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Glosse
Die Epidemie der Schnullerbücher

Der Handlungsdruck von Eltern kleiner Kinder ist enorm. Entsprechend groß ist das Bedürfnis nach Rat und Hilfe. Vor allem Bücher über Schnuller gibt es in Hülle und Fülle. Nicht alle sind beim Abgewöhnen des Nuckels hilfreich.

Von Dina Netz | 17.02.2018
    Ein Kleinkind hängt in Berlin seinen Nuckel an einen Schnullerbaum
    Wie wird das Kind den Schnuller los? Etliche Ratgeberbücher versuchen darauf eine Antwort zu geben, manche empfehlen den Schnullerbaum (imago/Marius Schwarz)
    Eltern von unter Dreijährigen sind enorm hilfsbedürftig. Was gilt es nicht in den ersten Jahren alles zu bewältigen: Erst dem Kind das Trinken an der Brust oder aus der Flasche an- und dann wieder abgewöhnen. Die Einführung von Brei und direkt danach von Essen, das man kauen muss. Der Umstieg von der Windel aufs Töpfchen und dann aufs Klo. Die Gewöhnung an fremde Betreuungspersonen bei einer Tagesmutter oder im Kindergarten. Vielleicht kommt auch noch ein neidvoll verhasstes Geschwisterchen zur Welt. Die Liste ließe sich fortsetzen.
    Der Handlungsdruck von Kleinkind-Eltern ist also enorm. Und entsprechend groß ist das Bedürfnis nach Rat und Hilfe. Nun sind immer weniger Eltern von Rat und Hilfe-Quellen wie zum Beispiel einer Großfamilie umgeben. Viele greifen deshalb zu Kinderbüchern. Nichts dagegen - eine liebevoll und originell erzählte Geschichte mit sympathischen Figuren kann beim Kind wesentlich mehr auslösen als das ständige Bitten und Betteln der Eltern. Ohne die Geschichte vom kleinen Bären, der Zähne putzen muss und mit einem Zahnbürstenschwert in den Kampf gegen kleine grüne "Bakterien"-Monster zieht, würden wir uns mit unserem Dreijährigen wohl heute noch Ringkämpfe beim Zähneputzen liefern. Das Buch von Jutta Langreuter und Vera Sobat ist übrigens vergriffen. Vermutlich, weil darin der Bären-Vater Pfeife raucht.
    Viele Klassiker sind nicht mehr lieferbar
    Auch der frühere Klassiker zum Thema trocken werden ist nicht mehr lieferbar: "Max und die Windel" von Barbro Lindgren. Darin pinkelt Max nämlich genüsslich auf den Parkett-Boden, was seiner Mutter ziemlich missfällt, seine kleinen Leser hingegen sehr amüsiert. Kinder haben ein sehr genaues Gespür dafür, wann eine schöne Geschichte en passant eine Botschaft hat und wann ein Buch ihnen krampfhaft etwas beibringen will. Solche Bücher landen sehr schnell in der hintersten Ecke des Bücherschranks.
    Ein frappierendes Beispiel für letzteren Fall ist die jüngste Epidemie von Schnullerbüchern. Dabei warnen Kinder- und Zahnärzte die Eltern von Neugeborenen zunächst dringlich vor dem Daumenlutschen und empfehlen - den Schnuller. Kaum ist das Kind aber wenige Monate alt, verursacht nach Expertenmeinung wiederum der Schnuller irreparable Schäden am Gaumen und muss so schnell wie möglich weg.
    Natürlich ist der Schnuller ein wichtiges Thema. Eine Einschlaf- und Beruhigungshilfe loszuwerden, gehört zu den Königsdisziplinen der Kleinkind-Erziehung. Insofern wundert es nicht, dass es Schnullerbücher gibt wie Sand am Meer. Aber wie immer, wenn die Nachfrage groß ist, wird auch viel Schund auf den Markt gespült.
    Für fast jeden Vornamen gibt es ein Buch
    Die meisten Schnuller-Bücher kommen mit unter 20 Seiten aus. In fast allen behauptet wahlweise ein Elternteil oder ein anderes Kind, der Paul oder die Emma sei doch jetzt schon groß und brauche keinen Schnuller mehr. Dann nimmt Paul oder Emma brav den Schnuller raus, legt ihn weg und vermisst ihn auch gar nicht. Das ist in etwa so realistisch wie Babys, die immer durchschlafen.
    Natürlich gibt es auch wenige ganz hinreißende Bücher zum Schnuller Abgewöhnen. Im Klassiker wiederum von Barbro Lindgren verteidigt Max seinen Schnuller gegen Hund, Katze und Ente. In "Ich brauche keinen Schnuller mehr" von Regina Schwarz suchen die Kinder originelle Schnuller-Entsorgungs-Rituale. Eins lässt seinen zum Beispiel von einem Luftballon davontragen. Aber die allermeisten Bücher heißen "Jakob und sein Schnuller", "Lucas und sein Schnuller", "Oskar braucht keinen Schnuller mehr", "Lilli braucht keinen Schnuller mehr" oder "Sami und der Schnuller". Ungefähr so stark wie ihre Titel unterscheiden diese Bücher sich auch inhaltlich. Immerhin brauchen hilfesuchende Kleinkind-Eltern nicht lange zu überlegen, welches Buch sie nehmen: Es gibt fast für jeden Vornamen eins. Und wer sich für einen wenig gebräuchlichen Namen entschieden hat, kann sicher bald auch personalisierte Schnullerbücher kaufen. Das dürfte die wirklich allerletzte Marktlücke in diesem Segment sein.