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Ghetto-Renten
Sinti und Roma fallen oft noch immer durchs Raster

Das Ghetto-Renten-Gesetz wurde 2002 beschlossen, um Ghettoarbeitern, die in der NS-Zeit für ihr Überleben arbeiten mussten, eine Rente zuzusichern. Jahrelang lehnte die Deutsche Rentenversicherung die meisten Anträge ab. Das ist nun anders, doch viele Betroffene sind inzwischen verstorben.

Von Christiane Habermalz | 16.11.2017
    Zwei Juden, die sich in einem Haus versteckt hatten, werden von SS-Soldaten gefangen genommen. Die Aufnahme entstand während des Warschauer Ghetto-Aufstands, der vom 19. April 1943 bis zu seiner blutigen Niederschlagung am 16. Mai 1943 dauerte. Die Nationalsozialisten hatten ein Jahr nach der Besetzung Polens im November 1940 in Warschau ein Ghetto errichtet und dorthin annähernd eine halbe Million Juden verschleppt. Zwischen Juli und September 1942 wurden 300 000 Opfer in den Todeslagern, die meisten in Treblinka, ermordet. Als am 19. April 1943 die SS mit der Verschleppung der restlichen 60 000 Ghetto-Einwohner begann, leisteten mehrere hundert militärisch organisierte Juden bewaffneten Widerstand. Bei den Kämpfen wurden etwa 14 000 jüdische Aufständische getötet.
    Zwei Juden werden während des Aufstands im Warschauer Ghetto von SS-Soldaten gefangen genommen (1943). (picture alliance / dpa)
    Die neue Hoffnung trägt den sperrigen Namen "Rentenersatzzuschlag". Der wurde in diesem Sommer vom Bundesamt für Zentrale Dienste und Offene Vermögensfragen eingeführt. Überlebende, die die Bedingungen für die Bewilligung einer Ghetto-Rente nicht erfüllen, können eine Einmalzahlung von 1.800 Euro beantragen – als Härtefallausgleich, als Trostpflaster sozusagen.
    Doch bei Erich Schneeberger, Vorsitzender des Landesverbandes der bayerischen Sinti und Roma, hat sich bereits jetzt Ernüchterung breit gemacht:
    "Auch nach der im Juli diesen Jahres erfolgten Neufassung der sogenannten Anerkennungsrichtlinie hat sich für die Angehörigen unserer Minderheit keine Besserung ergeben."
    Die Erfolgsaussichten auf den Rentenersatzzuschlag sind gering – wie schon zuvor beim Rentenantrag, der durch das sogenannte Ghetto-Renten-Gesetz von 2002 möglich wurde.
    Sinti und Roma haben es schwer, Ansprüche durchzusetzen
    Die deutschen Sinti und Roma haben das Problem, dass die Lager, in die sie deportiert wurden – das Konzentrationslager Auschwitz und Lager in Stettin und Berlin-Marzahn – nicht als Ghettos anerkannt werden. Mittlerweile gebe man sich keinen Illusionen mehr hin, sagt Schneeberger. Das Ghetto-Renten-Gesetz habe bei seinen Leuten hohe Erwartungen geweckt, aber die Sinti und Roma seien schon immer betrogen worden – und jetzt eben wieder.
    "Dieses Gesetz kommt nach meiner Ansicht nach viel, viel, viel zu spät, und bei uns bei den deutschen Sinti und Roma, die meisten Leute sind bereits gestorben. Und ich weiß auch nicht, warum dieses Gesetz überhaupt gemacht worden ist."
    Die Sinti und Roma haben es besonders schwer, Rentenansprüche nach dem Ghetto-Renten-Gesetz zu stellen. Stichwort Anwartzeit: Fünf Jahre muss man gearbeitet haben, um in Deutschland eine Rente beantragen zu können, doch so lange haben die Ghettos in Osteuropa gar nicht bestanden. Weil viele der vor allem osteuropäischen Roma als diskriminierte Minderheit später nie eine sozialversicherungspflichtige Arbeit ausgeübt haben, konnten sie diese Wartezeit auch später nie auffüllen.
    Der Rentenersatzzuschlag als Ersatzleistung für solche Härtefälle scheint auch in Osteuropa nicht zu greifen. Den ersten Rückmeldungen des polnischen Roma-Verbandes zufolge wurden von den bisher 350 gestellten Anträgen auf diese Einmalzahlung nur 28 Anträge positiv beschieden.
