Dienstag, 19. März 2024

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Gewalt in der Bibel
Gott ist der Hass

"Füllt seine Höfe mit Erschlagenen!","Ich will euch in den Ofen tun", "Wohl dem, der deine Kinder am Felsen zerschmettert" - Das Buch Ezechiel ist voll mit göttlichen Rachegedanken und Vernichtungsfantasien. Um das zu deuten, braucht man nicht nur Theologen, sondern auch Traumaexperten.

Von Michael Reitz | 14.02.2020
Die Söhne Zedekiahs werden vor dessen Augen getötet - Illustration einer Bibelszene von Gustave Doré
Das Alte Testament ist voll von Mord und Totschlag (imago / Ken Welsh)
"Euer Auge soll kein Mitleid zeigen, gewährt keine Schonung! Alt und jung, Mädchen, Kinder und Frauen sollt ihr erschlagen und umbringen. Beginnt in meinem Heiligtum! Macht den Tempel unrein, füllt seine Höfe mit Erschlagenen!"
Wer spricht hier? Ein antiker Feldherr? Ein fanatischer Gotteskrieger? Ein wahnsinniger Amokläufer? Es ist kein Mensch, der diese blutrünstige Rede führt - es ist Gott selbst, der die wenigen Gerechten in Jerusalem zum Massenmord an ihren Landsleuten aufstachelt. Erzählt wird diese unglaubliche Geschichte göttlichen Jähzorns im Buch des Propheten Ezechiel. Sie spielt sich im 6. Jahrhundert vor Christus ab. Der babylonische König Nebukadnezar hatte siegreich Krieg gegen das Königreich Juda geführt, Jerusalem erobert und einen neuen König eingesetzt. Doch der bricht zehn Jahre später den Treueeid. Daraufhin marschieren Nebukadnezars Soldaten erneut in Juda ein, erklärt der Paderborner Theologe Michael Konkel:
"Die babylonischen Truppen hatten im Jahre 587 die Stadt Jerusalem in Schutt und Asche gelegt, hatten den Tempel des Staatsgottes Jahwe zerstört und einen Großteil der Bevölkerung nach Babylon deportiert. Diese Erfahrung des Zusammenbruchs des gesamten kulturellen Orientierungssystems versucht das Buch Ezechiel literarisch zu verarbeiten."
"Wie ist es möglich, dass Gott uns nicht geschützt hat?"
Das Buch inszeniert sich dabei als Vorhersage der Katastrophe – das alles wird kommen. Geschrieben ist es allerdings erst nach dem zweiten Feldzug Nebukadnezars, der an Brutalität selbst in der Antike seinesgleichen sucht. Die babylonische Soldateska ging mit äußerster Grausamkeit vor: Kindern wurden vor den Augen ihrer Mütter die Gliedmaßen abgetrennt. Über mehrere Tage kam es auf den öffentlichen Plätzen Jerusalems zu organisierten Massenvergewaltigungen jüdischer Frauen. Für das Volk Jahwes war jeder Widerstand gegen die größte Kriegsmaschinerie der damaligen Zeit sinnlos. Doch nicht nur die militärische Niederlage war ein Desaster. Denn selbstverständlich tauchte die Frage auf:
"Wie ist es möglich, dass unser Gott uns nicht geschützt hat? Wie ist es möglich, dass offensichtlich dieser Gott nicht in der Lage war, Jerusalem und seine Stadt zu schützen, dass es zu Massendeportationen gekommen ist und Israel alles das verloren hat, was es eigentlich gedacht hätte, das es von seinem Gott geschenkt bekommen hatte? Und dies wird versucht, literarisch zu verarbeiten im Buch."
"Ich will euch in den Ofen tun"
Stellenweise geht es dabei im Buch Ezechiel ausgesprochen brutal zu. Doch merkwürdigerweise werden die babylonischen Gräueltaten dabei überhaupt nicht erwähnt. Es ist vielmehr der Gott des Hauses Israel, der hier als Herr des Gemetzels erscheint und nicht gerade als Vater, der seine schützende Hand über sein auserwähltes Volk hält. Im Gegenteil: Jerusalem soll nach dem Willen Jahwes zu einer gigantischen Hinrichtungsstätte werden:
"Wie man Silber, Kupfer, Eisen, Blei und Zinn im Schmelzofen zusammentut und darunter das Feuer anzündet, um alles zum Schmelzen zu bringen, so will ich euch in meinem Zorn und Grimm zusammentun, will euch in den Ofen tun und euch zum Schmelzen bringen. Ich tue euch alle zusammen hinein und lasse das Feuer meines Zorns gegen euch auflodern."
