Samstag, 20. April 2024

Archiv


Göring-Eckardt: "Durchregieren" funktioniert nicht

Angesichts zunehmender Proteste gegen Entscheidungen von Parlamenten fordert die Bundestagsvizepräsidentin die Politiker auf, stärker auf Bedenken der Bürger einzugehen. Göring-Eckardt verwies auf das umstrittene Projekt "Stuttgart 21".

Katrin Göring-Eckardt im Gespräch mit Friedbert Meurer | 14.10.2010
    Friedbert Meurer: Am Telefon begrüße ich Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist auch Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Guten Morgen, Frau Göring-Eckardt!

    Katrin Göring-Eckardt: Schönen guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Dass was wir im Moment erleben, der Protest auf der Straße, richtet sich das letztlich gegen die Parlamente?

    Göring-Eckardt: Nein, das glaube ich nicht, dass es sich gegen die Parlamente richtet, weil der Protest ja immer deutlich macht, wir wollen, dass ihr uns einbezieht, wir wollen, dass ihr euere Meinung ändert. Insofern nicht gegen die Parlamente, sondern eher dagegen, dass Politiker gewählt sind und dann sich nicht mehr um die Frage kümmern, was ist eigentlich jetzt an Problemen dran, was treibt die Menschen eigentlich um. In Hamburg ist ja die Volksabstimmung vor dem Parlamentsbeschluss auch deutlich gemacht worden und in Stuttgart sieht man aus meiner Sicht, dass die Idee, dass man jetzt einfach mal durchregieren könnte, einfach was durchsetzen könnte, was eben nun einmal beschlossen worden ist, dass das nicht mehr funktioniert.

    Meurer: An dieser Demonstration kann keiner vorbeiregieren. Das haben wir eben gehört. An dieser Demonstration kann keiner vorbeiregieren. Was heißt das anderes als Entmachtung eines Parlaments?

    Göring-Eckardt: Zunächst mal muss man ja sagen, dass da auch Parlamentarier mit auf der Straße sind. Es ist ja nicht so, dass man irgendwie sagen kann, da ist auf der einen Seite das Parlament und auf der anderen Seite ist das Volk, sondern es gibt eine Regierung in Stuttgart, die sagt, wir wollen das durchsetzen, was wir einstmals beschlossen haben, und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die jetzt sagen, Moment mal, sind denn eigentlich die Bedingungen noch so, dass wir das einfach durchsetzen können, sind eigentlich die Bedingungen noch so, dass das so weitergeht.

    Meurer: Aber die Parlamentarier sind aus der Opposition! Das ist ja Oppositionsarbeit sozusagen via Demonstration.

    Göring-Eckardt: Ja. Das sind ja trotzdem auch Parlamentarier. Deswegen ist für mich diese pauschale Ansage "gegen das Parlament" nicht richtig. Man kann ja auch sagen, man unterstützt die Opposition im Parlament, damit sich etwas ändert. Ich glaube, diese Gegenüberstellung stimmt so nicht, sondern es ist eher die Haltung – das kann man in Stuttgart ja ganz gut beobachten -, dass man sagt, hier wird ohne Rücksicht auf das, was uns jetzt umtreibt, hier wird ohne Rücksicht auf finanzielle Entwicklungen, die ja in einem Ausmaß anders sind als bei den Beschlüssen, dass man sich es kaum vorstellen kann, hier wird einfach so weitergemacht, als wäre nichts geschehen. Und ich glaube, es gibt eine sehr große Verunsicherung insgesamt. Das hat - Herr Geißler hat das gestern gesagt – auch mit der Finanzkrise zu tun und mit allem, was damit zusammenhängt. Und die Menschen sagen, wenn ihr nicht aufmerksam genug seid, dann wollen wir euch aufmerksam machen, und zwar auch mit aller Deutlichkeit.

    Meurer: Führt die Verunsicherung vieler Menschen dazu, dass sie sagen, oder dass sie doch daran zweifeln, ob denn im Parlament wirklich in ihrem Sinne regiert und beschlossen wird?

    Göring-Eckardt: Das kann ein Motiv sein. Ich glaube, es gibt übrigens ganz unterschiedliche Motive dafür, auf die Straße zu gehen. Ein anderes Motiv kann sein, dass Menschen sich nicht genügend informiert fühlen, und ein Drittes kann sein, dass man sagt, wir wollen die Argumente, die im Parlament vorgebracht werden, heftig unterstützen, und zwar indem wir deutlich machen, sie sind auch für uns wichtig und wir sagen das nicht nur zu Hause im Fernsehsessel, sondern wir sagen es auch auf der Straße. Das ist ja auch eigentlich eine ganz normale Situation, das hat es ja nicht erst seit jetzt gegeben. Ich kann mich erinnern, dass es bei mir zu Hause in der Stadt Weimar und auch in anderen Thüringer Städten riesige Protestaktionen gab, weil Theater geschlossen werden sollten, wo Menschen auch auf die Straße gegangen sind, Unterschriften gesammelt haben und damit ihrer Stadtregierung, ihrer Landesregierung deutlich gemacht haben, wir wollen eine andere Politik. Es heißt ja nicht, dass man einmal zur Wahl geht und dann die Verantwortung abgibt, und es heißt auch für Politiker nicht, sie sind einmal gewählt und können dann machen was sie wollen, sondern natürlich findet Demokratie auch zwischendurch statt.

