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Goldener Reiter

"Macht" ist eine gewachsene Gruppe von Leuten, die über die Jahre nicht gewartet hat, dass sie jemand auffordert, was einzusenden oder mal zu lesen irgendwo, die auch nicht den Weg gegangen ist, ihre Manuskripte über fünfzig Stationen irgendwohin zu schicken und zu hoffen, dass irgendetwas passiert, sondern die einfach gesagt hat: Wir haben Spaß an Literatur, wir wollen das jetzt ganz direkt vermitteln. Sprich: die sich eine eigene Öffentlichkeit geschaffen haben. Sie hat literarische Clubs gegründet und Geschichten einfach vorgelesen. Und mit durchschlagendem Erfolg. Und man musste den Umweg über die Vermittler nicht gehen. Und das ist eine gemeinsame Erfahrung von sechs Jahren gewesen, die wir jetzt bündeln.

Detlef Grumbach | 15.07.2002
    Seit etlichen Jahren hat sich neben der Off-Theater-Szene auch eine "Off-Literatur-Szene entwickelt. In Diskotheken und Clubs treffen sich ein junges Publikum und die Autorinnen und Autoren und gestalten literarische Events. Texte werden unter der direkten Reaktion des Publikums gelesen, über Erfolg oder Misserfolg wird in einem Augenblick entschieden: Gelingt es der Person auf der Bühne, ihre Zuhörer zu fesseln, trifft sie den richtigen Ton - oder funktioniert der Text nicht, weckt er bloß Langeweile? In Hamburg hat sich aus dieser Szene die Gruppe "Macht" formiert, und erstmals werden jetzt "bühnenerprobten Texte" dieser Gruppe, wie es heißt, gebündelt auch dem Lesepublikum vorgestellt. "Macht - organisierte Literatur" heißt eine Anthologie, in der neben vielen unbekannten Autorinnen und Autoren auch solche publizieren, die in den letzten Jahren aus der Gruppe heraus den Sprung in den Literaturbetrieb geschafft haben, darunter Stefan Beuse, Karen Duve, Marcus Jensen oder Lou A. Probsthayn. In diesem Frühjahr treten darüber hinaus einige Mitglieder der Gruppe "Macht" mit Roman-Debüts an die literarische Öffentlichkeit und zeigen, dass sie nicht nur für das öffentliche Event, sondern auch für den Lesesessel zu Hause das richtige anzubieten haben. Hier ist zum einen Tina Uebel mit ihrem Buch "Ich bin Duke" zu nennen, aber auch Michael Weins mit seinem Roman "Goldenen Reiter". Weins:


    Das eine ist auf jeden Fall die Schule für das andere gewesen, um erst einmal das Handwerk zu lernen. Um die Erfahrung zu sammeln, wenn ich hier etwas streiche, wenn ich hier noch etwas straffe, dann verliere ich die Leute nicht. Und Aufmerksamkeit mag bei Lesen noch etwas anderes sein, als beim Zuhören, aber ich glaube schon, dass man allgemeine Sachen auch lernt. Und das kann man als Handwerk dann auch auf die längere Strecke anwenden. Ich selber wünsche mir vom Lesen noch etwas anderes als vom Zuhören, also für mich muss ein Text eine größere Nachhaltigkeit, eine größere Tiefe haben, einen Roman zu schreiben ist etwas anderes als eine Kurzgeschichte für die Bühne, wo ich weiß, ich will auf Effekte.

    Der Titel seines Romans ist dem Schlager Joachim Witts entlehnt, der zu Beginn der achtziger Jahre zum Hit wurde und noch heute ein Ohrwurm ist. Die Botschaft von der Kälte und Einsamkeit in der Großstadt, vom Wahnsinn und vom unausweichlichen Absturz wird in dem Song jedoch durch die gefällige Melodie durchaus in den Hintergrund gedrängt. Im Weins Roman dagegen geht es genau darum: Jonas Fink lebt mit seiner Mutter am Stadtrand von Hamburg. Die Lärmschutzmauer der Autobahn, das Einkaufszentrum und schließlich das Irrenhaus bilden die Koordinaten, zwischen denen er sich bewegt.

