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Gravitationskonstante
Die Schwere der Schwerkraft

Die Konstante G beschreibt die Gravitationskonstante. Bisher ist sie nur auf zwei Nachkommastellen genau beziffert, genauere Ergebnisse würden ganz neue Möglichkeiten etwa in der Quantengravitation eröffnen - aber Physiker verzweifeln daran.

Von Frank Grotelüschen | 28.09.2014
    Der Physiker und Philosoph Sir Isaac Newton auf einem Gemälde der Royal Society, London
    Isaac Newton führte 1686 die Gravitationskonstante in die Physik ein. Wie sie genau lautet, ist bis heute umstritten. (dpa/picture alliance)
    Die Sackgasse führt in den Hamburger Volkspark, zu Hundewiese und Kletterturm. An ihrem Ende, versteckt hinter Bäumen, liegt ein Relikt aus vergangenen Forschertagen - die Halle H1. Sie gehört zu HERA, einstmals der größte Teilchenbeschleuniger Deutschlands. 2007 wurde der Sechs-Kilometer-Ring abgestellt und eingemottet - und mit ihm, 20 Meter tief im Untergrund, die Halle H1.
    Doch nun wird wieder geforscht in der Halle H1. Ein Team aus zwölf Physikern hat sie in Beschlag genommen, einer von ihnen ist Hinrich Meyer. Mit dem Fahrstuhl ist er hinabgefahren, nun läuft er an einigen Überresten des stillgelegten Giganten vorbei - einem Teilchendetektor, groß wie ein Haus.
    "Vom H1-Detektor steht noch eine ganze Menge. Ist immer noch ein eindrucksvolles Gerät."
    Hinter dem Koloss versteckt sich - nicht ganz so eindrucksvoll - Meyers Versuchsaufbau.
    "Da ist also das Experiment. Was man sieht, sind Granitbalken, auf denen die Massen laufen, die wir benutzen, um unser Instrument, was sich im Vakuum befindet, anzusteuern."
    Ein luftleeres Metallrohr, abgeschirmt durch Blöcke aus Beton, daneben zwei mattgoldene Zylinder, knapp so groß wie Mülltonnen. Damit will Meyer eine Grundkraft der Natur neu vermessen - die Gravitation.
    "Das sind zwei große Messingzylinder. Die wiegen ein bisschen über eine halbe Tonne. Und wir werden das einsetzen, um eine sehr präzise Messung der Gravitationskonstanten zustande zu bringen."
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    Die derzeit gültige Formel für die Berechnung der Gravitationskonstante (SI/CODATA)
    Die Gravitationskonstante. Eine der fundamentalen Größen der Natur.
    Gary Gibbons, theoretischer Physiker, Universität Cambridge: "Die Gravitation beherrscht den Kosmos. Und damit kontrolliert die Gravitationskonstante das Geschehen im ganzen Kosmos."
    Wie stark wirkt die Schwerkraft zwischen zwei Massen? Das verrät groß G, wie Physiker die Gravitationskonstante auch nennen - nicht zu verwechseln mit klein g, der Erdbeschleunigung. Für groß G gilt: Würde man die Kraft zwischen zwei Massen, die exakt ein Kilogramm wiegen und genau einen Meter voneinander entfernt sind, präzise messen, käme der Wert der Gravitationskonstanten heraus.
    "Und wenn man die Gravitationskonstante kennt, kann man daraus die Masse der Erde ausrechnen. Je genauer wir also groß G messen können, umso genauer kennen wir auch die Masse der Erde."
    Isaac Newton vermutete erstmals eine Gravitationskonstante
    Erstmals ins Spiel kam die Gravitationskonstanten 1686, als Isaac Newton sein legendäres Gravitationsgesetz vorstellte. Auch für die Theorien von Albert Einstein ist sie unerlässlich.
    "Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ist die bislang beste Theorie der Gravitation. Groß G ist darin äußerst wichtig. Denn Einsteins Theorie sagt, dass Raum und Zeit durch die Anwesenheit einer Masse gekrümmt werden. Und um sagen zu können, wie stark diese Krümmung ist, braucht man die Gravitationskonstante."
    Nun gibt es aber keine Formel, mit der sich die Konstante ausrechnen ließe. Kein Gesetz sagt, wie groß sie sein muss. Der Wert von groß G - die Physiker müssen ihn mühsam nachmessen. Das Problem:
    "Verglichen mit anderen Naturkräften ist die Gravitation außerordentlich schwach. Und deshalb ist es extrem schwierig, den Wert für groß G präzise zu messen."
