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Gorbatschows zwiespältige Rolle

Im August 1991 scheiterte ein Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der gleichwohl den Zerfall der UdSSR beschleunigte. Nun sind Akten öffentlich geworden, die belegen, dass "Gorbi" keineswegs so ein aufrechter Reformer war, als der er international gefeiert wird.

Von Gesine Dornblüth | 15.08.2011
    Im Westen wird Michail Gorbatschow oft gefeiert. Geehrt wird er dafür, dass er die ehemaligen Sowjetrepubliken friedlich in die Unabhängigkeit entließ. Ob das tatsächlich so war, und welchen Anteil Gorbatschow damals an der Gewalt hatte, ist bis heute unklar.

    Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre begehrten die Menschen an den Rändern des Riesenreiches gegen Moskau auf. Die Sowjetmacht schickte daraufhin Panzer. Im georgischen Tiflis fielen sowjetische Soldaten mit Giftgas und geschärften Spaten über friedliche Demonstranten her. Das war 1989. 20 Menschen starben vor dem Parlamentsgebäude. Die Künstlerin Eka Bibileischwili war damals 14 Jahre alt.

    "Wir haben gewohnt in der Nähe vom Parlamentsgebäude, und meine Schule war auch neben Parlamentsgebäude. Wir saßen alle vor Fernseher oder Radiogeräten und haben versucht, Informationen zu bekommen, und wir hatten unglaublich große Angst."

    Gorbatschow behauptet bis heute, von dem brutalen Einsatz in Tiflis erst Stunden später erfahren zu haben. Wer ihn angeordnet habe, wisse er nicht. Eka Bibileischwili kann sich das nicht vorstellen.

    "Er hat natürlich auch mitgewirkt, dass diese Panzer und diese Gewalt eingesetzt wurde gegen Menschen. Wer sonst? Das ist ja ein wichtiges Merkmal von diesem ganzen sowjetischen Regime, und Gorbatschow hat es auch nicht anders gemacht als vorherige Herrscher."

    Bis heute ist auch unklar, welche Rolle Gorbatschow bei den blutigen Ereignissen im litauischen Vilnius spielte. Im Januar 1991 rückten sowjetische Panzer zum Fernsehzentrum in Vilnius vor. Sondereinheiten töteten 14 Menschen. Die "Blutnacht von Vilnius" beschäftigt die Justiz bis heute. Die Staatsanwaltschaft Litauens erwägt derzeit einen Europäischen Haftbefehl gegen das damalige sowjetische Staatsoberhaupt.

    Schon vor Jahren hat ein russischer Historiker Akten gefunden, die Gorbatschows angeblich friedliche Rolle während der Auflösung der Sowjetunion in Frage stellen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hat kürzlich Auszüge aus diesen Akten veröffentlicht. Darin bezeichnet Gorbatschow die friedlichen Demonstranten in Tiflis als "notorische Sowjetfeinde", die die Perestrojka gefährdeten. Die blutigen Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens in der chinesischen Hauptstadt Peking mit vermutlich 3000 Toten kommentierte er, laut Spiegel, mit den Worten: "Sie müssen sich verteidigen, so wie wir auch. 3.000 - na und?"

    Gorbatschow denkt indessen über eine Rückkehr in die Politik nach. Er will eine Sozialdemokratische Partei gründen. Dem russischen Radiosender "Echo Moskwy" sagte er vor wenigen Wochen:

    "Wir müssen das Land modernisieren, das Bildungswesen, die Medizin, ja die Demokratie insgesamt weiter entwickeln. Das tritt bei uns auf der Stelle. Demokratie wird nur imitiert.
    Uns fehlt eine starke Volkspartei, eine sozialdemokratische Partei, die sich für kleine und mittlere Unternehmer einsetzt."

    Gorbatschow gibt sich einmal mehr als Reformer. Noch vor wenigen Jahren hatte er Vladimir Putin nach Kräften unterstützt. Im nun einsetzenden Wahlkampf macht er Stimmung gegen den Premierminister und dessen Partei "Einiges Russland".

    "Ich glaube, auf "Einiges Russland" darf man nicht setzen. Die Partei zieht uns zurück - ganz nach dem Geschmack Putins, der den Status Quo bewahren möchte. Er will die Macht behalten, aber keine Probleme lösen."

    International ist Gorbatschow wegen solcher Äußerungen nach wie vor beliebt. In Russland hat er aber kaum Aussichten auf ein Comeback. Gerade ältere Russen verbinden den Namen Gorbatschow mit Chaos und Kriminalität.

    Irina Motytschko sitzt in ihrem Lehnstuhl und schaut aus dem Fenster. Die alte Dame ist über 80 und lebt in St. Petersburg. Vor dem Fenster steht ein Baum, aber Gitter stören den Blick ins Grüne.

    "Überall sind Gitter vor den Fenstern. Die Stadt ist ja voller Banditen. Daran ist die Perestrojka schuld. Das verdanken wir alles Gorbatschow."

    Wie eine Umfrage ergab, ist der letzte Präsident der Sowjetunion fast der Hälfte der Bürger Russlands heute schlichtweg egal.