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"Gezi-Soul"-Festival in Köln
Beethoven spielen reicht nicht

Zwischen Istanbul und Köln liegen 2000 Kilometer. Aber politisch wächst die Entfernung zwischen der Türkei und Europa. Beim Kölner "Gezi-Soul"-Festival wird klar: Es reicht nicht, die Europa-Hymne erklingen zu lassen, um die Türkei und Europa wieder näher zusammenzubringen.

Von Peter Backof | 02.12.2016
    Die Band Light in Babylon ist eine Verschmelzung von verschiedenen Ethnien und Kulturen: Die Sängerin ist Israelin mit iranischen Wurzeln, der Santurspieler kommt aus der Türkei, der Gitarrist ist Franzose und gemeinsam kooperieren sie mit Musikern unterschiedlichster Herkunft.
    Die Band Light in Babylon ist eine Verschmelzung von verschiedenen Ethnien und Kulturen: Die Sängerin ist Israelin mit iranischen Wurzeln, der Santurspieler kommt aus der Türkei, der Gitarrist ist Franzose. (Light in Babylon)
    Das ist normalerweise nicht üblich im Kölner Club Artheater: Am Eingang wird man sehr gründlich durchsucht, nach Waffen. Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion, ein Kolumnist der Zeitung Cumhuriyet und ein Ex-General der türkischen Seestreitkräfte, hatten darum gebeten. Erstmal trifft man auf Ümit Han, in Köln lebender Techno- und Ambient-Musiker, der vielen Gästen persönlich die Hand schüttelt. Er hat das "Gezi-Soul"-Festival initiiert, das nun zum zweiten Mal stattfindet:
    "Wir versuchen mit unserer Veranstaltung die Seele, die Essenz von Gezi weiterzutragen. Ich nenne es 'Gezi Soul': Die Vereinigung der verschiedenen Kräfte - links, rechts, Mitte - die kommen alle zusammen. Ich habe im Gezi Park gesehen, dass es nicht nur eine Vision ist, sondern Wirklichkeit."
    Spürbarer Zusammenhalt
    Man habe sein Mofa abgestellt, Schlüssel stecken lassen, kam wieder: Mofa war noch da. Auf Decken wurden Handys und alles, was jemand verloren hatte, zusammengetragen. Nichts kam weg. Klingt allzu romantisch? Ümit Han hat den Gezi Park in Istanbul 2013 persönlich so erlebt. Selbst "ganz normale Leute", sagt er und malt große Anführungsstriche mit den Händen in die Luft, waren mitgerissen vom Gemeinschaftsgeist. Beim Festival gestaltet er zusammen mit Video-Jockey Ulli Sigg den künstlerischen Teil des ersten Abends. Als konkrete Collage aus Bild und Ton von Gezi 2013. Verarbeitet zum Albtraum. Düsterer, extrem verhallter Echoraum der Utopie von damals. Ein Bagger zum Beispiel hat Park und Stimmung umgegraben: Der Traum ist aus!?
    "Natürlich ist das auch Ausdruck der Solidarität, hier zu sitzen. Die Freunde in der Türkei, wo man weiß, die stehen jetzt unter Druck", meint ein tiefer gehend Türkei-interessierter Besucher.
    Emotionale Thematik
    Vier Diskutanten auf dem Podium versuchen, den Putschversuch im Juli einzuordnen. Wie lässt er sich aus der türkischen Geschichte heraus verstehen? Der Soziologe Emre Kongar meint: Die Türkei sei ein Bauernstaat geblieben, habe Industrie und die Forderung nach Demokratie nie entwickelt. Kemal Atatürk, die historische Symbolfigur für eine europäische Türkei, habe dem Land Demokratie mit dem Hammer verordnet, ergänzt General a.D. Türker Ertürk. Ein Autokrat wie Erdogan sei Symptom dessen. Ein großer Bogen, viel türkisches Geschichtswissen. Schwierig, als deutschsprachiger Besucher zu folgen. Übersetzt wird nur auszugsweise. Was man deutlich mitbekommt: Wegen der Spitzfindigkeit, ob Kurden durchgehend oder in Episoden von Türken unterdrückt worden seien, bricht Streit aus zwischen Podium und Publikum:
    "Sie sagen, die kurdische Sprache ist unterdrückt?" - "Ich bitte, die Diskussion draußen weiter zu führen." - "Genau. Ich möchte mich äußern." - "Sie sind nicht dran!" - "Ich verlasse diese Art von Diskussion!"
    "Ich habe sehr viel gelernt", kommentiert ein Gast, der kopfschüttelnd aus dem Saal geht. "Dass die Menschen, die eigentlich zusammenhalen sollten, um eine Veränderung zu erwirken in der Türkei, nicht gemeinsam kämpfen, sondern sich die Köpfe einschlagen."
    "Noch ist die Opposition da"
    Da fühlt man sich wie nach mancher deutschen Fernseh-Talkrunde: hinterher so schlau wie vorher. Doch ist die Lage in der Türkei ernster: sie wird zur oder ist bereits Diktatur: willkürliche Verhaftungen, "Säuberungen", schlimmer als man sie je erlebt habe. Alle Diskutanten auf dem Podium sind sich einig: Man müsste Präsident Erdogan aufhalten, seine Macht auszubauen. Aber wie? Niemand weiß es.
    Da ist wieder Ümit Han und schüttelt Hände. Sein Traum von Gezi, vom Gemeinschaftsgeist. Er hat das ganze Wochenende ein breites Spektrum aktueller türkischer Musik im Portfolio. Um sich darin zu verlieren oder auch um etwas zu bewirken?
    "Allein durch Musik schaffen wir das nicht. Allein wenn die 9. Sinfonie von Beethoven läuft, so kriegen wir keinen Staat zum Laufen. Da muss man reden, auch mit denen, die Erdogan hinterherlaufen. Ich sage: Noch ist Opposition da, noch ist das letzte Wort nicht gesprochen."