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Grauzonen des Daseins

Auch wenn der vierzigjährige Gilles Rozier zu den so genannten "Nachgeborenen" gehört, hat ihn die Geschichte seiner Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr geprägt: Einer seiner Großväter war Deutschlehrer, der andere wurde in Auschwitz ermordet. Gilles Rozier selbst zu seinem biografischen Selbstverständnis:

Von Dominique Vogel | 04.05.2004
    Man kann nach dem zweiten Weltkrieg geboren und trotzdem in Auschwitz ermordet worden sein. Und irgendwie gehört das zum Leben derjenigen, die in den 60er Jahren auf die Welt gekommen sind. Mütterlicherseits wurde ich gewissermaßen in Auschwitz ermordert, und väterlicherseits habe ich unter der deutschen Besatzung leiden müssen, mit all den Fragen, die dazugehören.

    Gilles Roziers Roman Eine Liebe ohne Widerstand handelt auch von anderen historischen Erfahrungen, die nicht untypisch für seine Generation sind. Es war eine Erfahrung des "Entweder-Oder", des "Für und Wider". Es war ein Leben in Gegensätzen.

    Ich wurde in einer Zeit geboren, in der es grundsätzlich nur große Helden und scheußliche Kollaborateure gab. Die Widerstandskämpfer aus der Résistance wurden als sehr mutige Menschen betrachtet, die Kollaborateure als sehr schwache [...]. Meiner Generation hat man darstellen wollen, dass man entweder das eine oder das andere war, und dass es nichts dazwischen gab, aber nach und nach, aus der Distanz der Geschichtsschreibung, als Zeitzeugen nicht mehr so leidenschaftlich über die Besatzungszeit geredet haben, da konnte man feststellen, dass Entscheidungen manchmal aus Zufall getroffen werden, oder von zufälligen Begegnungen oder Verpflichtungen abhängen.

    Es ist eine dieser zufälligen Begegnungen, die im Roman das große Durcheinander der Besatzungszeit an den Tag bringen. Das namenlose Erzähler-Ich hat sich völlig angepasst und – wie es selbst zugibt - vom Alltag begraben lassen: Es unterrichtet Deutsch in einer Provinzstadt nahe an den Vogesen und erledigt Übersetzungen, zunächst für den französischen Generalstab, später für die Gestapo. Sein einziger Widerstandsakt besteht darin, in einem Kellerloch im Elternhaus eine geheime Bibliothek einzurichten, für verbotene deutsche Schriftsteller. Bis dieses Erzähler-Ich in einem plötzlichen Impuls, eher zufällig, einen Warschauer Juden vor dem Abtransport ins Vernichtungslager rettet, und ihn mehr als zwei Jahre lang in diesem Loch versteckt. Herman, der versteckte Jude, nährt gewisse körperliche Begierden des Ich-Erzählers. Im ganzen Roman bleibt offen, ob dieser Ich-Erzähler, ein Anti-Held, männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Aus dieser Ungewissheit entstehen das Geheimnis und die Spannung des Romans: "Eine Liebe ohne Widerstand".

    Als ich anfing zu schreiben war mir das Geschlecht der Erzählerfigur klar, aber nach dreißig Seiten fand ich, dass irgendetwas fehlte, und so bin ich auf dieses Schreibverfahren gekommen. Ich muss dazu sagen, dass ich von der Oulipo, der Werkstatt für potentielle Literatur, sehr beeindruckt bin, u. a. von Georges Pérecs Werk, und so ist dies zu meiner persönlichen potentiellen Literatur geworden. Aber natürlich kommt es vor allem dadurch dem Text zustatten, dass es eine zusätzliche Unbestimmtheit mit einbringt: Es ist eine Geschichte, bei der nicht auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Bösen stehen, man weiß manchmal nicht so recht, wer welche Rolle spielt, und dadurch konnte ich die Konturen noch etwas mehr verwischen.

