Samstag, 20. April 2024

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Glosse zum Waldgipfel in Sachsen
Kleine Kulturgeschichte von Wald und Gipfel

In Sachsen findet aktuell der Waldgipfel zum Zustand des deutschen Waldes statt. Damit vereine die CDU zwei Naturerscheinungen, die das deutsche Empfinden besonders charakterisieren: den Wald und den Gipfel, meint Jan Drees und vermutet: Dies könnte der Beginn einer neuen Poesie sein.

Von Jan Drees | 01.08.2019
Sonnenuntergang
Naturschutzgebiet am Bergkamm: Der Schliffkopf im Nordschwarzwald. (dpa / picture alliance / chromorange / Jürgen Feuerer)
Der große Dichter Christoph Martin Wieland, bekannt durch seine "Geschichte des Agathon", prägte die Redewendung vom Wald, den wir vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Inzwischen besteht unser Umweltproblem darin, dass wir den Wald deshalb nicht mehr sehen, weil es kaum noch Bäume gibt.
Die damit verbundenen Sorgen führen zum Waldgipfel, der uns ein geradezu literarisches Oxymoron schenkt - denn wo ein Gipfel ist, da findet sich selten ein Wald. Baumgrenze heißt hier das Stichwort.
Drohende Apokalypse in "Wandrers Nachtlied"
Bleiben wir beim Dichterischen, denn selbstverständlich stellt sich die Union mit ihrem Waldgipfel in eine große Ahnenreihe. Wir denken an Johann Wolfgang von Goethe, dessen bekanntestes Gedicht "Wandrers Nachtlied" aus diesen wenigen Zeilen besteht, die sich durchaus apokalyptisch lesen lassen als Gegenüberstellung von ökologischem Ist-Zustand und drohender Auslöschung allen Lebens. Ob Goethe dies geahnt hat, als er schrieb:
"Über allen Gipfeln
Ist Ruh
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch.
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde,
Ruhest du auch."
Unvergessen ist ebenso "Der Spaziergang" Friedrich Hölderlins, hymnisch anhebend mit diesen Versen:
"Ihr Wälder schön an der Seite,
Am grünen Abhang gemalt,
Wo ich umher mich leite,
Durch süße Ruhe bezahlt."
"Wenn der Wald stirbt, stirbt auch die Nation"
Wieland, Goethe, Hölderlin: Braucht es weitere Beispiele, um die Bedeutung des Waldes für die deutsche Gestimmtheit hervorzuheben? Der Wald und die heimische Seele, sie sind seit langen Jahren miteinander verknüpft. Wenn der Wald stirbt, so stirbt auch die Nation. Tiefer zu stapeln oder geringer zu denken käme einer Entwürdigung gleich. Deshalb reicht es nicht, zu dichten. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, in persona zugleich Bundeswaldministerin, sagte am heutigen Morgen im Deutschlandfunk:
"Wir sind das Bundeswaldministerium und wir forschen massiv seit Jahren, geben viel, viel Geld dafür aus, dass wir auch beratend zur Seite stehen, aber jetzt vor allen Dingen auch mit Geldern zur Verfügung stehen, um räumen zu können die Wälder und dann aber auch standortangepasst wieder aufforsten zu können."
Zeitgenössische Wald- und Wiesenliteratur
Die deutsche Literatur hat längst aufgeforstet, ist also vorausgegangen mit Bildern, Vorschlägen und Ideen, die nun bitteschön aus der poetischen Sphäre heraus-, in die wahre Wirklichkeit eintreten sollten. In wenigen Wochen wird zum dritten Mal der Deutsche Preis für Nature Writing verliehen, erinnernd an die Bedeutung der zeitgenössischen Wald- und Wiesenliteratur mit Titeln wie "Hain", "Wilde Wälder" oder "Die Kieferninseln".
Aber genug gedichtet. Beim Waldgipfel der CDU geht es handfest um den Abtransport von Totholz, in das sich der Borkenkäfer einzunisten pflegt, um die sogenannte Bundeswaldinventur und um eine aktive Waldbewirtschaftung. Die lyrische Verknüpfung von Kapitalismus und Wald, sie wird kommen – und wir können uns schon jetzt freuen auf jene zahlreichen Wortschöpfungen, die nach dem "Waldgipfel" folgen werden. Wie das gehen kann, haben die Theatermacher von Rimini-Protokoll vor zehn Jahren vorgemacht in einem Hörspiel für den Deutschlandfunk. Titel: "Waldeinsamskype".
Mögen die Dichterspiele beginnen.