Freitag, 19. April 2024

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Gewalt gegen Politiker
"Natürlich muss man radikale Parteien verantwortlich machen"

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth ruft nach dem Mord an der britischen Abgeordneten Jo Cox dazu auf, Prävention und Deeskalation voranzutreiben. Radikale Parteien, die aufhetzten und ausgrenzten, müssten zur Verantwortung gezogen werden. "Wenn sich heute FPÖ, Front National und AfD treffen, kann einem nur angst und bange werden", sagte Roth im DLF.

Claudia Roth im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.06.2016
    Claudia Roth beim Kleinen Parteitag der Grünen in Bayern.
    Die stellvertretende Bundestagspräsidentin und frühere Grünen-Vorsitzende, Claudia Roth. (Archiv) (picture alliance / dpa / Andreas Gebert)
    Das Massaker von Orlando, der Mord an der britischen Abgeordneten Jo Cox, der Angriff auf die damalige Kandidatin und heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker: "Es wird immer enthemmter, immer entgrenzter", sagte Claudia Roth zu den aktuellen Fällen von Gewalt und Hass. Für die Verrohung der Gesellschaft trügen auch radikale Parteien Verantwortung. "Es kann nicht sein, dass politische Auseinandersetzungen zu einer solchen Mobilisierung von gewalttätiger Stimmung führen", führte die Grünen-Politikerin aus. "Da müssen wir uns alle überlegen, wie wir Prävention und Deeskalation vorantreiben können."
    In Bezug auf ein Treffen rechtspopulistischer Parteien heute in Wien, darunter auch Front National und AfD, forderte die Bundestags-Vizepräsidentin eine klare Linie demokratischer Parteien: "Dann müssen sie ganz klare Linie zeigen gegen die Gewalt gegen Minderheiten, zum Schutz von Minderheiten und zu einem Bewusstsein, dass wir in Europa zusammenhalten müssen und nicht uns gegenseitig mit Gewalt überziehen dürfen."

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Eine linke Abgeordnete stirbt in Nordengland, wird auf offener Straße erstochen und erschossen, und das eine Woche vor dem EU-Referendum in Großbritannien. Ratlos, hilflos, geschockt.
    Am Telefon begrüße ich Claudia Roth von den Grünen. Sie ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Guten Morgen, Frau Roth!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen.
    Dobovisek: Sie sind gerade zu Gast in Paris bei einem trinationalen Treffen der Parlamentspräsidien Frankreichs, Polens und Deutschlands, waren auch gestern in einer gemeinsamen Sitzung, als die Nachricht vom Tode Jo Coxs kam. Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?
    "Ein schreckliches Verbrechen an einer tollen Abgeordneten"
    Roth: Wir waren natürlich alle wirklich richtig entsetzt, als wir von dem Angriff gehört haben. Es war wirklich genau zu dem Zeitpunkt, als wir in diesem Trilog - das ist sozusagen das Weimarer Dreieck Frankreich, Polen, Deutschland auf parlamentarischer Präsidienebene -, als wir über die Folgen eines möglichen Brexits gesprochen haben. Natürlich haben wir dann auch in Trauer gedacht, als wir vom Tod gehört haben. Es ist fürchterlich, wenn dann Gewalt so nahe kommt, und es ist ein schreckliches Verbrechen gewesen an einer ganz tollen Abgeordneten.
    Dobovisek: Was leiten Sie aus dieser Gewalt gegen Politiker ab?
    Roth: Ja, dass es immer enthemmter, immer entgrenzter wird. Wir reden ja viel über Gewalt im Internet, Gewaltaufrufe, Hassaufrufe, Hass, dem wir auch begegnet sind nach dem schrecklichen Anschlag in Orlando. Es war furchtbar, was sich da im Internet an Gewaltfantasien breitgemacht hat, und bisweilen geht diese Gewalt dann auch tatsächlich auf physische Gewalt über. Wir haben es ja auch erlebt, dass damals die heutige Oberbürgermeisterin von Köln, Frau Reker, angegriffen worden ist, und sie hatte unglaublich viel Glück, dass sie diesen Angriff überlebt hat. Nicht so die Labour-Abgeordnete. Aber es kann nicht sein, dass politische Auseinandersetzungen, ohne jetzt genau den Hintergrund zu kennen des Anschlags auf die britische Labour-Abgeordnete, dass politische Auseinandersetzungen zu einer solchen Mobilisierung von gewalttätiger Stimmung führen. Da müssen wir uns alle überlegen, wie wir Prävention und Deeskalation vorantreiben können.