Gewalt und Gottesbild
Für den Innsbrucker Theologen und Gewaltforscher Wolfgang Palaver erzählen solche Passagen von Versuchen der Traumabewältigung. Von der Not der Menschen, mit dem eigentlich Unfassbaren umgehen zu müssen: Von Gott verlassen worden zu sein.
"Wie schaut mein Gottesbild in der Niederlage aus, in der Verzweiflung aus, wenn weder Macht da ist, noch militärischer Erfolg, noch Gewalt erfolgreich ist. Und da entwickelt sich eigentlich im jüdischen Denken ein Gottesbild, das für uns heute wichtig ist, das von Macht abgelöst ist, von üblichen menschlichen Gewaltvorstellungen abgelöst ist. Es kommt ein ganz anderes Gottesbild zum Vorschein. Ein Gottesbild, das dann eben auch hilft, wenn die weltlichen Belange völlig in der Katastrophe enden."
Dabei ist die Gewalterfahrung, von der im Buch des Propheten Ezechiel die Rede ist, keine Ausnahme. In der Antike, zumal im Nahen und Mittleren Osten, galt bei militärischen Auseinandersetzungen immer der Grundsatz, den Feind möglichst grausam zu bekämpfen und die Besiegten auf bestialische Art zu töten. Die brutale Konsequenz war, dass Vergebung und Versöhnung angesichts einer solchen Kriegsführung nahezu unmöglich waren. Stattdessen ging es immer wieder um Rache und Vergeltung. Welche Auswirkungen hatte das auf das Gottesbild? Welche Echos finden wir in der Bibel?
Markus Witte, Experte für die Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Berliner Humboldt-Universität, sagt dazu:
"Das Interessante an der alttestamentlichen Literatur ist das Phänomen, dass die Rache in das Handeln Gottes überführt wird. Das heißt, das sind Rachewünsche, die aber jetzt nicht vom einzelnen Menschen vollzogen wird, sondern die in das Handeln Gottes oder Anders-Handeln Gottes delegiert wird. Das minimiert nicht die Gewalt, aber zeigt doch, dass die Verfügung und die Verantwortung und die Kompetenz nicht aufseiten des Menschen, sondern aufseiten Gottes gesehen wird. Natürlich kann man dann das Gottesbild problematisieren und fragen, was ist das eigentlich für eine Vorstellung von Gott, die sich dort widerspiegelt. Da muss man auch wieder sagen, zum Gottesbild und zum Gottesverständnis des alten Orients gehört ein massives gewalttätiges Gottesbild."
Die Verantwortung für die Gräueltaten wird verschoben
Das Buch Ezechiel gilt als einer der verstörendsten Texte des Alten Testaments. Sein Ton schwankt zwischen tiefer Verzweiflung, Hoffnung und der Vision eines neuen Israel in einer gerechteren Welt. Diese Schwankungen hängen unter anderem damit zusammen, dass der Text über einen Zeitraum von nahezu vierhundert Jahren entstand. Ezechiel selbst, Sohn eines Priesters, geriet zwar schon nach dem ersten Eroberungszug in babylonische Gefangenschaft, hat aber die Zerstörung Jerusalems nicht persönlich miterlebt. In seinem Bericht erscheint Gott dabei zunächst als ein Wesen, das zutiefst enttäuscht von seinen Geschöpfen ist. Vor allem an seinen Auserwählten, dem Volk Israel, lässt er kein gutes Haar:
"Seine Priester vergewaltigen mein Gesetz, sie entweihen, was mir heilig ist. Zwischen heilig und nichtheilig machen sie keinen Unterschied. Darum schütte ich meinen Groll über sie aus. Ihr Verhalten lasse ich auf sie selbst zurückfallen – Spruch Gottes, des Herrn."
Ein Holzstich von Gustave Doré aus einer britischen Bibel aus dem Jahr 1866 zeigt Menschen, die sich verzweifelt vor der Sintflut zu retten versuchen
Wenn Gott zürnt, sind die Menschen häufig schuldbeladen (Imago / Photo12 / Ann Ronan)
Wie sind solche Tiraden zu erklären, die einem Volk entgegengeschleudert werden, das eine der grausamsten Erfahrungen machen musste, die einzelne Menschen und ganze Völker machen können – nämlich nicht nur von den Babyloniern erobert, sondern auch auf brutalste Weise gedemütigt zu werden? Für den Theologen Michael Konkel findet hier etwas statt, was man in der Psychologie als Verschiebung bezeichnet: dem Schrecken wird dergestalt begegnet, dass das Opfer die Schuld bei sich sucht.
