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Giacometti in der Tate Modern
Aufmarsch der Spindeldürren

Seine Werke erkennt man immer sofort wieder: die meist in Bronze gegossenen langen, spindeldürren stehenden oder gehenden Figuren. Der Künstler Alberto Giacometti malte aber auch, vor allem Porträts. Die Tate Modern in London widmet nun dem Schweizer eine große Retrospektive und wartet am Ende der Ausstellung mit einem Coup auf.

Von Hans Pietsch | 09.05.2017
    Giacometti-Ausstellung in der Londoner Tate Modern.
    Die Ausstellung in der Londoner Tate Modern ist größtenteils chronologisch angeordnet. (imago/Xinhua)
    Dutzende von Augenpaaren blicken die Besucher an, wenn sie den ersten Raum der Ausstellung betreten. Ein Tisch voller Porträtbüsten, in Reih und Glied, in den verschiedensten Materialien und Stilen gestaltet. Von seinen ersten Versuchen als Teenager, die Köpfe von Familienmitgliedern aus Gips zu formen, bis zu späten Arbeiten der 60er-Jahre mit ihren typischen schrundigen Oberflächen. "Wenn man ein Gesicht betrachtet, schaut man immer auf die Augen", schrieb Alberto Giacometti. "Ein Auge hat etwas Besonderes, es besteht aus einem anderen Material als das übrige Gesicht."
    In der größtenteils chronologisch angeordneten Schau geht es dann weiter in die 20er-Jahre. Die Schwierigkeiten bei der genauen Abbildung eines Modells begannen ihn zu frustrieren. Er versuchte sich an konzeptuellen Ansätzen, wandte sich der Abstraktion afrikanischer Plastik zu. Doch es ging ihm weiter um den Porträtkopf und um die Figur. 'Frau mit starrem Blick' von 1929 bildet den Höhepunkt seiner Abstraktionen - ein dünnes, flaches Quadrat mit zwei Einbuchtungen.
    Giacometti bevorzugte die Arbeit mit Ton und Gips
    In den 30er-Jahren entwarf er, um Geld zu verdienen, dekorative Objekte, mit der Hilfe seines Bruders Diego, der ihm nach Paris gefolgt war, und sowohl sein Assistent als auch sein bevorzugtes Modell wurde. Gemeinsam schufen sie Vasen, Lampen, Schmuck, Wandreliefs. In diese Zeit fällt auch seine Liebäugelei mit dem Surrealismus. 1932 schloss er sich dem Kreis um André Breton an, doch die Tatsache, dass er weiter mit dem lebenden Modell arbeitete, stempelte ihn in den Augen Bretons zum Verräter ab. Er verließ die Gruppe.
    Erstaunlich ist, wie weit sich die Ausstellung zunächst von dem Klischee 'Giacometti, der Schöpfer der ausgemergelten Figuren' entfernt. Doch dann marschieren sie auf, die spindeldürren Stehenden und Gehenden. Sie sind in den unterschiedlichsten Konstellationen zu sehen: Alleine und als Gruppe, in Käfige gesperrt, auf einem Streitwagen, selbst ein Hund wird ausgehungert. Die meisten sind in Bronze gegossen, doch Giacometti bevorzugte die Arbeit mit Ton und Gips, weil er so direkten Kontakt mit den Händen zum Material hatte. Lena Fritsch ist eine der Kuratorinnen.
    "Wenn man mit Sartre sprechen würde, der den Aufsatz geschrieben hat für die Ausstellung 1948 in der Pierre Matisse Galerie in New York, wo diese Werke zum ersten Mal gezeigt wurden, dann kann man einen ganz klaren Bezug zur damaligen Zeit feststellen. Und zum Trauma des Zweiten Weltkrieges. Wobei Sartre auch ein bisschen missverstanden wurde, weil er schreibt: Auf den ersten Blick sehen sie aus wie ausgemergelte Figuren des Zweiten Weltkriegs, aber auf den zweiten Blick sieht man auch, wie sie sich dem Himmel nähern und etwas sehr Majestätisches haben. Insofern glaube ich - es gibt da gar nicht unbedingt nur eine Interpretation, was diese Figuren bedeuten."
    Am Ende stehen acht weibliche Figuren aus Gips
    Während des Krieges, eine Zeit, die er in seiner Schweizer Heimat verbrachte, werden seine Figuren immer kleiner, bis sie so hoch und so dünn wie eine Stecknadel sind. Noch einmal Lena Fritsch.
    "Ja, also er hat sich immer wieder auf ein bestimmtes Erlebnis bezogen. Er hat immer wieder gesagt, er wurde inspiriert davon, dass er einmal seine Freundin Isabel, eine englische Künstlerin, gesehen hat in Paris, weit weg auf der Straße. Und es ging ihm darum, dass er sie genauso abbildet, wie er sie damals gesehen hat, also aus der Entfernung heraus. Er wollte gar nicht unbedingt die Figuren immer so klein machen, aber irgendwie sind sie dann doch immer so klein geworden."
    Alberto Giacometti begann auch wieder intensiv zu malen, wie schon immer Porträts von Menschen seiner unmittelbaren Umgebung: den Bruder, die Frau Annette und seine letzte Geliebte, die Prostituierte Caroline. Die in düsteren Erdfarben dargestellten Figuren, meist sitzend, treten aus einem dunklen Hintergrund heraus, eine Aura von Missgeschick und Trauer umgibt sie.
    Ein besonderer Coup der Ausstellung sind am Ende acht weibliche Figuren aus Gips. Er schuf die 'Frauen von Venedig' für den französischen Pavillon der Biennale in Venedig, den er 1956 bespielen durfte. Die lang gestreckten, auf Sockeln stehenden weiblichen Akte, fast lebensgroß, zeugen von seinem großen Interesse an ägyptischer Plastik und seiner lebenslangen Suche nach der adäquaten Darstellung des weiblichen Körpers. Sie sind zum ersten Mal seit der Biennale wieder vereint.