    Dobovisek: Ist ja auch insgesamt kein ganz neues Phänomen. Anschläge auch auf Politiker gab es immer wieder. Jetzt beobachten wir eine zunehmende Radikalisierung, vielleicht auch eine Verrohung der Gesellschaft, auch mit Blick auf diese Woche bei der Fußball-Europameisterschaft, die Konflikte zwischen Fans, die ausarteten, die in wirklich hemmungslose Gewalt umschlugen. Sie waren gestern auch beim Spiel Deutschland gegen Polen im Stadion, gemeinsam mit Ihren Parlamentspräsidien-Kollegen. Wie empfinden Sie die Stimmung in Paris bei der Europameisterschaft, denn auch das Spiel Deutschland gegen Polen galt als sogenanntes Risikospiel?
    "Man hat das Gefühl, dass Frankreich eine verletzte Seele hat"
    Roth: Nach allem, was ich bisher weiß, war es ruhig um das Spiel. Es gab wohl keine Ausschreitungen rund um das Spiel. Aber natürlich gab es die Sorge, dass sich ähnliche Szenen wiederholen wie von den Hooligans, die nun alles, alles, aber auch wirklich alles andere sind als Fußballfans. Und es gibt wirklich hier in Frankreich bei den Menschen, die da sind oder die Fußballfreunde sind, ein schlimmes Entsetzen über das Auftreten der russischen Hooligans, die wirklich den Eindruck erweckt haben, als sei das alles sehr professionell organisiert, die wirklich offen als Nazis, als Rechtsextreme aufgetreten sind, die brutal Gewalt ausgeübt haben. Und was völlig verrückt ist, dass dann von russischer Regierungsseite, beispielsweise vom Außenminister nicht eine Entschuldigung kommt, oder ein Versprechen, dafür zu sorgen, dass solche Menschen nicht mehr ihr Unwesen treiben können, sondern dass man den französischen Botschafter einbestellt hat, dass man Frankreich kritisiert hat, wie Russen, russische Staatsbürger behandelt werden. Die Engländer, englische Hools haben sich daneben benommen, aber wir sollten sehr vorsichtig sein, dass wir unsere Nase gar nicht hochhalten, denn auch deutsche Alt- und Neonazis sind aufgetaucht mit der Reichskriegsfahne, mit Nazi-Symbolen, mit dem Hitler-Gruß. Ich habe einige Kollegen und Menschen gestern im Stadion getroffen, die gesagt haben, es war ihnen furchtbar peinlich, dass auch Deutsche so aufgetaucht sind. Insgesamt hat man das Gefühl, wie soll ich sagen, dass Frankreich tatsächlich eine verletzte Seele hat, dass die Anschläge gegen Charlie Hebdo oder vom 13. November ganz, ganz tief in der Seele eines Landes, einer Bevölkerung stecken, dass der Terror noch so nahe ist, und es war ein komisches Gefühl, in diesem Stadion zu sein, wo ja auch dieser Anschlag passiert ist. Man achtet ganz anders auf laute Geräusche, man ist nicht unbefangen, die Erinnerung kommt immer wieder nach, und es ist noch nicht, was ich erlebt habe, das große unbefangene Fußballfest, denn es gibt ja Einschränkungen, was Public Viewing angeht. Auf Terrassen beispielsweise von Restaurants darf man das gar nicht machen, es ist eingeschränkt worden aus Sicherheitsgründen.