    Während man andere Naturkonstanten bis auf Millionstel oder gar Milliardstel genau kennt, ist die Gravitationskonstante gerade einmal bis zur dritten Stelle hinterm Komma fix - eine Schlappe, die Präzisionsphysiker so nicht hinnehmen wollen. Und so versuchen sie mit immer neuen Experimenten, einen genaueren Wert zu finden. Ein Job für Leute mit Geduld. Für Forscher mit einem gewissen Hang zu Akribie und Fleißarbeit.
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    Die Gravitationswaage des BIPM in Paris. 2013 lieferte sie einen überraschend hohen Wert für die Newtonsche Gravitationskonstante. (University of Birmingham/BIPM, Terry Quinn)
    Terry Quinn, Ex-Direktor des BIPM, des Internationalen Büros für Maß und Gewicht, Paris: "Vom Prinzip her ein einfaches Experiment. Wir versuchen, die Anziehung zweier Massen im Labor möglichst genau zu messen. Wir haben mit einer sogenannten Drehwaage gearbeitet. Das ist eine Hantel, die an einem Metallfaden über einem Drehtisch hängt. Auf diesem Drehtisch sind massive Metallzylinder montiert. Diese Zylinder ziehen durch ihre Schwerkraft die Hantelköpfe an und lenken sie ein wenig aus ihrer Ruhelage aus. Es war zwar nur eine winzige Bewegung, aber sie lässt sich sehr genau messen."
    Henry Cavendish vermaß 1797 G
    Im Grunde eine Hightechvariante jenes Experiments, mit dem Henry Cavendish 1797 erstmals den Wert von groß G bestimmt hatte. Der Brite hatte eine Bleihantel an einem Faden aufgehängt und zwei schwere Gewichte einmal rechts und einmal links danebengestellt. Durch deren Schwerkraft wurden Hantel und Faden ein wenig verdreht.
    Die Auslenkung war so mickrig, dass Cavendish sie nur mit einem Trick nachweisen konnte: Am Faden befestigte er einen Spiegel und verfolgte den an einer Wand entlang wandernden Schein einer reflektierten Kerzenflamme. Immerhin: Mit seiner primitiven Apparatur konnte Cavendish den Wert von groß G bis auf ein Prozent genau bestimmen. Ein Messfehler, mit dem sich Quinn und sein Team natürlich nicht zufriedengeben wollten. Zwei Jahrzehnte lang trachteten sie in ihrem Labor in Paris danach, jede noch so kleine Störung unter Kontrolle zu bringen.
    Clive Speake, Physiker an der Universität Birmingham: "Zunächst mussten wir es schaffen, die Temperatur im Labor möglichst stabil zu halten. Das gelang uns mit einer speziellen Klimaanlage. Dann mussten wir herausfinden, wie schwer die Metallstücke waren und wie sich die Masse in ihnen verteilte. Dazu ließen wir sie extrem genau wiegen. Schließlich mussten wir die Positionen der Hantel und der Metallgewichte extrem präzise vermessen. Auch das hat jede Menge Zeit gekostet. Alles in allem mussten wir unseren Versuchsaufbau bis ins letzte Detail verstehen."
    2001, nach Jahren der Tüftelei, veröffentlichten Speake und Quinn einen ersten Wert. Das Ergebnis war irritierend: Der Wert lag deutlich über dem aus allen anderen Experimenten. Speake und Quinn trauten ihrer Messung nicht so recht - und beschlossen, das Experiment noch einmal neu aufzubauen, von Grund auf. Das einzige, was vom alten Aufbau übrig blieb, waren der Drehtisch und die Metallgewichte. Erneut folgten Jahre akribischer Detailarbeit: Wie ließen sich die Positionen der Gewichte noch präziser feststellen? War der Granitblock, der als Fundament des Aufbaus diente, auch wirklich massiv genug, um alle störenden Erschütterungen zu dämpfen? Und reichte das Vakuum in der Versuchskammer, um sicherzustellen, dass kein Luftzug den Versuch verfälschte?
    Endlich, im Herbst 2013, veröffentlichten Quinn und Speake ihr neues Resultat - sehnlich erwartet von der Fachwelt, die gehofft hatte, es läge deutlich näher an den Werten anderer Experimente. Aber:
    "Auch unser neuer Wert ist - ebenso wie der alte - viel höher als die Ergebnisse aller anderen Experimente. Damit haben wir jetzt endgültig die Situation, dass es mehrere unterschiedliche Werte für die Gravitationskonstante gibt."
