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Glutvoller Klassizist

Er ist nicht so bekannt wie Rubens und Rembrandt. Dennoch spielt Annibale Carracci eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Malerei. Zusammen mit seinem Bruder Agostino und seinem Vetter Ludovico begründete er die Kunstschule von Bologna. Ohne den traditionsstolzen und zugleich vorwärts stürmenden Italiener gäbe es nicht die leidenschaftlich bewegten Bilder des Barock.

Von Wolf Schön | 15.07.2009
    Feierlich schreitende Klänge des römischen Komponisten Palestrina, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Päpsten als viel beschäftigter Kapellmeister diente. Die klaren Harmonien stehen im Gegensatz zu der Unruhe, die im Zeitalter der Glaubenskonflikte weite Bereiche von Religion und Kultur erfasste. Auch die Malerei steckte in einer tiefen Krise. Nach dem Ableben Raffaels und Michelangelos dümpelte die Kunst in den seichten Gewässern des Manierismus und ergötzte ihr Publikum mit virtuosen Spielchen ohne tiefere Bedeutung. Was so schmerzlich vermisst wurde, war die "gran maniera", der große Stil, das heißt: die Beherrschung bedeutender Themen.

    Um 1600 rissen dann zwei überragende Talente das Steuer herum und prägten eine Epoche, die mit dem Markenzeichen Barock die verblasste Glorie der Ewigen Stadt wieder zum Strahlen brachte. Einer der beiden Überwinder des quälenden Leerlaufs war Caravaggio, der mit dramatischen Beleuchtungseffekten und einem drastischen Naturalismus für Aufregung sorgte. Zum einflussreichen Gegenspieler des skandalumwitterten Revolutionärs war Annibale Carracci bestimmt, dem es vergönnt war, Maß und Ordnung der Hochrenaissance mit triumphalem Schwung wiederauferstehen zu lassen. Die Bedeutung des glutvollen Klassizisten ist daran zu ermessen, dass ihm nach seinem Tod am 15. Juli 1609 im Pantheon ein Grabmal neben dem göttlichen Raffael errichtet wurde.
    Fünf Jahrzehnte später urteilte der führende Barockbildhauer Bernini über den wegweisenden Malerkollegen:

    "Alles Gute hat er zusammengefasst: die graziöse Linie Raffaels, die gründliche Anatomie Michelangelos, die vornehme Malweise Corregios, das Kolorit Tizians und die Fantasie von Giulio Romano oder Mantegna."

    Auch Goethe zählte zu den Bewunderern des traditionsbewussten Meisters, der seinerseits so berühmte Schüler wie Guido Reni oder Dominichino auf Erfolgskurs geschickt hat. 1786 notierte der Italienreisende aus Weimar:

    "Ich habe die Freskogemälde von Dominichin in Andrea della Valle, ingleichen die Farnesische Galerie von Carracci gesehen. Freilich zu viel für Monate, geschweige für einen Tag."

    In der Tat: Keine Zeit der Welt scheint auszureichen, um den Reichtum an Malereien an der gewölbten Decke des Farnese-Palastes zu ergründen. Der Hausherr, Kardinal Odoardo, hatte Carracci 1595 aus Bologna nach Rom berufen. Für den Kirchenfürsten schuf Annibale einen Himmel voll von antiken Göttern, die in festlicher Atmosphäre den Freuden der Liebe huldigen. Die eigenständigste Leistung erbrachte Carracci, als er dem ererbten Personal der Vorbilder pulsierendes Leben einhauchte. Dazu der Kunsthistoriker Erich Hubala:

    "Man hat den Eindruck, als wäre die Klassik in die frische Sprache einer zweiten Natur übersetzt worden. Selbstvergessen, in Haltung und Stimmung gelockert, handeln und geben sich die Figuren. Eine neue Art von Heiterkeit umgibt sie und äußert sich in ihnen."

    Bereits in Bologna, wo er 1560 geboren wurde, hatte Annibale eine Kunstakademie betrieben, deren Lehre vom Studium der Wirklichkeit ausging. Das unmittelbar Lebendige, "il vivo", wurde in zahllosen Zeichnungen festgehalten. Das eigene Leben hat Carracci dagegen nicht in den Griff bekommen. Im reichen Rom, wo gewaltige Vermögen zur Verherrlichung der Kirche ausgegeben wurden, konnte er nicht verhindern, dass ihn der mächtige Farnese-Kardinal schäbig wie einen Handwerker entlohnte und ihm das erhoffte Sozialprestige verwehrte. Depressionen und körperlicher Verfall verdüsterten die letzten Jahre. Schwermütig und verbittert suchte der Begründer der Barockmalerei vergeblich Trost, fand ihn auch nicht in seinem künstlerischen Ruhm.