    Meurer: Sie haben jetzt, Frau Göring-Eckardt, zwei Beispiele genannt, unter anderem Stuttgart und dann das mit den Theatern, von denen ich mal sage, das sind Anliegen der Grünen, Kulturpolitik, gegen "Stuttgart 21". Was würden Sie denn sagen, wenn via Volksabstimmung entschieden wird, die Atommeiler bleiben noch 50 Jahre am Netz?

    Göring-Eckardt: Zunächst einmal muss man sagen, in Hamburg haben wir eine Situation gehabt, wo in einer Volksabstimmung gegen ein Anliegen der Grünen entschieden worden ist. Deswegen sagen die Grünen nicht, sie sind jetzt plötzlich und unerwartet gegen Volksabstimmungen, sondern sie sagen, gut, dann müssen wir damit umgehen, dass es eine andere Mehrheit in dieser Stadt gibt. Das macht das Parlament dort auch, das machen die Grünen dort auch.

    Meurer: Die Mehrheit im Parlament war überwältigend für die Schulreform, aber die Gegner haben es geschafft, das zu kippen in Hamburg.

    Göring-Eckardt: Richtig, die Gegner haben es geschafft, das zu kippen. Da muss man sich auch überlegen, warum das so gewesen ist. Es ist ja auch ganz offensichtlich so gewesen, dass diejenigen, die davon profitieren sollten, auch nicht mobilisierbar waren. Das ist auch eine Frage, wie man mit solchen Volksabstimmungen umgeht, wie überzeugend man als Politiker eigentlich ist, wenn man der Meinung ist, in die eine oder andere Richtung muss entschieden werden. Das ist, glaube ich, auch was Neues für die Politik, dass sie tatsächlich auf andere Weise überzeugen muss.

    Was die Frage der Atomkraft angeht: Ehrlich gesagt, das ist immer so eine Frage an Politiker, was machen sie eigentlich, wenn dann. Bei der Atomkraft ist es, glaube ich, so, dass wir schon sehr, sehr lange eine eindeutige gesellschaftliche Mehrheit dafür haben, dass wir aussteigen aus der Atomkraft in Deutschland, und deswegen muss ich ehrlich sagen, darum würde ich mir jetzt nicht so viele Gedanken machen. Aber Volksabstimmung ist Volksabstimmung und das kann man sich nicht aussuchen, nach dem Motto, solange es die eigenen Positionen unterstützt, passt einem, und dann passt es einem eben nicht mehr.

    Meurer: Nicht aussuchen kann man sich auch die Einstellung der Wahlbevölkerung. Gestern hat die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie vorgestellt, wonach inzwischen jeder Vierte in Deutschland angeblich ausländerfeindlich sei, jeder Vierte. Glauben Sie das?

    Göring-Eckardt: Das macht mir große Sorge. Wir wissen ja schon seit einigen Jahren, dass Ausländerfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Wir wissen, dass Antisemitismus bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Das macht mir riesige Sorgen und ich glaube, wir müssen uns vor allem eines sagen: Wir dürfen es nicht durchgehen lassen, dass das sozusagen auch von der offiziellen Gesellschaft, also von der Politik mit Herrn Sarrazin, der ja da zumindest dazugehört hat, weiter geschürt wird. Auch solche Worte, wie sie von Herrn Seehofer kommen in den letzten Tagen, die geben natürlich Menschen, die das Gefühl haben, hier könnte irgendwas passieren, was wir nicht mehr im Griff haben, die geben denen noch Recht und Unterstützung.

    Meurer: Nur sind Sarrazin und Seehofer Schuld, oder diejenigen, die Probleme unter den Teppich kehren?

    Göring-Eckardt: Also zunächst mal: Bei rechtsextremen, bei ausländerfeindlichen Einstellungen muss man erst mal die fragen, die sie haben. Ich gehöre auch nicht zu denen, die sagen, jetzt suchen wir mal ganz viele Gründe, warum sie die haben dürfen, sondern das ist ganz klar: In unserer Demokratie soll man deutlich sagen, das wollen wir nicht. Zweitens: Natürlich müssen Probleme angesprochen werden und sie müssen hoffentlich auch gelöst werden. Gerade beim Thema Integration haben wir eher eine Situation, wo man sagen muss, wenn man weniger Geld für Integrationskurse ausgibt und sich dann darüber aufregt, dass die Migranten nicht genügend Deutsch können, dann ist das irgendwie eine relativ einfache Sache und da kann man sagen, da muss man eine andere Politik machen. Aber egal wie, die Frage, ob man mit Worten, mit falschen Tatsachenbehauptungen etc. solche Einstellungen auch noch schürt, die ist eine, die mir zusätzlich große Sorgen macht.

    Meurer: Das war Katrin Göring-Eckardt, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages von Bündnis 90/Die Grünen, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Vielen Dank, Frau Göring-Eckardt. Auf Wiederhören!

    Göring-Eckardt: Vielen Dank, Herr Meurer! Auf Wiederhören!