    Dobovisek: Bleiben wir, Frau Roth, noch einen Moment bitte bei der Verrohung der Gesellschaft, um diesen Bogen wieder zu spannen, und auch bei der Verantwortung der Politik dafür. Wir sehen, es ist zunehmende Gewalt zu beobachten auch ohne politische Motive. Aber welche, sagen wir, Verantwortung trägt dabei die Politik oder vor allem radikale Parteien?
    "Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag ist ein wunderbares Werk der Aussöhnung"
    Roth: Ja, natürlich muss man radikale Parteien verantwortlich machen, die Stimmungen erzeugen, die aufhetzen, die gegen andere Wortgewalt ausüben, die ausgrenzen, die ausbürgern wollen. Und wenn sich heute FPÖ und Front National und AfD treffen, dann kann es einem wirklich nur Angst und Bange werden und dann müssen die demokratischen Parteien ganz klare Linie zeigen. Dann müssen sie ganz klare Linie zeigen gegen die Gewalt gegen Minderheiten, zum Schutz von Minderheiten und zu einem Bewusstsein, dass wir in Europa zusammenhalten müssen und nicht uns gegenseitig mit Gewalt überziehen dürfen.
    Dobovisek: Nun ist das ja heute auch insofern ein besonderer Tag, der 17. Juni, als dass 1991 der Nachbarschaftsvertrag zwischen Deutschland und Polen unterzeichnet wurde, seit gestern auch gefeiert wird auf höchster staatlicher Ebene mit Gegenbesuchen der beiden Präsidenten zum Beispiel, auch das sicherlich Thema bei Ihnen in Paris. Wenn wir über die Radikalisierung der Politik sprechen, über radikale Parteien, sehen Sie die nationalkonservative Regierung in Polen als Teil dieser Strömung?
    Roth: Nein, so würde ich das wirklich nicht sehen. Wir haben hier eine Bewegung, die muss uns wirklich sehr tief besorgen und fragen, woher kommt das eigentlich, wie können wir dafür beitragen, dass wir den Menschen wieder vermitteln, warum sie Europa überhaupt wollen sollen, was der Mehrwert ist von Freizügigkeit nicht nur von Kapital, Dienstleistung und Waren, sondern die Freizügigkeit von Personen, was die Grundrechte-Charta an Werten uns als Basis mitgibt, was 70 Jahre Frieden bedeutet. Und dieser deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag, der heute 25 Jahre alt wird, ist ja ein wunderbares Werk der Aussöhnung, die Freundschaft und die gute Nachbarschaft möglich macht.
    Dobovisek: Aber davon ist ja nicht mehr viel übrig, wenn wir uns die Politik Beata Szydlos angucken, gerade mit Blick auf zum Beispiel die Flüchtlingskrise und die Ressentiments, die gegenüber Migranten geschürt werden.
    "Wir dürfen Europa jetzt nicht weiter schlechtreden"
    Roth: Ja, und genau deswegen ist es wichtig, offen auszusprechen. Das haben wir gestern auch gemacht. Es gibt unterschiedliche Auffassungen mit der neuen polnischen Regierung und der Mehrheit in der Sejm, mit dessen Präsidium wir gestern diskutiert haben. Es gibt unterschiedliche Auffassungen, soll sich Europa zu einem stärkeren gemeinsamen Europa entwickeln oder zu einem Europa der Vaterländer zurückentwickeln. Aber Freundschaft und Vertrauen heißt, man kann sich auch kritisch auseinandersetzen. Ja, ich mache mir große Sorgen, dass dieses Europa wirklich in einer massiven Krise ist, wenn es das eigene Wertesystem nicht respektiert und nicht ernst nimmt und wenn man jetzt versucht, nicht mehr gerade in der Frage der Flüchtlingstragödie den Schutz für Flüchtlinge in den Vordergrund zu stellen, sondern den Schutz vor Flüchtlingen, indem man sich zu einer Festung aufbaut. Das war gestern ein heftiges Thema zwischen unseren drei Präsidien.
    Dobovisek: Ist Europa noch zu retten?