    "Die Zahl an sich ist sehr klein. Und wenn man weiß, dass noch 350 Überlebende den Antrag gestellt haben, dann fällt das doch sehr ernüchternd aus", sagt Kamil Majchrzak von der "Initiative Ghettorentengerechtigkeit jetzt", einem Zusammenschluss von Nachfahren von Holocaust-Opfern, die sich weiter für Entschädigungsbelange einsetzen.
    Fortschritt bei jüdischen Antragstellern
    Immerhin: Bei den meisten jüdischen Antragstellern aus Polen, den USA und Israel gibt es mittlerweile endlich Fortschritte bei den Bewilligungen von Ghetto-Renten, erläutert Stephan Lehnstaedt, Historiker für Holocaust-Studien am Touro Colleg in Berlin:
    "Also es sind fast alle Entschädigungsfälle abgearbeitet, durchaus auch in einer guten Weise. Die Rentenversicherung hat ja auch deutlich ihren bürokratischen Aufwand zurückgefahren, also es ist für die Antragsteller inzwischen der Regelfall, dass sie auch eine Rente bekommen. Aber das Problem ist natürlich, dass wir das Gesetz seit 2002 haben und in der Zwischenzeit einfach viele Leute gestorben sind, die also nichts mehr davon haben."
    Dabei wurde das Ghetto-Renten-Gesetz mit viel gutem Willen vom Bundestag auf den Weg gebracht. Ghettoarbeitern, die in der NS-Zeit für ihr Überleben arbeiten mussten, sollten eine Rente erhalten. Allerdings hat man wohl die Dimension unterschätzt: Man rechnete mit wenigen Tausend Antragsstellern, doch dann kamen 70.000 Anträge. Und im Gegensatz zur Zwangsarbeiterentschädigung durch die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft", die eine Einmalzahlung von maximal 7.500 Euro gewährte, geht es bei der Rente um andere Summen.
    "Wir reden hier bei Ghetto-Renten über monatliche Renten, die bewegen sich im Schnitt um 250 Euro ungefähr. Klingt jetzt nicht viel, ist aber, wenn man das ab 1997 rückwirkend bezahlt bekommt, kommen schnell 20.000, 30.000, manchmal 40.000 Euro zusammen."
    Jahrelang Restriktive Anerkennungspraxis
    Und anders als bei Entschädigungszahlungen werden Renten auch an Hinterbliebene ausgezahlt. Möglicherweise war das auch ein Grund für die restriktive Anerkennungspraxis der zuständigen Deutschen Rentenversicherung. Jahrelang hatte die Deutsche Rentenversicherung, unterstützt durch die Sozialgerichte, die Anträge der ehemaligen Ghettoarbeiter reihenweise abgelehnt.
    Die Begründungen waren mannigfaltig: Rentenberechtigung könne man nur für freiwillige Arbeit erwerben, Ghettoarbeit aber wurde pauschal als Zwangsarbeit gewertet. Und Lebensmittel könnten nicht als Entgelt betrachtet werden. 2009 entschied das Bundessozialgericht in einer Grundsatzentscheidung – auch dank des Einsatzes des Sozialrichters Jan-Robert von Renesse –, dass unter den Lebensumständen eines Ghettos auch ein Stück Brot ein Arbeitslohn sein konnte.
    "Und das ist das große Problem, dass es unglaublich lange gedauert hat, bis das bei den Richtern angekommen ist zu akzeptieren, dass man an ein Beschäftigungsverhältnis in einem Ghetto vielleicht nicht die gleichen Maßstäbe anlegen kann wie heutzutage an ein Arbeitsverhältnis im Jahr 2017. Die Vorstellung ist nachgerade absurd. Aber das ist in Deutschland sieben Jahre lang versucht worden."
    2014 musste das Gesetz nachgebessert werden, um die rückwirkende Auszahlung ab 1997 zu ermöglichen, die ist nach deutschem Sozialgesetz eigentlich nicht möglich. Seitdem bemühen sich die Rentenversicherungen um eine schnelle Bearbeitung und Auszahlung.
    Besonders perfide: Ghetto-Renten sind keine Entschädigungen, sondern erworbene Ansprüche, betont Lehnstaedt. Denn selbst für Ghettoarbeit und auch für Zwangsarbeit in KZs mussten Sozialbeiträge abgeführt wurden – auch wenn natürlich nie eine Auszahlung vorgesehen war. Das Deutsche Reich hat sich auch hier noch bis zuletzt versucht, sich an seinen Opfern zu bereichern.
    Sozialrichter Robert von Renesse in einer Verhandlungspause vor dem Düsseldorfer Landgericht.
    Sozialrichter Robert von Renesse (dpa/ picture-alliance/ David Young)