    "Was machst du?", fragt Jonas seine Mutter, die dauernd vor sich hin kichert und mit sich selbst spricht. Ihre Antwort - "Das macht man halt manchmal, wenn man allein ist." - befriedigt ihn nicht. Er beobachtet sie, wie sie beispielsweise im Wartezimmer eines Arztes Donald-Duck-Hefte liest und kichert. "Meine Mutter ist nicht meine Mutter", denkt er beschämt. "Sie soll sich wie eine Mutter verhalten."

    "Was machst du?", fragt Jonas seinen Freund, der mit seinem Chemiebaukasten experimentiert. Jonas will ihn aus dem Haus locken, zusammen mit ihm auf dem Fahrrad herumfahren, aber er weiß nicht, wie. Einerseits ist er noch ein Kind, das träumt und spielt und sich behütet fühlen möchte und dadurch irritiert wird, dass seine Mutter manchmal noch kindischer ist als er. Andererseits ist er auf dem Weg, erwachsen zu werden, will er die Welt entdecken, spürt er, wie sich alles ändert. Es könnte ein ganz normaler Junge und eine ganz normale Pubertät sein, von dem der 1971 in Köln geborene und heute in Hamburg lebende Autor erzählt, doch von Beginn an ist irgendetwas anders. Weins erzählt in knappen Sätzen, kleinen Episoden, die oft nur durch einzelne Formulierungen wie die Frage: Was machst du? zusammenhängen, ausschließlich aus der Perspektive des Jungen. Er zeigt ihn also nicht in einem gewachsenen, funktionierenden Umfeld, sondern in einer befremdlich wirkenden Disparität. Und seine Mutter wird wirklich Schritt für Schritt verrückt. Weins:

    Es gibt ein paar Freunde für den Jungen, die Mutter hat scheinbar keinen Bekannten- oder Freundeskreis. Es gibt Familie, aber die kommunizieren an einer sprachlichen Oberfläche entlang, wo einfach nur Hallo, wie gehts? gesagt wird, der Junge macht das mit den Freunden ähnlich. Es gibt also ein sehr reduziertes Umfeld nur, die Familie greift nicht, hilft nicht, und Schule kommt nicht vor als Ort. Das ist eine Welt der Oberflächen und keiner schaut dahinter. Also die Familie, die es dort gibt, die schafft keine Geborgenheit. Die einzige Figur, die es geben könnte, die näher ist, ist die Mutter, aber gerade die verändert sich ja. Sie zeigt eine Seite, die für den Jungen letztendlich schrecklich ist. Also hier greift etwas nicht mehr, hier geht etwas über den Rahmen des Normalen hinaus und das darf nicht so sein. Ich glaube, er ist fixiert auf die Beobachtung, und die Sprache, hoffe ich, bildet das auch ab: diese Zwanghaftigkeit, dieses Denken, alles in die Form des Vorgegebenen, des Normalen reinzupressen bitteschön, und sich alles um so größer anzugucken, je weniger es übereinstimmt mit den Folien, die er vorher hatte.

