Dienstag, 23. April 2024


Globalisierung kümmert sich nicht um Vaterländer

Wird es die nächsten 50 Jahre so weiter gehen, dass wir in schöner Regelmäßigkeit einen so genannten neuen Patriotismus zum öffentlichen Thema machen, um dann staunend festzustellen, dass man darüber sprechen und halb sorgend, halb triumphierend konstatieren kann, er sei nun ungefährlich und begrüßenswert geworden? Was ist denn im letzten Sommer geschehen? Und was motiviert diese regelmäßigen Anfragen, vor allem in den Medien?

Von Gesine Schwan | 27.09.2006
    Es ist wahr, begünstigt durch das blendende Sommerwetter, hat sich in Deutschland unter den Deutschen selbst und auch unter den Gästen während der Fußball-Weltmeisterschaft eine unerwartet heitere Versammlungsfreude entfaltet, an vielen Autos flatterten Fähnchen in den deutschen Nationalfarben - dies war eine neue Mode -, und die Überraschung über das gute Abschneiden der deutschen Mannschaft löste Frohsinn aus. Wäre das alles genauso geschehen, wenn kaltes und regnerisches Wetter die Weltmeisterschaft begleitet hätte? Vermutlich wären die Fanmeilen leerer geblieben, das Bier danach in der lauen Sommernacht wäre ausgefallen, und die Begeisterung hätte sich in Grenzen gehalten, weil sie sich in geschlossenen Räumen hätte abspielen und damit aufsplittern müssen.

    Die spürbare Freude der Gäste wie der Deutschen rührte, so meine ich, zunächst aus der unerwarteten Chance, Tag und Nacht, ja bis spät in die Nacht hinein gemeinsam zu feiern - mit der Betonung auf gemeinsam: Alle hatten dasselbe Thema, die jeweiligen Spielergebnisse und historische Vorläufer, alle konnten sich auf Erlebnisse beziehen, die sie gemeinsam erfahren hatten und die sie einten. In einer medial weitgehend zersplitterten Öffentlichkeit stiftet es Gemeinsamkeit, wenn man sich über dasselbe Erlebnis austauschen kann, über Schichten, Regionen, Generationen und nationale Grenzen hinweg. Das kommt einem Bedürfnis entgegen, das man geradezu als anthropologische Konstante bezeichnen mag: dem Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit. In manchen amerikanischen Städten hat man schon vor Jahren die Einsicht, dass gemeinsame Themen ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl auslösen können, praktisch umgesetzt und jeweils ein "Buch" des Jahres ausgerufen, das dann in Schulen, Kirchengemeinden, Freundschaftskreisen gelesen wurde und die Städte geistig hat zusammenwachsen lassen.

    Zur Freude der Deutschen hat vermutlich auch beigetragen zu sehen, dass man selbst bei uns mit eigenwilligen Schritten ein Ziel erreichen kann, das alle schon aufgegeben hatten. Das war eine Freude der Ermutigung und mag auch in Zukunft dazu anregen, sich auf Neues einzulassen und nicht immer schon zu wissen, dass sowieso alles schief geht.

    Erleichterung war auch darüber zu spüren, dass es nicht zu extremistischen Ausschreitungen kam, im Gegenteil: Die Deutschen feierten ihre Siege mit Humor, was auf Selbstdistanz, Menschenfreundlichkeit und Gelassenheit verweist und bisher nicht zu ihren auffälligsten Stärken gehört hatte, aber gerade auf Gäste sympathisch wirkt und für freiheitliche Gesellschaften sehr förderlich ist. Und sie konnten mit Freude Dritter werden. Das hat mir besonders gut gefallen, weil diese Eigenschaft die politische Kultur der Demokratie stärkt und dem gegenwärtig vorherrschenden Wettbewerbsgerede, nach dem man überall erster und exzellent sein muss, um etwas zu gelten, eine andere Erfahrung entgegensetzt.

    Zeigt das alles einen neuen Patriotismus? Ich halte diese Frage für verkrampft und veraltet, ob sie nun aus Sorge oder mit Hoffnung ausgesprochen wird. Dahinter steht ein Paradigma, das die Welt in Nationalstaaten aufteilt, die durch Patriotismen zusammengehalten werden (sollten). Unsere Gesellschaften sind weltweit immer dynamischer, immer durchmischter, durch Einwanderung und beschleunigte Mobilität. Die globale Ökonomie kümmert sich nicht um Vaterländer. Das ist ein vermutlich unumkehrbares Ergebnis der Globalisierung und fordert uns heraus, in den neuen gesellschaftlichen Mischungen mit ihren Konflikten und ihren möglichen Bereicherungen nach Wegen zu suchen, die Zugehörigkeit und in der Folge auch Zusammengehörigkeit begünstigen. Auf beides sind gewaltfreie Gesellschaften und der erforderliche Grundkonsens demokratischer Politik angewiesen.


    Der breiten Öffentlichkeit wurde Gesine Schwan 2004 bekannt, als sie die Kandidatin von SPD und Grünen für das Bundespräsidentenamt war. In ihrer Partei, der SPD, sorgte die 1943 in Berlin geborene, renommierte Politikwissenschaftlerin schon in den 80er Jahren für Aufsehen, unter anderem mit ihrer Kritik an dem aus ihrer Sicht zu laxen Umgang der SPD mit den kommunistischen Regimen. Seit 1999 ist sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

    Zu ihrem Essay hat Gesine Schwan Frédéric Chopins Nocturne, Es-Dur, op. 9, Nr. 2, ausgewählt.