dem obersten Gerichtshof überprüfen möchte," sagt die ehemalige Schülerin Nicolett. Gegen das Urteil des Bezirksgerichts ist die Kleinstadt Gyöngyöspata vor den Obersten Gerichtshof in Budapest gezogen, das Urteil wird im April erwartet. Die Stimmung im Dorf sei äußerst angespannt – sie, sagt Nicolett, und ihr Freund würden beschimpft: "Zum Beispiel, wenn wir ins Geschäft gehen, wurde ich einmal schon angegriffen und gefragt: Warum ich auf der Demonstration ein Gedicht zitiert habe. Oder mein Partner wurde von zwei alten Frau angebrüllt: Was er sich denn einbildet und dass die stinkenden Roma Geld kriegen."
Bürgerbefragung zum Gerichtsurteil geplant
Géza Csemer, der Präsident der Roma Selbstverwaltung in Gyöngyöspata, erhielt anonymen Morddrohungen: Man werde ihm und den anderen zudem das Haus über dem Kopf anzünden. Dass es so weit gekommen sei, habe auch mit Orbáns Nein zum Gerichtsurteil zu tun: "Meiner Meinung nach ist es eine große Schande für das ganze Land. Wir haben es im Jahr 2020 erlebt, dass man Angst haben muss, obwohl in einem Rechtsstaat es die Entscheidung des Gerichtshofes gibt. Der Gerichtshof hat sein Urteil gefällt und die Leute haben jetzt Angst, das Geld anzunehmen."
Die Orbán-Regierung lässt am 15. März "nationale Konsultationen" durchführen, eine nicht verbindliche Befragung per Briefpost an alle Wählerinnen und Wähler, auch zu Gyöngyöspata. Denn das Urteil habe, Zitat "das Rechtsempfinden der Bürger" verletzt.