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Gewalt in Tschetschenien nimmt zu

Boris Dieckow, Projektleiter der Hilfsorganisation Cap Anamur, wirft den westlichen Staaten vor, sich nicht für eine bessere Entwicklung in Tschetschenien einzusetzen. Die bisherigen Staatschefs Deutschlands seien mit der russischen Regierung "gut zurechtgekommen". Die von Russland "geduldete Diktatur", Tschetschenien, könne sich daher nur mittels eigener, ziviler Kräfte aus der momentanen Situation befreien.

Boris Dieckow im Gespräch mit Sandra Schulz | 30.07.2009
    Sandra Schulz: Es ist eine beunruhigende Entwicklung: In den russischen Teilrepubliken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan haben die Anschläge gegen die Staatsmacht, aber auch die Gewalt gegen Zivilisten in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen, politische Einschüchterungen inklusive.

    Ein Schlaglicht darauf hat Mitte Juli der Mord an der Menschenrechtlerin Natalia Estemirowa gesetzt, die in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny verschleppt wurde, bevor sie erschossen aufgefunden wurde. Und am vergangenen Wochenende kam es zu einem Bombenanschlag mit zahlreichen Toten in Grosny. Welche Perspektive gibt es überhaupt für Stabilität? Das wollen wir in den kommenden Minuten besprechen. Am Telefon begrüße ich Boris Dieckow, er ist Projektleiter der Hilfsorganisation Cap Anamur für Tschetschenien. Guten Morgen!

    Boris Dieckow: Schönen guten Morgen!

    Schulz: Herr Dieckow, Sie kommen ja gerade zurück aus Tschetschenien - mit welchen Eindrücken?

    Dieckow: Ja, da hat sich natürlich ... Es hat sich schon ungeheuer viel verändert, wenn man über die Jahre halt so guckt. Das ist kein aktiver Krieg mehr, der dort stattfindet, das ist so, das ist eine, ja, doch geduldete Diktatur, die dort existiert.

    Schulz: Den Fall Estemirowa habe ich gerade schon angesprochen. Welche Nachwirkungen hat der?

    Dieckow: Das spielt so in der tschetschenischen Öffentlichkeit kaum so eine Rolle, weil: Die Menschen richten sich ein und sie machen das, was sie seit vielen Jahren gemacht haben. Wer die Extreme dort nicht erfährt, der richtet sich ein, weil er irgendwie überleben will. Und das ist auch so, dass eigentlich alles dafür getan wird, dass die Menschen irgendwie versuchen können, das zu mögen.

    Schulz: Und welche politische Lesart stellt sich Ihnen dar?

    Dieckow: Das ist das Eigentliche … Da gibt es so zwei Geschichten. Also, das eine ist natürlich, dass die tschetschenische Regierung einfach eine Regierung von russischen Gnaden von Anfang an eigentlich war. Aber es ist schon so, dass die auf sehr eigenen Füßen auch steht, und dass die tschetschenischen Kräfte zum Beispiel auch mit dafür genutzt werden, gegen ... irgendwelche Kämpfe gegen irgendwelche Attentäter, wie auch immer, in Inguschetien zum Beispiel vorzugehen, was natürlich zu einer "Tschetschenisierung" dieses Konfliktes auch mitführt.

    Und die zweite Lesart ist eigentlich die, dass ich seit 15 Jahren ... da habe ich schon viele Bundesregierungen mittlerweile an mir vorbeischleichen sehen: In der Substanz hat noch nie eine Regierung wirklich interessiert, was dort stattfindet. Und die hatten dort immer freie Hand. Und das ist, glaube ich, das Schlimmste, dass über 100.000 Menschen umgebracht werden konnten und es eigentlich niemanden gestört hat, welcher Kanzler mit welchem Präsidenten in welcher Form auch immer befreundet ist, und das ist schon eine ziemlich traurige Angelegenheit.

    Schulz: Hat sich der Westen an die Gewalt gewöhnt?

    Dieckow: Der hat sich daran gewöhnt, das ist keine Nachricht mehr. Fragen Sie mal unser Kinderkrankenhaus, um das wir uns gekümmert haben, das ist mir erst 2000 in die Luft gesprengt worden. Das muss man sich mal vorstellen, viel abartiger geht es eigentlich nicht. Das interessiert eigentlich keinen so richtig, wie das ist. Ich glaube, wir haben uns sehr daran gewöhnt. Es ist weit weg und es gibt Dinge, die uns - aus welchen Gründen auch immer - viel wichtiger sind.

    Schulz: Ohne zynisch sein zu wollen - gibt es denn jemanden, der von dieser Instabilität profitiert?

    Dieckow: Ja, sicherlich jemand wie Kadyrow dort, dieser tschetschenische Präsident. Der baut sich wirklich so ein Kim-Il-Sung-Regime auf; also, die Poster, die dort in den Städten hängen, die sind ja wirklich nicht zu übersehen; hat andererseits natürlich auch ungeheuer viel gemacht mit Unterstützung der russischen Seite, die irgendwie doch erkannt hat, dass es vielleicht billiger ist, irgendwelche Häuser aufzubauen, Stadtzentren aufzubauen, als sie zu bombardieren.

    Schulz: Und vor diesem Hintergrund: Welche Perspektive sehen Sie überhaupt, die Gewalt in den Griff zu bekommen?