    Neue Experimente bringen neue Ergebnisse
    Ein Schock. Statt das Problem zu lösen, haben es Quinn und Speake weiter verschärft. Denn schon seit den 90ern war alle paar Jahre eine Forschergruppe vorgeprescht und hatte einen neuen Wert für groß G präsentiert. Einen Wert, der nur ausnahmsweise mit den Resultaten der anderen Gruppen übereinstimmte. Das Jahr 2000, der Versuch von Seattle.
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    Experiment zur Messung der Gravitationskonstante an der Universität Zürich. (NIST/Stephan Schlamminger)
    "Das ist ziemlich stressig. Man weiß nie, ob da irgendein Fehler drin sein kann, den man nicht erkannt hat."
    Jens Gundlach, University of Washington
    "Das raubt einem den Schlaf."
    Ebenso wie Quinn und Speake nutzte auch Jens Gundlach das Prinzip der Drehwaage, allerdings mit einigen anderen Tricks. Das Resultat liegt deutlich unterhalb des Wertes von Quinn und Speake.
    Das Jahr 2006, der Versuch von Zürich.
    "Ein Experiment dauert im Schnitt ungefähr zehn Jahre."
    Stephan Schlamminger, heute National Institute of Standards and Technology, Gaithersburg, USA.
    "Und es ist sehr schwierig für einen Außenseiter, ein anderes Experiment zu beurteilen."
    In seiner Zeit an der ETH Zürich hatte Schlamminger eine hochempfindliche Balkenwaage gebaut. Als Gewichte dienten Tanks mit Quecksilber, insgesamt 13 Tonnen. Schlammingers Wert stimmt ziemlich genau mit dem aus Seattle überein. Ein Hoffnungsschimmer.
    Das Jahr 2010. Der Versuch von Colorado.
    Harold Parks, Sandia National Labs, Albuquerque, USA: "Es kann jede Menge schiefgehen. Wir glauben zwar, alles richtig gemacht zu haben. Aber immer, wenn man mitten in der Nacht aufwacht, fällt einem wieder etwas ein, was das Experiment beeinflusst haben könnte."
    Parks hat die Gravitationskonstante mithilfe zweier spezieller Pendel bestimmt. Sein Resultat stieß die Experten vor den Kopf: ein Wert deutlich kleiner als die Ergebnisse aus Zürich und Seattle - und noch viel kleiner als das von Terry Quinn und Clive Speake aus Paris. In Paris wurden etwas mehr als 6,672 gemessen, in Colorado waren es deutlich über 6,675. Zwar nimmt jedes dieser Experimente für sich in Anspruch, das Ergebnis bis auf die vierte Stelle hinterm Komma genau gemessen zu haben. Doch die Werte der Experimente unterscheiden sich bereits in der dritten Stelle hinterm Komma. Ein Fiasko für die Präzisionsphysiker.
    Die widersprüchlichen Messdaten haben Folgen für den amtlichen Wert von groß G. Den legt alle vier Jahre ein Komitee namens CODATA fest. 2010, bei der letzten Festlegung, musste CODATA den Unsicherheitsbereich des Wertes schon erhöhen. Groß G ist damit weniger genau bekannt als vier Jahre zuvor. Und für die nächste Festlegung Ende dieses Jahres droht neues Ungemach, sagt Stephan Schlamminger.
    "Ich denke mal, dass es wahrscheinlich noch mal größer sein wird. Richtig frustrierend!"
    Ein genauer Wert von groß G ist mehr als bloßer Selbstzweck, mehr als die Marotte einiger Präzisionsfetischisten. Theoretiker wie Gary Gibbons würden ihn liebend gerne kennen, allein schon um sich einen alten Traum zu erfüllen:
    "Ein exakter Wert für groß G könnte uns helfen, endlich Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantenphysik zu verschmelzen. Quantengravitation, so nennen wir diese Theorie, die wir aber noch nicht gefunden haben. Wüssten wir den Wert der Gravitationskonstanten sehr viel präziser, könnte uns das bei der Entwicklung der Quantengravitation durchaus weiterbringen."
    Auswirkungen auf andere Theorien
    Während Einstein die Welt im Großen beschreibt, Planeten, Sterne und Galaxien, widmet sich die Quantenphysik der Welt im Kleinen, also Molekülen, Atomen und subatomaren Teilchen. Das Problem: Beide Theorien passen partout nicht zusammen, zum Teil widersprechen sie sich sogar. Eine Nuss, die die Physiker bis heute nicht geknackt haben. Bislang gibt es nur spekulative Ideen. Die prominenteste ist die Stringtheorie. Sie nimmt an, dass sämtliche Materie aus unmessbar kleinen, schwingenden Saiten besteht, den Strings. Und in dieser Theorie passiert etwas Ungewöhnliches mit groß G.
