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Graf Rumford

Man nehme getrocknete gelbe Erbsen, Suppengrün und Liebstöckl, Perlgraupen und Kartoffeln und die harten Brotkanten der letzten Wochen. Alles zusammen in einen Topf geben, aufkochen, durch ein Sieb passieren und mit durchwachsenem Speck garnieren. Fertig ist der Nahrungsbrei, der Millionen Menschen in aller Welt, vornehmlich in den Armenhäusern und Armeen des 19. Jahrhunderts, vom nagenden Hunger befreite. Was heute wie eine triviale Resteverwertung aussieht, war gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine nahrungsphysiologische Revolution: die Rumfordsuppe. Benannt nach einem Abenteurer, politischen Hasardeur, Naturwissenschaftler und Frauenhelden, der in den Umbruchzeiten zwischen amerikanischer Unabhängigkeitserklärung, französischer Revolution und europäischer Reaktion geschickt zwischen den Fronten agierte, mal der einen, mal der anderen Seite als Spion diente und immer noch genügend Zeit zur Weltverbesserung fand. Die Münchner verdanken ihm den Englischen Garten, die Briten die "Royal Institution" – ein bis heute bestehendes Wissenschaftskolleg –, und der Rest der Menschheit theoretische Erkenntnisse über Thermodynamik, aus denen ganz praktische Anwendungen wie hellere Öllampen, bessere Herde und wärmere Öfen resultierten.

Florian Felix Weyh | 26.06.2003
    Wer war dieser "Graf Rumford", der eigentlich Benjamin Thompson hieß und dem europäischen Adel, dem er so erfolgreich diente, eigentlich nicht ferner hätte stehen können? Geboren 1753 im US-Staat Massachusetts erwarb er schon als Pubertierender erstaunliche naturwissenschaftliche Kenntnisse, las, experimentierte und forschte im Selbststudium. Sein eigentlicher Coup gelang ihm, als er mit neunzehn Jahren eine reich verwitwete Pfarrerstochter heiratete. Im genealogisch unkomplizierten Amerika bahnte ihm dies den sozialen Aufstieg. Als reicher Mann stand er im Unabhängigkeitskrieg auf Seite der Briten, was ihm die Flucht aus der jungen Ehe ermöglichte, denn in seinem Heimatort wurde er nach dem Sieg der Revolutionäre zur Persona non grata. Der königstreue Amerikaner schiffte sich nach London ein, wo er rasch an Ansehen und politischem Einfluss gewann, doch mit dreißig Jahren am Ende aller Aufstiegsmöglichkeiten angelangt zu sein schien. So setzte er auf seinen Nimbus als exotischer Ausländer und brach zum Kontinent auf, wo zahllose Fürstenhöfe nach Söldnern und Beratern suchten. Auf dem Weg nach Wien blieb er in Bayern hängen, allerdings nicht als kämpfender Soldat, sondern als Militär- und Sozialreformer. Das heutige Freizeitareal des Englischen Gartens diente ursprünglich nämlich der Versorgung von Soldaten, bot ihnen Möglichkeiten, sich gärtnerisch zu betätigen. Eine Idee Benjamin Thompsons, wie Armenhäuser und Suppenküchen auch. Im bayrischen Kurfürsten Karl Theodor, der mit seinem mittelgroßen Reich geschickt zwischen den Großmächten lavierte, fand Thompson einen generösen Förderer, was ihm spätestens nach der Adelung zum "Grafen Rumford" eine ganze Armee von Neidern und Gegner bescherte. Noch mehrfach wechselte er die Fronten, heiratete in zweiter Ehe die Witwe des berühmten französischen Physikers Lavoisier und starb 1814 als Amerikaner, Brite, Bayer und Franzose in Paris.

    Das ganze 19. Jahrhundert hindurch blieb er durch seine Erfindungen – allen voran die Rumford-Suppe – im Gedächtnis der Zeitgenossen, heute kennt ihn kaum noch jemand, nur Grass-Lesern dürfte er aus dem "Butt" vertraut sein. Leider wird sich mit der vorliegenden Biographie des emeritierten britischen Chemieprofessors George I. Brown an diesem Umstand wenig ändern. Das atemraubend vielschichtige Leben des Grafen mit seinen komplizierten politischen Implikationen lässt sich kaum auf 200 Taschenbuchseiten erzählen, und wer das wagt, muss notwendigerweise fast tabellarisch vorgehen. Obwohl die Übersetzerin Anita Ehlers die deutschen Episoden ausführlicher dokumentiert, als es das englische Original tut, rauscht das Leben des Grafen Rumford am Leser nur so vorbei. Die vielfältigen amourösen Eskapaden, unabdingbare Mittel des Aufstiegs und der Diplomatie, werden abgehakt, selbst technische Einschübe, in denen Erfindungen und Entdeckungen zur Sprache kommen, bleiben kurzatmig und trotz aller Bebilderung unplastisch. Das Verdienst von Brown liegt darin, auf eine historische Gestalt hingewiesen zu haben, die einer echten Monographie mit komplett ausgewerteten bayrischen Quellen noch harrt. Dass man Benjamin Thompson alias Graf Rumford auch zum Helden von Romanen und Filmen machen könnte, legt der Stoff nahe, nicht aber seine vorliegende Aufbereitung. Die beschränkt sich auf die spröde Chronistenpflicht und lässt anmutige Pirouetten der literarischen Kür vermissen.