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Gewalt und gestelzte Worten

Um sich vor einer tödlichen Epidemie zu schützen, beschließt die kleine Stadt Commonwealth, deren Bewohner sich einem gewaltlosen Leben verschrieben haben, keine Fremden einzulassen. Bei der Verteidigung der Stadt bricht die Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft jedoch zusammen. Der Roman "Die Stadt am Ende der Welt" des Amerikaners Thomas Mullen scheitert, trotz attraktiver Handlung, an umständlichen Beschreibungen und pauschalen Formulierungen.

Von Alain Claude Sulzer | 16.11.2007
    Der kleine Ort Commonwealth ist eine Erfindung des 34-jährigen Schriftstellers Thomas Mullen, aber nicht nur deshalb "keine Stadt im herkömmlichen Sinn". Commonwealth ist auf keiner Landkarte vermerkt, doch das Städtchen könnte sehr wohl dort existiert haben, wo Mullen es ansiedelt, irgendwo in den Wäldern des nordwestlichen US-Staats Washington zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie sein Name sagt, verdankt sich dessen Gründung der Idee, das Wohl für alle lasse sich auch diesseits aller Utopie schon in der rauhen Wirklichkeit realisieren. Commonwealth, so will es der Autor dieses in den USA hochgelobten Romanerstlings, wurde von einem Sägewerksbesitzer gegründet, der sich von seiner eigenen ausbeuterischen Familie abgewandt hat. Bei den Bewohnern "seiner" Stadt handelt es sich hauptsächlich um Männer und Frauen, die das historisch verbürgte Everett-Massaker von 1916 hautnah miterlebt haben; eine blutige Auseinandersetzung zwischen streikenden Sägewerksarbeitern - Mitgliedern der Industrial Workers of the world - und der Bürgerwehr der Stadt Everett, bei der nach offiziellen Angaben sieben Menschen, möglicherweise aber sehr viel mehr umkamen.

    Der Stadtgründer Charles Worthy und seine Frau Rebecca, deren körperlich leicht behinderter 16-jähriger Adoptivsohn Philipp sowie dessen älterer Freund Graham stehen im Mittelpunkt dieses groß angelegten und personenreichen, dennoch recht übersichtlichen Romans über ein außerhalb der Geschichtsbücher - fast - vergessenes Kapitel der amerikanischen Geschichte; kein Wunder, dass die Filmrechte bereits von Hollywood gekauft wurden; keine Frage, dass die filmische Verknappung eine Konzentration auf die wesentlichen Elemente der zwar gut recherchierten, aber immer wieder unkontrolliert ausufernde Vorlage mit sich bringen wird, eine Reduktion, die der Sache zweifellos guttun wird.

    Aber kehren wir zur Handlung zurück: Im April 1917 treten die USA in den Ersten Weltkrieg ein - und dies, obwohl sich Präsident Wilson bei seiner Wiederwahl 1916 ausdrücklich gegen eine Beteiligung - also für die Neutralität - ausgesprochen hatte. Der Kriegserklärung folgte 1918 - und möglicherweise wurde sie von manchen als Gottes Strafe oder Teufels Rache betrachtet - eine Grippeepidemie unvorstellbarer Ausmaßes. 100 Millionen Menschen fielen ihr weltweit zum Opfer.

    Mehr noch als die drohende Rekrutierung in einen Krieg, den zu kritisieren der amerikanische Kongreß unter Strafe gestellt hatte, ist es diese Epidemie, die die Handlung von Thomas Mullens fast 500-seitigen Roman bestimmt - streckenweise leider nur schleppend und umständlich. Wir befinden uns im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs in einem Gemeinwesen, das vom Holzabbau lebt und wie durch ein Wunder von der tödlichen Epidemie bislang verschont wurde. Damit sich das nicht ändern möge, verabschiedet die Mehrheit der Gemeinde eine Quarantäne, die den Zutritt von Fremden verhindern soll. Um die Abschottung zu garantieren, beschließt man, den Ort durch Sperren und Wachtposten vor ungebetenen Eindringlingen, die die Seuche einschleppen könnten, zu schützen. Und zwar notfalls mit Gewalt, weshalb auch Graham und Philipp, der Ältere und der Jüngere, auf ihren Beobachtungsposten Gewehre mit sich führen.

