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Gezielt redundant

Die Dünung war vollständig eingeschlafen. Die Sonne brannte auf die reglose See. Über dem Horizont lag leichter Dunst. Das Schlauchboot trieb nur unmerklich. Der Einarmige beobachtete unablässig die Kimm. Der Andere schlief.

Michael Bauer | 06.11.2003
    Es war nichts in Sicht.

    Mit diesem elegischen Stimmungsbild von der "eingeschlafenen" Dünung und dem "leichten Dunst" über dem Horizont beginnt Jens Rehns Romandebüt "Nichts in Sicht". Doch bereits nach vier Sätzen bekommt das Stimmungsbild erste Risse. Warum sucht ein Einarmiger den Horizont ab? Und warum verwendet der Autor bei soviel eingeschlafener Dünung und regloser See plötzlich das Marinewort "Kimm" für die leicht gewölbte Waagrechte des Horizonts über dem Meer?

    Der erste Roman von Jens Rehn erschien neun Jahre nach Kriegsende bei Luchterhand. Wolfgang Weyrauchs Forderung nach "Kahlschlag" - nach einer Literatur, die Realität und Dichtung miteinander konfrontiert - war in Adenauer-Deutschland überhört worden. Sein programmatischer Aufruf, "Kahlschläger fangen in Sprache, Substanz und Konzeption, von vorn an" war verhallt. In den Plenarsälen wie im Rundfunk herrschte das alte Pathos, die alte Rhetorik.

    1954 meldete sich Jens Rehn zu Wort, damals Literaturredakteur beim RIAS:

    Der Einarmige beobachtete unablässig die Kimm. Der Andere schlief.
    Es war nichts in Sicht. WENN EIN ARM NICHT MEHR VOM KÖRPER ERNÄHRT WERDEN kann, löst sich die Haut ab. Er fängt an zu suppen und wird sülzig und farbig. Es ist ratsam, bald zu operieren.


    Lexikalische Einschübe wie dieser sind typisch für Rehns Romanerstling. Sie setzen Zäsuren und kontrapunktieren das Geschilderte mit Fakten aus Chemie, Physik oder Medizin:

    Rasanter Puls und Schüttelfröste, verkürzter Atem und trockene Zunge. So geht es weiter. Da ist kaum etwas zu machen.

    Jens Rehn trat als "Kahlschläger" an, sprachlich und substanziell. Er war selbst von 1937 bis 1943 bei der Marine gewesen, zuletzt als U-Boot-Kommandat, doch im Gegensatz etwa zu Lothar Günther Buchheim hatte Rehn aus der Geschichte gelernt.

    Das Boot in seinem Roman ist ein Schlauchboot. Es treibt im Atlantik. Im Boot: zwei Männer, ein Amerikaner und ein Deutscher – Feinde eigentlich, doch kämpfen sie jetzt gemeinsam ums Überleben.

    Statt geschwätziger Kriegserinnerungen provokante Sachlichkeit:

    EIN SCHLAUCHBOOT IST ETWA 2,5 M LANG UND 1,5 M BREIT.
    Der Mittelatlantik ist im Verhältnis hierzu so groß, daß seine genauen Maße keine Rolle spielen. Wenn ein Schlauchboot allein im Mittelatlantik treibt, ist es gleichgültig, ob es im Frieden oder im Kriege dort driftet. Es ist auch unerheblich, welcher Nationalität zwei Menschen angehören, wenn sie allein im Mittelatlantik treiben und verdursten werden, falls man sie nicht rechtzeitig findet.


    Immer wieder gezielt redundant, baut Jens Rehn Spannung auf: Für seine beiden Männer im Schlauchboot ist der Krieg vorüber. Sie gehörten zwei verfeindeten Armeen an. Doch beides ist unwichtig geworden. Sie sind allein. Nichts in Sicht. Ihr Proviant: eine halbe Flasche Whisky, 64 Zigaretten, etliche Kaugummis und ein paar Riegel Schokolade. Kein Wasser. Und keine Rettung, nichts in Sicht.

    Davon handelt Rehns gleichnamiger Roman. Es geht um Hoffnung, um Erinnern, um eine existenzielle Situation - zwei Männer haben den Tod vor Augen. Der eine gehört der amerikanischen Luftwaffe an, der andere war Matrose auf einem deutschen U-Boot. Zwei Kriegsverlierer, keiner von ihnen ein Sieger.

    Nichts in Sicht erzählt vom Sterben, nicht vom Tod. Es ist ein Roman gegen den Krieg, kein metaphysisches Traktat.

    Der Andere schwieg, und Der-da-oben antwortete nicht.

    Nichts in Sicht philosophiert nicht über den Tod, sondern berichtet distanziert von zwei Sterbenden, die auf ein Flugzeug oder ein Schiff hoffen, ohne an ihre Rettung zu glauben.

