Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Gleichheit war nur eine Illusion"

Die liberalen Ideen der nordamerikanischen und Französischen Revolution fanden Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Lateinamerika ihren Niederschlag. Doch die lang ersehnte Unabhängigkeit Venzuelas von Spanien währte nur kurz und führte direkt in einen blutigen Bürgerkrieg. Erst mit Simón Bolívar kam die entscheidende Wende.

Von Karl-Ludolf Hübener | 05.07.2011
    Es gärte Anfang des 19. Jahrhunderts im spanischen Amerika. So auch im Generalkapitanat von Venezuela. Unzufrieden und rebellisch waren vor allem die Kreolen, die im Land geborenen Nachkommen spanischer Eltern. Denn die entscheidenden Posten in Verwaltung und Klerus waren von Spaniern besetzt. Das passte vor allem den vermögenden Kreolen nicht. Ihre wirtschaftliche Macht gründete sich auf Landbesitz. Auf ihren Plantagen schufteten aus Afrika verschleppte Sklaven.

    Wie wichtig dieser Wirtschaftssektor war, erklärt der venezolanische Diplomat Julio Chirinos:

    "Das Land lebte vor allem vom Export von Kaffee und Kakao, den wichtigsten landwirtschaftlichen Produkten. Im Lande lebten damals etwa 800.000 Menschen."

    Die liberalen Ideen der nordamerikanischen und Französischen Revolution heizten die Diskussionen in den feinen Salons von Caracas, dem Sitz des Kapitanats, an. Doch unter Freiheit verstand die Elite der Kreolen vor allem Freihandel und die eigene politische Unabhängigkeit.

    Ihren Ambitionen kamen die Ereignisse in Spanien entgegen: Napoleon Bonaparte war auf der iberischen Halbinsel einmarschiert und hatte 1808 König Ferdinand VII. abgesetzt. Ein daraufhin von Napoleon in Caracas eingesetzter Generalkapitän wurde von einer Volksmenge niedergeschrien.
    Der napoleonische Statthalter musste abdanken. Eine Junta, gebildet aus Mitgliedern der Elite, übernahm am 19. April 1810 die Regierungsgeschäfte, wie Alba Mariani, Professorin für Amerikanistik, erklärt:

    "Die Zusammensetzung der Junta spiegelte die Teilung Venezuelas in zwei Lager wieder: in Konservative und Radikale. In die Befürworter der Autonomie, aber unter der Kontrolle der spanischen Krone, und in die Befürworter der Unabhängigkeit. Das war der Sektor, der sich am fortschrittlichsten erwies: Er war auf dem Vormarsch, aber zunächst beherrschten zweifellos die Konservativen die Junta."

    Die radikalen Unabhängigkeitsbefürworter kamen vornehmlich aus der Mittelschicht: Juristen, Pfarrer, Journalisten und Händler, einige auch aus der Oberschicht der "mantuanos", darunter Simón Bolívar und Francisco Miranda, ein radikaler Antikolonialist und als "Wegbereiter der Unabhängigkeit" verehrt.

    Die Unabhängigkeit würde auch das Ende der Sklaverei bedeuten, fürchteten die reichen Plantagenbesitzer. Darauf wollten sie auf keinen Fall verzichten. Die Junta verbot den Sklavenhandel, aber nicht die Sklaverei. Sie rief außerdem zu Wahlen für einen Nationalen Kongress auf.

    "Die Bürger wurden nun in zwei Klassen geteilt: die Wahlberechtigten und die Nichtwahlberechtigten. Letztere hatten keine Besitztümer. Sie konnten deshalb weder wählen, noch gewählt werden."

    Strenge Besitzkriterien schlossen die große Mehrheit der Bevölkerung aus: sowohl freie Farbige, als auch die zahlreichen Mischlinge, von den Sklaven ganz zu schweigen.

    Schließlich gelang es den Radikalen ihr Hauptziel durchzusetzen: Am 5. Juli 1811 erklärte der Nationalkongress die Unabhängigkeit Venezuelas. Noch im selben Jahr erarbeitete dieser die erste Verfassung des südamerikanischen Landes. Von Freiheit und Gleichheit war die Rede.

    "Die Gleichheit war nur eine Illusion. Die Sklaven blieben Sklaven, nur der Handel mit ihnen blieb verboten. Die Unabhängigkeit weckte so Hoffnungen, erstickte sie aber gleichzeitig."

    Vor allem in der nichtweißen Bevölkerungsmehrheit. Enttäuscht schlossen sich viele den Verteidigern der spanischen Krone an.

    Die Erste Republik war von kurzer Dauer. Schon ein gutes Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung versank Venezuela in einen blutigen Bürgerkrieg - zwischen Monarchisten und Republikanern.

    Erst die politische Weitsicht Simón Bolívars leitete eine Wende ein. Ihm war klar geworden, dass ohne soziale Reformen die Bevölkerungsmehrheit nicht zu gewinnen war. Er forderte deshalb die Freiheit der Sklaven und eine gerechte Landverteilung. Bolívar und seine Gefolgsleute siegten über die Spanier. 1819 wurde die von Bolívar ersehnte Republik Großkolumbien gegründet – ein Gebiet, das die heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien, Ecuador und Panama umfasste. Aber erst nach dem Zerfall Großkolumbiens wurde Venezuela ein souveräner Nationalstaat. Das war am 6. Mai 1830.