    Dieckow: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass die ganz großen Kräfte in Tschetschenien selber schon sehr kleingehalten sind, was das tschetschenische ... was das Widerstandspotenzial betrifft. Das sind viele Leute, die ja richtig gekauft wurden. In Sippenhaft sind Familien genommen worden, damit sich Kämpfer dort aus dem Widerstand in irgendeiner Form zurückziehen konnten, wobei das sicherlich mit dem Wort Kämpfer nicht zu ... Wissen Sie, da kämpfen Terroristen gegen Terroristen. Ich meine, da ist nicht viel zu erwarten.

    Schulz: Und was ist - wenn Sie das beobachten, Sie kennen das Land gut, seit 15 Jahren sind Sie da -, was ist für die Menschen das größere Problem: Ist es die Gewalt und die Angst - oder sind es einfach die Zustände, ist es die Armut?

    Dieckow: Ich persönlich habe in den letzten Aufenthalten eigentlich immer dieses Gefühl gewonnen, dass das Schlimmste eigentlich so diese moralische Verrohung einfach ist, die dort stattfindet. Die Leute können mit wenig auskommen und mussten das über viele Jahre, und irgendwie versucht man, zu überleben, und ich kann das auch verstehen. Wenn man so viel dort mit Krieg erlebt hat - was die Leute dort erlebt haben zum Teil ist ja ganz grausam, ganz schrecklich. Und wenn man natürlich das Gefühl hat, dass es eigentlich niemanden wirklich interessiert ... Schauen Sie, es standen auch vor zehn Jahren schon Frauen mit irgendwelchen Postern in der Hand, die nach ihren Kindern suchten, und in den letzten … seit zwei Jahren sind über 600 Menschen dort verschwunden, einfach verschwunden. Offiziell ist Tschetschenien russisches Territorium und das sind russische Staatsbürger, aber es passiert eigentlich nicht so richtig etwas.

    Schulz: Moralische Verrohung, das ist ja ein harsches Urteil. Können Sie das konkreter machen?

    Dieckow: Korruption in allen Bereichen. Man muss und kann sich vor allem auch wirklich alles erkaufen, alles. Denn wenn Sie durch die Stadt fahren … Das ist ja das Problem auch bei humanitärer Arbeit, dass Ihnen eigentlich ungeheurer Reichtum begegnet, der eigentlich ausreichen müsste, jegliche andere humanitäre Situation selber zu bekämpfen. Sie können sich im Stadtzentrum von Grosny eine Wohnung für 100.000 Euro kaufen. Und natürlich stehen 80 Prozent der Wohnungen leer, weil niemand dieses Geld hat. Aber es gibt auch genügend Leute, die dieses Geld haben. Und auf legalem Weg kann man so viel Geld eigentlich in Tschetschenien nicht erwerben.

    Schulz: Und Sie haben die Rolle des Westens gerade schon angesprochen. Was würden Sie denn erwarten?

    Dieckow: Ich erwarte von ... Wissen Sie, ich hätte ja Hoffnungen, aber erwarten tue ich da wirklich echt nichts. Wirklich, ich erwarte dort nichts, gar nichts. Wenn die Ermordung von so vielen Menschen kein Thema ist, warum das soll das jetzt ein Thema sein? Kohl war mit Jelzin befreundet, Schröder mit Putin und Angelika Merkel wird Medwedew irgendwie mögen - und dann kommen Sie alle gut zurecht.

    Das sind die Regierungen, das sind die Regierungen, die ich erlebt habe in den Jahren: In der Substanz war es eigentlich völlig egal, welches Parteibuch die hatte, und ich erwarte da wirklich nicht viel. Ich erwarte von den ganz normalen Menschen was, die zum Beispiel für so ein Krankenhaus einfach Geld geben und spenden, denen das einfach nicht egal ist. Ich glaube, das ist eher so das, was man erwarten kann vom normalen Bürger dabei, aber von der Regierung: Das, was man normalerweise erwarten würde, wird nicht passieren.

    Schulz: Wenn Ihre Erwartungen so gering sind, wie sind dann Ihre Hoffnungen, worauf lauten die?

    Dieckow: Es ist schwer zu sagen. Ich meine, unser Krankenhaus arbeitet und viele andere Dinge dort funktionieren auch. Die Menschen, die leben sich ein. Ich würde es für die Menschen dort vor Ort wünschen, dass es irgendwie ruhig bleibt, dass sie nicht noch mal Bombenangriffe erleben und dass sie irgendwie selber auch einen Weg finden, auch in Tschetschenien.

    Aber das wird, je länger es eben dauert und je länger man so eine kommode Diktatur dort irgendwie stützt und hält, wird das natürlich auch immer schwieriger. Aber von tschetschenischer Seite muss man wirklich sagen: Hilfe aus dem Ausland ist da, was das betrifft, nicht zu erwarten, Druck, der wirklich etwas bewirkt, ist auch nicht zu erwarten. Also müssen sie sich in irgendeiner Form, so wie durch Estemirowa, einfach Kräfte entwickeln, die dagegen aufstehen. Und das ist sehr, sehr schwer und auch sehr gefährlich, wie man ja gesehen hat.

    Schulz: Und das waren Einschätzungen und Informationen von Boris Dieckow. Er ist Projektleiter der Hilfsorganisation Cap Anamur für Tschetschenien. Haben Sie herzlichen Dank!

    Dieckow: Bitte schön!