    Fehlt nur noch, daß wir nach dem ‚Sinn’ fragen!" sagte der Einarmige und zitterte stärker. "Diese verfluchte, alberne Backfisch-Frage nach dem Sinn; Schwachsinn, elender!

    Beide Männer wissen eins: Man muß sie morgen finden.

    Sie sprechen über ihre Frauen, erzählen von Betsy und Maria. Ohne Trinkwasser und ohne große Hoffnung, rechtzeitig gefunden und gerettet zu werden, verklären die beiden Männer dennoch das Vergangene nicht. Sie geben sich Rechenschaft.

    Am Ende des ersten von fünf Kapiteln stirbt der Amerikaner, dessen Arm ihm abgefault ist. Er stirbt bei Sonnenaufgang:

    Er stand schwarz gegen den gelben und roten Himmel gelehnt und sang seine große Kantate vom Schmerz.
    Noch ehe der Gesang zu Ende war, starb er. Er starb schnell und noch im Stehen.
    Als er lag, war er schon lange tot.


    Bruchteile einer Sekunde oder eine Ewigkeit: Zeit und Raum spielen in diesem Roman keine Rolle. Ein wenig beckmesserisch stellte Gottfried Benn in seiner Rezension fest, daß der Roman einmal unweit der Südspitze Grönlands, dann aber im Mittelatlantik spielt. Insgesamt sei es dennoch das gelungene Debüt eines jungen Autors –

    rebellisch […], zynisch, genialisch – ein erster Wurf.

    Der Einarmige ist "der Einarmige", der Andere bleibt "der Andere". Beide sind namenlos und in ihrer äußeren Erscheinung ohne Konturen. Nur ihre Versehrtheit wird näher beschrieben, die Folge eines unsinnigen Krieges.

    Betsy und Maria, ihre Frauen, nennt der Erzähler beim Namen. Beide sind tot und leben nur in der Erinnerung der Männer. Ohne jedes Pathos und frei von Kitsch holt Jens Rehn die Toten - den Einarmigen, seine tödlich verunglückte Betsy und die an Krebs gestorbene Maria - ins Schlauchboot.

    Unaufhaltsam gleitet der verdurstende Überlebende ins Delirium. Er beginnt zu halluzinieren, spricht mit den Toten und hält Monologe. In Beobachtungen an sich selbst und in seine stete Suche am Horizont mischen sich Farbphantasien und bunte Kindheitserinnerungen. Der Durst wird zum "Glockenklöppel", die Sonne "regnet" "brennendes Öl" auf ihn und seine tote Maria lacht schrill.

    Irgendwo lachte es wieder, es war nicht mehr Maria; riesig und schallend lachte es, von überall zurückgeechot, und da steht ja die lachende Reihe, alle sind sie da: der alte Zeus mit der Leda im Arm, Wotan in germanischen Sockenhaltern, und Jehova mit den blutigen Händen, Allah rasierte sich, und Buddha starrte auf seinen Nabel, Manitou mit dem Büffelherzen, und der Negergott vergewaltigte Frau Luna, Schlösser, die im Monde liegen, ein Zirkus, alle sind sie immer da, und das endlose Gelächter, die amüsieren sich, diese Schweine und ich sterbe.
    ‚Und ich sterbe’, sagte er erschöpft.


    Eine moribund halluzinierte Götterdämmerung, doch statt Oper: Operette. So etwas war einzigartig in der deutschsprachigen Literatur der fünfziger Jahre. Kein Wunder, daß Marcel Reich-Ranicki in seinem Nachruf die Nachwelt beschwor: ein Buch wie "Nichts in Sicht" sollten wir, nein, dürften wir nicht vergessen. Es sei beides in einem – ein zeitgeschichtliches und ein künstlerisches Dokument.

    Jens Rehns Roman vom Sterben zweier Soldaten in einem Schlauchboot war jahrelang vergriffen und wurde jetzt bei Schöffling & Co geborgen. Abermals hat der Frankfurter Verlag damit einen Schatz der Nachkriegsliteratur gehoben. Kein Wrack der Literaturgeschichte, eher ein verirrtes Boot, dessen literarische Position nach fünfzig Jahren klar auszumachen ist: "Nichts in Sicht" ist ein Nachkriegsroman ohne Patina, unverstaubt und von trauriger Aktualität.

    Die in den Medien visualisierten Tragödien von afrikanischen Flüchtlingen auf kleinen Booten geben dem Buch weitere Brisanz. Überall Krieg und noch immer keine Vernunft, nichts in Sicht.

    Jens Rehn
    Nichts in Sicht
    Verlag Schöffling & Co, 164 S., EUR 18,90