"Das sieht man ganz deutlich in diesem Buch, dass das Buch im Grunde genommen durchzogen ist von diesem Grundgedanken der Schuld, die Israel auf sich geladen hat oder geladen haben soll, und deshalb dafür bestraft worden ist. Der Schlüssel für das Verständnis des Buches besteht darin, dass das Buch radikal theozentrisch denkt – Gott ist für alles verantwortlich. Gott ist der absolute Souverän. Und um an diesem Bild eines allmächtigen und auch eines gerechten Gottes festhalten zu können, führt dies dazu, dass die erlittene Gewalt in das Gottesbild hineinprojiziert wird. Gott selbst wird gewalttätig, und der Grund, warum er das tut, ist, weil sein Volk Schuld auf sich geladen hat."
"Wohl dem, der deine Kinder am Felsen zerschmettert"
Gottes Souveränität und Macht bestehen im Alten Testament in seiner Verfügungsgewalt über Leben und Tod. Und nicht nur das: Wenn sein Volk nicht auf ihn hören will, kann er sich mit dessen ärgstem politischen und militärischen Feind verbünden. Dabei darf jedoch eines nicht vergessen werden: es ist nicht Gott selbst, der hier spricht, sagt der Kölner Alttestamentler Markus Michel:
"Alle diese Texte sind menschliche Produktionen und natürlich alles Abbilder unserer menschlichen Erfahrungen. In diesem Sinne sind es nicht von Gott diktierte Bücher, die etwas über ihn selbst sagen. Insofern ist alles menschlich untergejubelt. Es ist alles menschliche Interpretation. Und es sind Interpretationen aus einer Zeit, mutmaßlich, wenn es historisch ist, des 6. Jahrhunderts, die eine für Israel, Juda, sehr gewalttätige Zeit ist."
Berühmt-berüchtigt ist in diesem Zusammenhang der Psalm 137. Er entstand teilweise im babylonischen Exil und hört sich für heutige Ohren wie die Hassrede eines Volksverhetzers an:
"An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Tochter Babel, du Zerstörerin! Wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert!"
Die Menschheitsgeschichte als Gewaltspirale
Es liegt auf der Hand, dass der einzige, der diese gewaltige Militärmaschinerie besiegen kann, Gott selber ist. Wird also Jahwe zum Kindermord aufgefordert? Michael Konkel, Experte für das Buch Ezechiel, versucht eine Antwort:
"Das legt man weg und denkt, o Gott, das kann doch nicht Gottes Wort sein. Dann sage ich immer – und das sage ich auch meinen Studierenden –: Verdammt nochmal, seid froh, dass ihr solche Texte nicht aus vollem Herzen beten könnt. Ein Christ in Syrien, der das Giftgas Assads erlebt hat, dem kann ich nicht verdenken, wenn er vielleicht auch mal einen solchen Psalm aus vollem Herzen heraus betet, um einfach wirklich das loszuwerden und sagen kann: Mein Gott ist ein Gott, der irgendwann in dieser Welt wieder Gerechtigkeit herstellen wird."
Doch was können uns heute noch Texte sagen, die vor mehr als zweitausend Jahren entstanden sind, die zum Teil fast fünfhundert Jahre vor Platon, Sokrates und Aristoteles geschrieben wurden? Vor allem erzählen sie uns etwas über uns selbst, meint der Theologe Michael Konkel:
"Das Besondere des Alten Testament ist es, dass die menschliche Gewalt, die zwischenmenschliche Gewalt, gnadenlos demaskiert. Es fängt schon an in der Genesis am Anfang an, nachdem Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden sind. Das Allererste, was geschieht, ist der Brudermord – Kain, der seinen Bruder Abel ermordet. Und dann ist die ganze weitere Geschichte der Menschheit die Eskalierung der Gewalt. Die Gewaltspirale, die sich immer weiter nach oben dreht. Diese Problematik haben wir heute genauso, wie wir sie vor 3.000 Jahren gehabt haben. Die Eskalierung der Gewalt in der Welt ist in keiner Weise eingedämmt."