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Gewalt am See

Wie in einer Versuchsanordnung untersucht der Autor Martin Gülich in "Septemberleuchten", wie sich Gewalt unter bestimmten Vorzeichen verselbstständigen und eine fatale Eigendynamik entwickeln kann.

Von Claus Lüpkes | 30.12.2009
    Es war schön an diesem Tag, an diesem Samstag, wie sich Kron erinnert, traumhaft schön:

    Das Licht. Im Grunde genommen sei es das, woran er sich zuerst erinnere. Das Licht über dem See, wie man es nur im späten September erlebt, wenn die Sommerhitze bereits von den Tagen abgefallen ist und alles trotzdem noch immer diese Wärme in sich trägt. Die Wiesen, der Ufersand, das verfärbte Laub der Buchen und eben dieses Licht, das keinen Raum für Zweifel lässt. "Septemberleuchten" habe seine Mutter es genannt, und er habe nie ein passenderes Wort dafür gefunden.

    Und weil es an diesem Tag so schön ist, war Kron bereits am Vormittag raus an den See gefahren, um dieses herbstliche Licht zu genießen.

    Nichts Besonderes habe sich dort ereignet. Er habe den See auf dem Uferweg einmal umrundet, habe anschließend noch eine Viertelstunde auf dem Steg gesessen und sei dann wieder zurück in die Stadt gefahren.

    In der Stadt begegnet er, wie er weiter zu Protokoll gibt, zwei alten Bekannten: Vanek und Gerland, die ihn zum Grillen an eben diesem See überreden, ja: nötigen.

    Im Schlepptau haben die beiden einen fremden Mann, der ihnen ausgeliefert scheint und der schnell zum Objekt ihrer psychischen und bald auch physischen Gewalt wird. Einer Gewalt, an der sich draußen am See im Verlaufe des Abends dann auch Kron beteiligt.

    So nimmt in dieser Nacht nach und nach das Unheil seinen Lauf. Minutiös schildert Martin Gülich in "Septemberleuchten" die Geschehnisse dieses gemeinsamen Abends an einem eigentlich idyllischen Plätzchen, schildert, wie die gesellige und bierseelige in eine bedrohliche Stimmung umschlägt.

    Und wie schnell sich sogar in dieser kleinen Gruppe Hierarchien bilden und Abhängigkeiten entstehen, wie nach ganz alten archaischen Mustern ein Sündenbock gesucht wird für Schuldabwehr und Aggressionsabfuhr, wie die Gewalt eskaliert, von ersten Abhängigkeiten über Demütigungen und grausame Machtspiele bis hin zu blutiger Brutalität.

    Und zwar bis zum bitteren Ende ganz ohne ersichtlichen Grund.

    Zentrales Thema dieses Romans ist also die Gewalt, die Gülich eigentlich ganz fremd ist. Umso erstaunlicher, wie nachhaltig sie ihn beschäftigt: Schon 2005 hatte er - als Stadtschreiber in Rottweil - ein Bühnenstück darüber geschrieben:

    "Ich denke, der Ursprung ist einfach die eigene persönliche große Angst vor Gewalt, die ich versuche eben auch in diesen Texten zu bearbeiten."

    Wie so oft in Literatur und Kunst sind also auch hier eigene innere Konflikte ein Antrieb zum Schreiben gewesen:

    "Die Gewalt, die hier passiert, an diesem See, ist ja erst mal weitestgehend unbegründet. Sie kommt aus dem Nichts, und das ist ein Aspekt, der mich sehr interessiert hat an dem Text. Eine Gewalt, die mir mehr Angst noch macht als jede andere Gewalt, also eine Gewalt, die jederzeit über mich hereinbrechen kann. Wenn ich jemand ärgere oder was und der schlägt mich danach, kann ich das in irgendeiner Weise nachvollziehen, das hat eine gewisse innere Schlüssigkeit, während diese Gewalt, die völlig aus dem Nichts kommt, noch mal eine beängstigendere Dimension hat."

    Mit Kron zeichnet Martin Gülich einen Protagonisten, der zwischen Selbstmitleid und tumbem Egoismus schwankt, zwischen Feigheit und kindischer Eitelkeit, zwischen Gleichgültigkeit und Sentimentalität.

    Ein labiler Charakter, der keinerlei Reue zeigt und nur Mitläufer gewesen sein will, der sich zum Mitmachen geradezu gezwungen sah und das Opfer noch nachträglich zum Täter machen möchte.

    Erschrocken hat Gülich, wie leicht es ihm fiel, diesem Kron trotzdem zu folgen:

    "Die Erfahrung war beim Schreiben, dass es erstaunlich leicht geht. Also ich musste mich nicht zwingen dazu, und das, obwohl ich ein – das ist natürlich immer schwer, das über sich selbst zu sagen – aber ein sehr friedliebender Mensch bin und körperliche Gewalt nie ausgeübt habe in meinem Leben, nicht einmal als Junge in Schlägereien oder Raufereien: Ich kenne diese Erfahrung gar nicht. Und das war eine überraschende, ein Stück weit auch erschreckende Erfahrung, wie leicht das letztlich gelingt, sich in diese Person hineinzuversetzen und im Schreiben quasi mit zu tun."

