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Getroffene Slowakei (5/5)
Ansichten einer Anständigen

Iveta Radicova ist Soziologie-Professorin und war für zwei Jahre Premierministerin der Slowakei. Eine Frau ohne Skandale, die als Hoffnungsträgerin galt, sich aber nicht durchsetzen konnte. Heute arbeitet sie wieder an der Uni und versucht, die Gesellschaft von der anderen Seite aus zu verbessern.

Von Kilian Kirchgeßner | 14.09.2018
    Die Soziologie-Professorin und ehemalige slowakische Premierministerin Iveta Radicova in ihrem Büro an der Uni in Bratislava
    Die Soziologie-Professorin und ehemalige slowakische Premierministerin Iveta Radicova bekommt viel Post von Bürgern, die sie zur Rückkehr in die Politik auffordern (Deutschlandradio/ Kilian Kirchgeßner)
    Die Wände im Foyer der Universität sind von oben bis unten beklebt. Iveta Radicova zeigt auf die Papierbögen, die hier einer neben dem anderen hängen:
    "Das ist eine Aktion unserer Studenten. Sie sprachen mich an mit der Idee, eine komplette Ausstellung aller Texte zu veranstalten, die Jan Kuciak veröffentlicht hat. Dazu kommen Fotos von allen Aktionen, die zu seinen Ehren stattfinden. Ich habe den Eindruck, dass die Geschehnisse die Studenten verändert haben: Sie sind reifer geworden, von einem Tag auf den anderen."
    Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Getroffene Slowakei - Ein Land kämpft für mehr Anstand" in der Sendung "Gesichter Europas".
    Nicht der Hauch eines Verdachts von unsauberen Geschäften
    Iveta Radicova geht vor in ihr Büro, ein paar Flure weiter. Hier an der Universität ist sie in ihrem Element – endlich wieder: Von 2010 bis 2012 war sie, die Soziologie-Professorin, slowakische Premierministerin und Chefin einer konservativen Partei. Sie gilt als Sauberfrau: Nicht der Hauch eines Verdachts von unsauberen Geschäften umgibt sie. Trotzdem: Kommt man als Spitzenpolitiker automatisch in Versuchung, sich bestechen zu lassen, wie es die Enthüllungen nach dem Mord an Jan Kuciak nahelegen? Iveta Radicova schüttelt entschieden den Kopf:
    "Ich habe damit keine persönlichen Erfahrungen. Aber sehr verbreitet ist die sogenannte kleine Korruption im Schulwesen, im Gesundheitswesen. Wer beim Arzt eine bessere Pflege will, ist überzeugt, dass er lieber ein Trinkgeld geben sollte. Warum sollten wir denken, dass es solche Erwägungen nicht auch in der Politik gibt? Schon Hannah Arendt schrieb ja vor langer Zeit: Die zweite Seite der Demokratie ist die Korruption."
    Die frühere slowakische Ministerpräsidentin Iveta Radicova und ihr Nachfolger Roberto Fico
    Die frühere slowakische Ministerpräsidentin Iveta Radicova und ihr Nachfolger Roberto Fico (AFP/ Samuel Kubani)
    "Die Slowakei ist schon länger orientierungslos"
    Es ist die Soziologie-Professorin, die hier spricht, nicht die frühere Politikerin: Iveta Radicova, eine elegante Dame von 62 Jahren mit schulterlangen, blonden Haaren, redet ungern über ihre eigenen Erfahrungen an der Spitze des Staates. Lieber analysiert sie die Situation mit akademischer Schärfe:
    "Die Slowakei ist schon länger orientierungslos. Es gibt eine radikale Rhetorik in der Politik, ein hohes Maß an Populismus, viele Lügen. Dazu kommt ein arroganter Politikstil. Und schließlich erzielt die Slowakei sehr vorteilhafte makroökonomische Ergebnisse, die aber keinen Niederschlag im Alltag finden. Der Graben vergrößert sich, das Armutsrisiko für Kinder ist sogar gewachsen; auch die regionalen Unterschiede werden größer. In dieser problematischen Lage passierte der Mord an dem Journalisten, es kommen immer neue Korruptionsskandale ans Licht, und die Menschen gehen auf die Straße mit der klaren Aussage: Es ist genug! Es ist endlich genug!"
