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Gewünscht: Der gläserne Leser

Zeitungen werden zwar immer noch gelesen. Den Zeitungsmachern schwant es aber manchmal dunkel, dass die Zeitungsleser sich vielleicht doch nicht mit derselben Gründlichkeit den Texten widmen, auf die sie soviel Herzblut verwendet haben. Der Schweizer Medienforscher Carlo Imboden hat nun eine Verfahren namens "Reader Scan" entwickelt. Damit lässt sich das Leseverhalten messen.

Von Josef Schnelle | 15.03.2005
    Jeder filetiert seine Zeitung anders. Ich werfe gleich den Wirtschaftsteil weg. Bei anderen wandert das Feuilleton fix in den Müll - oder der Sport oder die Automobilsonderbeilage. Dann ist die Zeitung in der Regel nur noch halb so dick und passt wenigstens bequem in die Jackentasche.

    Nur am Wochenende lasse ich noch eine Weile den Reiseteil herumliegen. Diese sorgfältige Vorauswahl schützt aber keineswegs vor Frustrationen. Manche Artikel langweilen schon nach wenigen Sätzen. Andere wären vielleicht interessant, wenn man sie vor dem Lesen erst noch redigieren dürfte. Wieder andere sind sprachlich völlig daneben. Bisher hatte man ja vermutet, das wenigstens die klügere Hälfte der Leser einer Zeitung glatt auch die Hälfte der Artikel liest. Dieser Irrglaube muss nun revidiert werden. Nur lächerliche acht Prozent einer Tageszeitung werden tatsächlich auch gelesen werden. Das sind knapp drei Seiten - der Rest ist also reine Papierverschwendung.

    Herausgefunden hat das der Schweizer Medienforscher Carlo Imboden mit Hilfe eines Geräts, das er "Reader Scan" nennt. Das ist ein Stift ähnlich, der wie ein Strichcodeleser an der Kasse des Supermarktes die Zeichen über die er geführt wird registriert. Natürlich benötigte der Forscher eine ausgewählte Gruppe von Zeitungslesern, die gewillt war, ihre tägliche Lektüre mit einem Stift zu erschweren. Und eine Redaktion, die genau wissen wollte, was ihre Leser so treiben. Die Würzburger "Main-Post" stieg vor einem Jahr ein. Inzwischen machen rund 15 Zeitungen mit. Die Neue Osnabrücker Zeitung zum Beispiel und der Mannheimer Morgen.

    Mit dem neuen Verfahren führt Imboden, Verwaltungsratsmitglied der GFK Schweiz, die in unserem Nachbarland die Nutzungsdaten für Fernsehen und Radio ermittelt, die Quotenmessung für einzelne Zeitungsartikel ein. Inzwischen liegen erste Ergebnisse vor: 49 Prozent interessierten sich für einen mysteriösen Mord, 30 Prozent für den politischen Aufmacher der Titelseite, 3,2 Prozent fürs Feuilleton, 0,3 Prozent für die Börsennachrichten. Solche Zahlen hat der Chefredakteur am nächsten Morgen, artikelgenau und nach allen möglichen Kriterien gerechnet auf dem Tisch.

    Andreas Kemper, leitender Redakteur der "Main-Post" ist überzeugt von dem Verfahren, versichert aber gleich, dass nicht daran gedacht sei, einen Autor der dreimal unter fünf Prozent bleibt, auch nur die Leviten zu lesen. 120 Leser haben so einen Stift bekommen, eine Zufallsauswahl, "die aber eher ein bisschen jünger ist als unsere Hauptleserschaft." Die Sache ist teuer. Zirka 150.000 Euro hat die Untersuchung bislang gekostet und herausgekommen ist dabei eine Fibel zum internen Gebrauch, ein Regelwerk nach dem die Redakteure verfahren sollen, um es den Lesern mit feschen Überschriften und emotionalem Einstieg so leicht wie möglich zu machen, an der Zeitungslektüre "dran" zu bleiben.

    Die Leserquote seiner Zeitung sei - so Kemper - mittlerweile um 20 Prozent gestiegen. Die schöne neue Welt der Zeitungsleserforschung wird ansonsten nicht an die große Glocke gehängt. Schließlich ist ja bekannt, wie die Anbetung der Quote das deutsche Fernsehen (auch das öffentlich-rechtliche) auf den Hund gebracht hat. Schreiben was der Leser lesen will, wenn man es denn herausbekäme mit einem Panel von nur 120 Scannern, mag zwar als Programm der Boulevard-Presse noch angehen, die sich mit einem Cocktail aus Sex, Gewalt und Schadenfreude - also den Pickeln, die man nach Anwendung der Creme von Uschi Glas bekommt - bei jeder Quotendiskussion auf der sicheren Seite wähnen darf. Für die seriöse Presse gilt doch weiterhin das stolze Motto, das seit seinem Bestehen auf jeder Titelseite New York Times" steht: "All the News That's Fit to Print". Alles - auch das Unangenehme, bei dem man nach drei Zeilen nicht mehr weiter lesen möchte, soll eine Zeitung abdrucken, um ihre Funktion in der demokratischen Gesellschaft zu erfüllen.

    Den Quotenforschern - so hört man - ist der Scanstift inzwischen schon zu ungenau, denn vielleicht führt man in anders, als man wirklich liest. Eine Brille soll her die aufzeichnet wohin die Pupille springt. Vielleicht gleich ans Ende des Artikels mit der interessanten Überschrift oder auf Reizwortkonglomerate wie Busen und Nackt oder Reich und Korrupt. Auf der Grundlage solcher Ergebnisse könnte man dann ganz kurze und effektive Artikel schreiben und jede Zeitung würde endlich auf die drei Seiten passen die jeder schafft. Das Feuilleton könnte man sich übrigens gleich sparen. Rezensionen gehören neben der Fußballtabelle zu den chronisch verschmähten Teilen einer Zeitung. Glossen liest gar keiner.