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Giro d’Italia
Richard Carapaz, der unbekannte Sieger

Kaum einer hatte ihn vor dem Rennen auf der Rechnung: Den Ecuardorianer Richard Carapaz. Dann bestimmte der Radrennfahrer den Giro d'Italia. Wer ist dieser Mann?

Von Tom Mustroph | 02.06.2019
    Richard Carapaz, diesjähriger Favorit beim Giro d'Italia, mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm
    Richard Carapaz wird wohl den Gesamtsieg beim Giro holen - vorab hatte damit kaum einer gerechnet (imago images / LaPresse)
    Richard Carapaz hat für den Giro schon lange eine Schwäche. Das erzählte er, als er bereits das Rosa Trikot des Gesamtführenden vor einer Woche erobert hatte.
    "In den Radsport bin ich mit 15 Jahren gekommen. Ich habe damals den Giro auf dem Handy gesehen, allerdings Videos von vor 15, 20 Jahren, mit Marco Pantani. Und das hat in mir den Wunsch geweckt, auch da zu sein."
    Jetzt war er nicht nur da. Sondern er war der Protagonist. Auf der 14. Etappe holte er sich mit einer Solofahrt im Schatten des Montblanc das Rosa Trikot – und gab es nicht wieder ab. Sein Hauptkonkurrent Vincenzo Nibali schildert die entscheidende Situation:
    "Ich denke, Carapaz war einfach gut darin, den richtigen Augenblick zu wählen. Wir Favoriten haben uns ständig beobachtet. Und er hat den richtigen Moment genutzt. In Courmayeur wurden wir viel kritisiert, dass wir ihm zu viel Platz gelassen hätten. Mag sein. Aber ist in einem Moment der Konterattacke losgezogen. Nach einer heftigen Attacke haben wir einen Moment pausiert. Und genau da trat er an."
    "Er hat auch mit dem Überraschungseffekt gespielt"
    Nibali und auch der Slowene Primoz Roglic hatten in jenem Moment allerdings vor allem Augen füreinander. Sie belauerten sich gegenseitig - und sie unterschätzten den Ecuadorianer. Nibali bestätigt den Eindruck.
    "Carapaz hat auch mit dem Überraschungseffekt gespielt. Wer hätte vorher gedacht, dass Carapaz hier beim Giro so weit kommt?"
    Nun ja, mindestens eine Person gibt es, die das dachte. Sie heißt Iosune Murillo, ist Trainerin von Carapaz – die einzige Frau übrigens auf dieser Position im Straßenradsport der Männer. Sie sagte per Telefon von ihrem Arbeitsplatz in Pamplona aus:
    "Beim letzten Giro wurde er schon Vierter. Jetzt haben sich seine Beine weiter verbessert. Er ist noch jung, ist 26 Jahre alt. Zu Beginn dieses Jahres haben wir den Giro so vorbereitet, dass er noch besser wird."
    Das klappte perfekt. Trotz guter Vorbereitung war der Giro für den Ecuadorianer aber bei weitem kein Selbstläufer. Zunächst hatte er im eigenen Team den Basken Mikel Landa als Kapitän vor sich. Dann büßte er auch wertvolle Zeit im Kampf gegen die Uhr ein und wurde durch einen Sturz aufgehalten. Sein Giro schien eigentlich bereits nach der ersten Woche vorbei. So sah es auch Jasha Sütterlin. Der Freiburger war einer der Helfer von Carapaz beim Giro.
    "Also ich persönlich hatte es schon ein bisschen abgeschrieben gehabt. Aber die sportlichen Leiter sind immer zuversichtlich gewesen und haben uns motiviert. Wir sind taktisch einfach extrem clever gefahren."
    Movistar attackierte zunächst, um den Rückstand aufzuholen. Stets wurden auch Helfer in die Ausreißergruppen vorgeschickt. Taktik wie aus dem Lehrbuch. Und perfekt umgesetzt.
    Der lange Weg über Kolumbien nach Europa
    Carapaz hatte die Beine dafür, und auch die Willensstärke. Die musste er bereits früh ausprägen. Als seine Mutter an Krebs erkrankte, hatte er gerade mit dem ernsthaften Radsporttraining begonnen. Er kümmerte sich dann an ihrer Stelle um den Bauernhof. Im Morgengrauen stand er auf, molk die Kühe, ging dann in die Schule, trainerte nachmittags und versorgte abends wieder die Tiere.
    Und auch der Weg in den internationalen Radsport war steinig, wie er selbst schildert: "Mit 16 Jahren zog ich nach Kolumbien, um dort an Wettkämpfen teilzunehmen. 2013 ging ich nach Spanien. Ich fuhr einige größere Rennen, holte auch gute Platzierungen. Aber es war nicht genug, um europäische Teams zu interessieren."
    Enttäuscht kehrte er in seine Heimat zurück. Er trainierte dort weiter, in einer Höhenlage von 3.000 Meter. Für Ausdauersportler ist das von Vorteil. Die Produktion von roten Blutkörperchen wird so stimuliert. Carapaz allerdings gewann auch gegen all die anderen Höhen-erprobten Radtalente Kolumbiens die Vuelta de la Juventud, das wichtigste Rennen in der U23-Kategorie des Landes. Dieser Sieg öffnete die Tür nach Europa. Und drei Jahre später beherrschte Richard Carapaz den Giro.