    Gespaltene Gesellschaft
    Die regierenden Sozialdemokraten, denen viele der Skandale angelastet werden, haben in Umfragen indes nur wenige Prozentpunkte verloren – und zu den Gewinnern zählen ausgerechnet zwei Rechts-Außen-Parteien. Das liege auch daran, dass durch die sozialen Medien eine atomisierte Gesellschaft entstehe, deren Gruppierungen nicht mehr miteinander debattierten.
    Die politischen Parteien in der Slowakei, analysiert Radicova, setzten dem nichts entgegen:
    "Sie reflektieren nicht ausreichend, was ihnen die Wähler mitteilen: dass sie genug haben von diesem Stil der Politik mit den ewigen Tiefschlägen wie im Boxring. Aber gleichzeitig hat jede Partei ihre festen Unterstützer mit einer eigenen kollektiven Identität, und die reichen ihnen dazu aus, ins Parlament einzuziehen. Klar hätten sie gern mehr Prozente bei den Wahlen, aber die Spaltung der Gesellschaft nehmen sie als Status Quo wahr und versuchen nicht, die Grenzen hin zu anderen Wählern zu überschreiten."
    Kein Interessen an Rückkehr in die Politik
    Sie selbst ist mit ihrer Regierung an solchen Partikularinteressen gescheitert: Ein kleiner Koalitionspartner wandte sich in einer entscheidenden Abstimmung aus taktischen Gründen von ihr ab. Resigniert kehrte Iveta Radicova der Politik den Rücken – trotz der Unterstützung vieler Slowaken. Sie lächelt kurz:
    "Einmal kam eine ältere Dame zu mir und hat mir ein Stück Speck und getrocknete Kräuter in die Hand gedrückt, aus denen ich mir einen Tee kochen sollte. Mehr habe sie nicht zu Hause, sagte sie, aber zumindest auf diese Weise wolle sie sich um mich kümmern. Das werde ich nie vergessen."
    Und jetzt, wo die Slowakei in die Orientierungslosigkeit gestürzt ist, gingen bei ihr am laufenden Band Mails von Bürgern ein, die sie zu einer Rückkehr in die Politik aufforderten. Endlich müssten die Anständigen wieder das Ruder übernehmen, heißt es darin. Selbst als Präsidentschaftskandidatin für die Wahlen im kommenden Jahr wird sie gehandelt. Aber Iveta Radicova schüttelt den Kopf:
    "In der Spitzenpolitik herrscht ein Politikstil, in dem ich mich nicht wiederfinde. Und ich will mich dem nicht anpassen. Klar: Wenn das alle sagen würden, dann reproduziert sich dieser Stil immer weiter. Aber ich bin überzeugt davon, dass ich meinen Teil der Demokratisierungsgeschichte geschrieben habe. Jetzt ist höchste Zeit, dass ihn eine neue Generation schreibt."
    "Reiches Land mit armen Menschen"
    Und eins, sagt sie, dürfe man auf keinen Fall vergessen:
    "Wenn uns in den 27 Jahren seit der politischen Wende nichts Gutes gelungen wäre, wären wir nicht Teil der EU, der Nato, der Eurozone, der OSZE und so weiter. Die Slowakei hat einen gewaltigen Sprung gemacht, einen gewaltigen! Vergessen wir nicht, dass die Visegrad-Staaten noch 1989 zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt gehörten. Und sie sind in die oberen 25 Prozent gesprungen! Aber ich füge hinzu: Wir sind in der Situation eines reichen Landes mit armen Menschen. Ich bin überzeugt: Wenn ein Politiker kommt, der daran etwas ändern kann, dann wird er auch gewählt."