    Zumal die Rollen in dieser Nacht nicht immer klar verteilt zu sein scheinen, wie Kron beteuert: Zumindest sieht er sich in seiner Angst und in seiner Hilflosigkeit der Hierarchie in der Gruppe ausgeliefert und fügt sich ihr deshalb immer wieder in den unterschiedlichsten Situationen.
    Wie in einer Versuchsanordnung untersucht Gülich in "Septemberleuchten", wie sich Gewalt unter bestimmten Vorzeichen verselbstständigen und eine fatale Eigendynamik entwickeln kann:

    "Natürlich ist die Gruppendynamik sehr wesentlich in dem Buch. Sehr schnell wird klar, wer das Opfer ist, aber es gibt innerhalb der Geschichte auch Verschiebungen, dass der Status sich auch vorübergehend verändert von dem Mann. Und Kron hat Angst, in diese Rolle selber reingedrängt zu werden. Und dass er mitmacht, hat auch ganz wesentlich damit zu tun, dass er Angst hat, wenn er nicht mitmacht, dass er selber zum Opfer wird. Die ganze Konstellation ist sehr labil und Kron versteht auch – oder meint zu verstehen - , dass das sehr sehr schnell kippen kann, und dass es nicht zuletzt auch seinen Antriebsfeder, sich einzuordnen in diese Struktur der Gewalt, die sich dort am See etabliert."

    Ort des Geschehens ist ein idyllischer See in einem Wald außerhalb der Stadt: Natur pur, möchte man meinen. Und tatsächlich sind alle vier bei ihrer Ankunft am späten Nachmittag ergriffen von dem Licht über diesem See, dem "Septemberleuchten".

    Dann aber schlägt die romantische, ja: andächtige Stimmung schnell um
    in zunehmende Aggression. Die Natur, einst Inbegriff der Unschuld, wird hier zum Schauplatz offener Gewalt. Ohne dass Gülich den See gleich als einen solchen Schauplatz vorgesehen hatte:

    "Häufig ist es ja gar nicht so, dass man beim Schreiben denkt, oh: Jetzt nehme ich als Ort den See, und dass das vorher durchdacht ist, sondern der Text sucht sich auch seine Orte. Aber er sucht sie sich natürlich nicht in einer Beliebigkeit. Und ich glaube, die Ambivalenz, die der Ort 'See' anbietet, die hat hier ne bestimmte Funktion auch in diesem Text."

    Auf ähnliche Weise ergab sich für Martin Gülich das Protokoll als Stilmittel dieses Romans. Eine Form, die auch die mündliche Erzählweise meint:

    "Und das Protokoll, was auch natürlich so was wie eine Beichte ist, und diese Verknüpfung glaube ich war das Entscheidende, warum ich zu dieser Form gefunden habe."

    Mit "Septemberleuchten" hat Gülich jetzt seinen 5fünften Roman vorgelegt. Mittlerweile werden seine Bücher in immerhin insgesamt zehn Sprachen übersetzt. Diese Lizenzvergaben bedeuten für jeden Autor natürlich zuerst einmal eine literarische Anerkennung seiner manchmal mühsamen und oft einsamen Arbeit. Zugleich sind sie eben immer auch ein kleines Zubrot:

    "Natürlich verdient man da als Autor auch immer mit, und das ist auch eben ein Teil der Einkünfte, die letztlich diese Existenz sichern. Wobei das sehr unterschiedlich ist: Also es gibt einfach Länder, da sind die Lizenzgebühren sehr sehr gering. Die letzte Lizenz zum Beispiel, die verkauft wurde, ist Indien, da fließt ein sehr geringer Betrag."

    Der ist allerdings für Gülich keineswegs der entscheidende Aspekt dieser Lizenzen:

    "Auf der anderen Seite ist für mich egal, in welches Land und welche Sprache das übersetzt wird und egal, wie lukrativ das letztlich für mich ist: Jede Übersetzung ist erst mal eine große Freude, als dass das, was ich geschrieben habe, auf einmal in einer anderen Sprache, in einem völlig anderen Kulturkreis wie zum Beispiel Indien gelesen wird, darüber freue ich mich jedes Mal aufs Neue, und diese Freude ist ziemlich unabhängig davon, wie viel Geld letztlich damit verdient ist."

    Jetzt jedenfalls ruft wieder der sogenannte "Literaturbetrieb" mit den üblichen Lesungen und Reisen übers Land, in eigener Sache. Die möchte Martin Gülich allerdings nicht missen:

    "Das ist natürlich auch für einen Autor was sehr Wesentliches: zum einen, ganz schnöde, ist es eine Einnahmequelle: Also man verdient natürlich über diese Lesungen, aber es ist natürlich auch die Möglichkeit, direkt mit einem Publikum, was man sonst ja nicht kennt, in Kontakt zu kommen und auch ins Gespräch über das Geschriebene zu kommen."

    Zumal bei einem Roman wie "Septemberleuchten", der eine Menge Gesprächsstoff bietet über Gewalt und Gewissen, Gleichgültigkeit und Verantwortung, über Schuld ohne Scham und ohne Reue.

    Martin Gülich: "Septemberleuchten". Nagel & Kimche Verlag, Zürich