    Roth: Ja selbstverständlich! Wir müssen Europa, wir dürfen Europa jetzt nicht weiter schlechtreden oder sozusagen schon aufgeben, denn angesichts der großen globalen Herausforderungen, tatsächlich die Fluchttragödie, Kriege, Krisen, Gewalt, die Klimakatastrophe, die globale Ungerechtigkeit, brauchen wir ein starkes, ein starkes gemeinsames Europa und nicht das Auseinanderfleddern, und deswegen ist natürlich auch das, was in wenigen Tagen in Großbritannien passieren wird, ein wichtiger Schritt hin entweder zu weniger, oder zu mehr Europa.
    Dobovisek: Da müssen wir, Frau Roth, ja gar nicht so weit blicken. Da können wir allein in Ihrer Partei, den Grünen bleiben. Da gibt es nämlich Streit um die Anerkennung oder die, sagen wir mal, Bezeichnung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer. Es hätte zur Bewandtnis, dass man dort leichter Flüchtlinge, die keinen Asylstatus bekommen, abschieben kann. Ihr Parteifreund Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, in einer grün-schwarzen Regierung, möchte gerne zustimmen, der Rest der Partei sieht das anders. Die Abstimmung heute im Bundesrat wird verschoben, aber das ist ja nicht vom Tisch.
    "Staatsbürgerliche Verantwortung heißt, unsere Grundrechte zu schützen"
    Roth: Erstens sehe ich das bei den Grünen auch überhaupt nicht, dass wir da eine unterschiedliche Auffassung haben, ob Algerien, Marokko, Tunesien ein sicheres Herkunftsland sind. Wir wissen doch, dass Schwule und Lesben dort verfolgt werden, dass Frauenrechte nicht gewahrt werden, dass Minderheitenrechte nicht gewahrt werden, dass es die Pressefreiheit dort nicht gibt. Die Frage ist, wie geht man dann mit dem Vorschlag der Regierung um. Und das Problem sind nicht die Grünen. Wir haben gezeigt, was klare Haltung bedeutet. Wenn heute verschoben wird, dann hat das damit zu tun, dass sich die Union, dass sich die Koalition in eine Sackgasse manövriert hat und nicht verhandelt hat, nicht versucht hat, gemeinsam mit den Bundesländern auf eine Lösung hinzuarbeiten, dass im Gegenteil sogar wirklich ziemlich massiver Druck ausgeübt worden ist, wenn man den Grünen staatsbürgerliche Verantwortungslosigkeit vorwirft. Mit Verlaub: Staatsbürgerliche Verantwortung heißt, unsere Grundrechte zu schützen und sie nicht weiter auszuhöhlen.
    Dobovisek: Aber bei all dem Hin und Her kann ich schon verstehen, dass es Verwirrtheit gibt bei all denjenigen, die Sie oder andere Politiker wählen sollen, und dass dies zu Radikalisierung führt.
    Roth: Nein! Die Radikalisierung ist, dass wir sagen - Wir stehen gegen die Radikalisierung, indem wir sagen, es ist unsere Verantwortung, übrigens nicht zuletzt unsere historische Verantwortung, das Asylgrundrecht als individuelles Grundrecht zu schützen. Es macht uns nicht schwach, es bedroht uns nicht, sondern es ist ein starkes Element unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung. Ja, wir brauchen beschleunigte Verfahren, aber das tue ich doch nicht, indem ich das Gesetz aushöhle, sondern indem ich die Strukturen ausbaue, mehr Personal zur Verfügung stelle. Ja, wir brauchen endlich, endlich ein Einwanderungsgesetz für die Arbeitsmigration. Es ist mir völlig unklar, warum die Regierung das nicht schon lange vorgelegt hat. Und wir brauchen nicht über Fluchtursachen reden und meinen, damit neue Mauern zu errichten, sondern Fluchtursachen heißt, wie sieht es mit der eigenen Mitverantwortung aus.
    Dobovisek: Fluchtursachen bekämpfen, das möchten Sie wahrscheinlich sagen. - Claudia Roth von den Grünen, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch heute Morgen.
    Roth: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.