    Weins nimmt seinem Protagonisten im Übergang vom Kind zum Erwachsenen, in dieser Phase der Ambivalenz das Wichtigste, was ein junger Mensch in ihr braucht: Geborgenheit, das Grundvertrauen, dass die Erwachsenenwelt funktioniert. Teils mit einer distanzierten Neugier, wie in einer Versuchsanordnung, teils betroffen - besorgt, befremdet oder beschämt -, zunehmend aber auch von einer existentiellen Angst begleitet, beobachtet er seine Mutter in Situationen, die nicht "normal" sind, muss er sogar auf sie aufpassen. Und wie der Goldene Reiter stürzt die Mutter schließlich ab und wird in die Klinik eingewiesen. Einerseits fällt damit eine Last von Jonas ab: Er wird freier und kann sich ganz "erwachsen" um seine Mutter kümmern, sie im Krankenhaus besuchen, mit Wäsche versorgen. Andererseits bewegt er sich wie in einem Niemandsland. "Ich würde gerne sagen, dass ich froh bin, allein zu Hause zu sein." So denkt Jonas über seine Lage nach: "Dass es gut ist, dass meine Mutter im Krankenhaus ist und ich nachts nicht mehr aufwachen muss, um auf sie aufzupassen. Aber dass sie mir trotzdem fehlt und es gut ist, wenn jemand da ist, der einen morgens weckt und abends Gute Nacht sagt. Für ein Kind ist es gleichzeitig gut und schlecht, eine verrückte Mutter im Krankenhaus zu haben. Das würde ich gerne sagen."

    Aber er kann es nicht. Mit wem soll er darüber sprechen? Diese Hilflosigkeit unterscheidet - so Michael Weins - Jonas Situation von der vieler Erwachsener, nicht ihre Ursache. So weist der Roman mit der Fokussierung auf die Pubertät auch auf ein generelles Problem unserer Gesellschaft. Weins:

    Für mich ist das interessant gewesen, weil dann die ganzen Bewältigungsmechanismen, die wir uns antrainiert haben beim Erwachsenwerden: Wie gehe ich mit Situationen, die mich genauso hilflos machen wie in der Kindheit, wie gehe ich damit um?, da hat man sich viel Gewohnheiten antrainiert, der Verstand hat sich geschult, man kann alles wuppen, beißt die Zähne zusammen und macht das irgendwie. Kinder und Jugendliche sind mehr auf diese Ohnmacht und Hilflosigkeit zurückgeworfen, die wir in vielen Situationen auch fühlen, glaube ich, aber in der wir uns helfen können und Kinder können das noch nicht so.

    Vor zwei Jahren haben etliche Autorinnen und Autoren der Gruppe "Macht" das sogenannte "Hamburger Dogma" unterzeichnet. Das Dogma legt Regeln fest, nach denen geschrieben werden soll: nur eine Perspektive verwenden, kurze Sätze, nur im Präsenz schreiben, keine gebrauchten Metaphern, keine wertenden Adjektive verwenden, und so weiter. Ein Experiment, um zum einen in der Begrenzung der sprachlichen Mittel den Umgang mit Wörtern zu schulen. Weins:

    Der andere Punkt ist der, dass wir es einfach interessant finden, dass man über sprachliche Mittel spricht. Und ich weiß nicht momentan, wo das so diskutiert würde. Es gibt gerade in der neueren deutschen Literatur oft eine sprachliche Grenzenlosigkeit, nur uns hat es eben mal interessiert, bewusst Grenzen zu setzen in den Mitteln. Um mal darüber zu reden: Wie sehen wir Sprache? Wie erzählt man heute? Also das Medium Sprache einfach mal unter die Lupe zu nehmen.

    Im Geiste des "Hamburger Dogmas" wurde auch der Roman "Goldener Reiter" geschrieben. Wie Jonas selbst beobachtet der Autor genau, registriert mit engem Fokus, ohne jede Totaleinstellung, was sein Held sieht und hört. Fast wie mit Scheuklappen blickt er auf seine Figur. So entsteht einerseits eine manchmal sogar beklemmende Nähe, stehen die einzelnen Situationen anderseits nebeneinander wie die lose herumliegenden Teile eines Puzzles. Das Ganze, das anrührende und irritierende Bild dieses Jonas Fink, der am Ende mit seiner Mutter wieder in eine gemeinsame Zukunft blickt, setzt sich erst im Kopf des Lesers zusammen.