    Es kommt wie es kommen muss. Ein Soldat - ob fahnenflüchtig oder von der Truppe abgekommen, bleibt ungeklärt - erscheint halbverhungert am Rand der Stadt und bittet um Aufnahme. Als er sich trotz aller Warnungen nähert, erschießt ihn Graham. Der Bann ist gebrochen, Commonwealth hat mit diesem Schuss auf einen Unschuldigen die Hoffnung verspielt, als Gemeinwesen nach außen ohne Gewalt auszukommen. Hinter der verlorenen Unschuld tut sich ein menschlich-allzumenschlicher Abgrund auf, der die angestrebte Utopie ins Reich der Illusionen verweist. Mit dem Wissen einiger weniger wird der Tote, über dessen Identität nichts bekannt ist, heimlich im Wald verscharrt. Von diesem Augenblick an lässt sich auch im Innern der Gesellschaft Gewalt und Gewalttätigkeit nicht mehr unterdrücken.

    Als Philip, der junge, behinderte Freund Grahams, kurze Zeit später alleine Wache schiebt, geschieht fast dasselbe nochmals: Erneut taucht ein hungriger Soldat auf. Doch Philip tötet ihn nicht. Er verspricht ihm, ihn heimlich zu verköstigen und dann ziehen zu lassen; doch wird er bei seinem "Verrat" ertappt und gemeinsam mit dem Fremden, einem potenziellen Grippeüberträger, in ein leerstehendes Haus gesperrt. Noch bevor er entlassen wird, erweist sich die Wirkung der Quarantäne als null und nichtig. Der erste Bewohner der Stadt ist erkrankt; ihm folgen Dutzende weitere; viele sterben, einige überleben. Wie es trotz der Abschottung nach außen dazu kommen konnte, wird später einleuchtend erklärt.

    Daß sich die Ereignisse in Thomas Mullens Roman nicht überstürzen, wie das von ihm gewählte Genre es eigentlich vorschreibt, sondern in mitunter geradezu lähmender Ausführlichkeit auf der Stelle treten, ist nicht der einzige, aber wohl der auffälligste und störendste Anachronismus dieses thematisch zweifellos reizvollen Romans, der erst gegen Ende an Tempo zulegt - und dabei gewinnt; er überzeugt übrigens dann am meisten, wo er körperliche Gewalt schildert, auch wenn deren Darstellung immer genau jener Dramaturgie folgt, die wir aus Filmen kennen. Geht es um subtilere Formen menschlicher Beziehungen, um Haß oder Liebe, bricht eine tsunamische Flut vulgärpsychologischer und physiognomischer Charakterisierungen über uns herein.

    Da wird "geschmunzelt", "von Herzen", "milde" und "wehmütig" gelächelt; hier "verdüstert sich" ein Blick, dort ist er "hart geworden"; hier bekommen Augen "einen zärtlichen Ausdruck", dort wird etwas "zwischen zusammengebissenen Zähnen" hervorgestoßen; einmal lacht man sich "ins Fäustchen", ein anderes Mal ist jede "Nervenfaser" eines "Körpers" wie elektrisiert, bevor sie sich "in Dankbarkeit für" ein "wundervolles Handtuch" verneigt; und indes sich der Mund des einen Mannes vor Wut "verzerrt", klingt die Stimme des anderen "eher mürrisch als schroff, vor allem, weil er danach den Blick senkte. Und zwar samt Kopf."

    Nun denn, ob mit oder ohne Kopf, dem Leser, der ihn trotz alledem noch nicht verloren hat, entlocken solche Ergüsse eher Tränen der Erheiterung als der Rührung, und es fällt schwer zu glauben, dass keine der insgesamt vierzig Personen, Familie und Mitarbeiter von Random House nicht eingeschlossen, bei denen sich Thomas Mullen am Ende seines Buchs bedankt, den jungen Autor auf all die Fettnäpfchen hingewiesen hat, in die zu treten er sich nicht scheute.
    Vielleicht gelingt es ja den Dreamworks Productions, auf die der deutsche Verlag mit Stolz hinweist, daraus einen Film zu machen, der überzeugender ist als seine literarische Vorlage, die mit Camus zu vergleichen - auch das tut der Verlag - seinen Grund mit Sicherheit nur darin haben kann, dass bei Hoffmann und Campe vermutlich keiner je "Die Pest" gelesen hat.

    Mullen, Thomas: Die Stadt am Ende der Welt
    Aus dem englischen von Gerline Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß.
    Hoffmann und Campe 2007