    Der lakonische Stil des Autors verstärkt den Eindruck der Unauflösbarkeit der Gegensätze und verwirrt den Leser. Rozier inszeniert in seinem Roman parallel zwei skandalöse Liebesgeschichten. Während sich Goi und Jude im Kellerversteck lautlos auf dem Boden lieben, lässt sich die Schwester des Erzähler-Ichs im ersten Stock von einem SS-Mann vögeln. Ihre Lustschreie hallen durch das ganze Haus. Der nüchterne Kommentar dazu lautet: "Sie glich ihrem Land: leicht zu haben."

    Mein Schreibstil beruht unter anderem auf einem Überraschungseffekt, es gefällt mir, ab und zu den Leser wachzurütteln, sei es durch eine unerwartete Beschleunigung innerhalb eines eher ruhigen Erzählstrangs, oder durch das Hineinplatzen des Komischen mitten in eine bedrückte Stimmung. Das Nebeneinander zweier sehr drastisch erotischen Szenen in ein und demselben Haus, die eine im ersten Stock, die andere im Keller, das war für mich ein Mittel, das Bedrückende an dem Verstecktsein in diesem Haus noch zu intensivieren.

    Das Versteckspiel geht schließlich so weit, dass es nicht nur sprichwörtlich eine Leiche im Keller gibt. Das Erzähler-Ich ermordet den Liebhaber seiner Schwester und begräbt ihn in dem Versteck. Jude und SS-Mann, Eros und Thanatos, jiddische und deutsche Sprache -geradezu zwillingshaft sind die beiden Antagonisten aneinander gekettet.

    Die gemeinsame Heine-Lektüre im Kellerloch, auf jiddisch oder auf deutsch, feuern die skandalöse Liebesbeziehung noch an. Besonders das Heinrich-Heine-Gedicht "Ein Fichtenbaum steht einsam". Es besingt die Sehnsucht der sich anziehenden Gegensätze, die Liebe der Tanne zum Fichtenbaum, oder – so Rozier - des Würmchens zum Stern, wie es bei Victor Hugo heisst.

    Bei dem Gedicht kommt es bei der Übersetzung ins Französische und ins Jiddische zu interessanten Verschiebungen. Im Deutschen ist der Fichtenbaum ein männliches Substantiv und die Palme ein weibliches, während im Französischen auch die Palme – "le palmier" – männlich ist. In der Übersetzung haben sie getrickst – mit "la palme" -, aber normalerweise ist es männlich. Und im Jiddischen ist es wieder etwas ganz Anderes. Jedenfalls hat mir das ermöglicht, die Frage der geschlechtlichen Identität in den Mittelpunkt des Mottos zu stellen.
    Ursprünglich wollte der promovierte Judaist Gilles Rozier ein Essay über die verwickelten Beziehungen der jiddischen und der deutschen Sprache schreiben. Er vertritt eine ganz andere Sicht auf den Holocaust als es die Geschichtsschreibung gemeinhin tut. Eine gleichsam linguistische Sicht.

    Bei Gesprächen mit Freunden, mit Intellektuellen, ist mir aufgefallen – das klingt jetzt ein bisschen drastisch -, dass es vielleicht kein Zufall ist, wenn gerade die Deutschen den Völkermord an den Juden begangen haben, das könnte auch etwas mit der engen Beziehung zwischen beiden Sprachen zu tun haben. Ja, so radikal es auch klingen mag. Und es sind diese engen Beziehungen, diese "liaisons dangereuses", die ich mit dieser Geschichte versinnbildlichen wollte.

    Zum Glück hat sich der Romancier Rozier - und nicht der Philologe in ihm - durchgesetzt. Die Vielschichtigkeit dieser gefährlichen Liebschaften kommt in seiner pkrovozierenden Geschichte eindrucksvoll zum Tragen. In einem lakonisch-humorvollen Ton gelingt es Gilles Rozier, die Grauzonen des Daseins in existentiellen Extremsituationen literarisch konsequent darzustellen. Eine spannende Lektüre, in jeder Hinsicht.

    Gilles Rozier
    Eine Liebe ohne Widerstand
    DuMont, 168 S., EUR 16,90