    "Die Stringtheorie legt nahe, dass groß G gar keine Konstante ist. Sie geht davon aus, dass der Wert der Gravitationskonstanten in Wirklichkeit von Raum und Zeit abhängt."
    Anders als bei Einsteins Allgemeiner Relativität vermutet man in der Stringtheorie, dass die Schwerkraft zu Beginn des Universums ein wenig stärker oder schwächer war als heute. Und dass sie in fernen Winkeln des Kosmos etwas stärker oder schwächer ist als hier bei uns. Das alles, weil die Gravitationskonstante in Wirklichkeit gar keine Konstante ist. Ließen sich solche Abweichungen im Wert von groß G nachweisen, wäre das ein Fingerzeig darauf, dass an der Stringtheorie tatsächlich etwas dran ist. Das Problem:
    "Die Schwankungen dürften äußert klein sein - zu klein, um sie im Moment messen zu können."
    So könnte es sein, dass sich die Schwankungen erst ab der achten Stelle hinterm Komma zeigen. Bekannt ist der Wert von groß G heute nur bis auf die dritte Stelle hinterm Komma. Und damit gibt es derzeit keine Chance, die verräterischen Schwankungen aufzuspüren. Das wäre jedoch möglich, würde es endlich gelingen, die Gravitationskonstante deutlich genauer bestimmen.
    Manch ein Physiker geht sogar noch weiter: Jeder der Versuche, so die Argumentation, lief unter etwas anderen Bedingungen ab. Sollten nun die Gesetze der Gravitation gar nicht universell sein, wäre es gar kein Wunder, dass die Experimente zu widersprüchlichen Ergebnissen für groß G kommen. Die Diskrepanz wäre also gar kein Ärgernis, sondern ein spektakulärer Fingerzeig auf eine neue Physik, sagt Clive Speake.
    "Es wäre wundervoll, wenn sich die Abweichungen gar nicht als Messfehler entpuppen, sondern als Zeichen für eine neue, bislang unentdeckte Physik. Dann wären die unterschiedlichen Resultate Konsequenz einer neuen, aufregenden Theorie. Das wäre großartig! Allerdings muss ich sagen, dass die bisherigen theoretischen Ideen, die diese Unterschiede erklären sollen, nicht sonderlich brauchbar sind. Deshalb konzentrieren wir Experimentalphysiker uns lieber darauf, unsere Versuche besser zu verstehen und die Messfehler so gut wie möglich in den Griff zu bekommen."
    Tüfteln an der Lösung
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    Ein Blick in das Gravitationsexperiment am Forschungszentrum DESY in Hamburg. In dem luftleer gepumpten Metallgefäß verbergen sich zwei Spezialpendel. (Frank Grotelüschen)
    Und so tüfteln die Physiker unverdrossen weiter. Auch das Team in Hamburg will es noch einmal wissen - auch, wenn neun der zwölf Physiker bereits im Ruhestand weilen. Im Team finden sich respektable Wissenschaftler wie Erich Lohrmann. Als ehemaliger Forschungsdirektor des Teilchenforschungszentrums DESY zählte er zu den wichtigsten Teilchenphysikern der Bundesrepublik. Auch Hinrich Meyer ist ein Mann mit Vergangenheit: An der Uni Wuppertal hatte er schon einmal einen international viel beachteten Versuch zur Messung von groß G aufgebaut. Diesen Versuch will er nun mit deutlich verbesserter Technik wiederholen - in Hamburg, in der alten, eingemotteten Halle H1. Mit ihrer Kellerlage 20 Meter tief im Untergrund bietet sie die besten Voraussetzungen.
    "Es ist sehr ruhig hier. Und wir haben einen sehr stabilen Aufbau gewählt, damit sich das Ganze nicht bewegt. Wir hoffen auch, dass die Temperaturänderungen keinen zu großen Einfluss auf das Experiment haben."
    Meyer zeigt auf den Versuchsaufbau. Wuchtige Betonblöcke, so zusammengestellt, dass sie einen Raum bilden - ziemlich eng, aber relativ hoch. Der Zugang: Ein enger Spalt, in dem eine Schaumstoffmatte steckt, die Wärmeisolierung. Mit einem Ruck reißt sie Meyer herunter.
    "Und jetzt können wir hier reingehen. Jetzt muss ich mal sehen, wo der Schalter ist. Nee, das ist er nicht. Wo ist er denn?"
    Dann findet ihn Meyer doch noch und der Blick fällt auf einen metallenen Zylinder, 1,50 Meter im Durchmesser und vier Meter hoch.
    "Hier ist das untere Ende. Und es hängt in der Luft. Das Ganze ist oben elastisch aufgehängt, sodass es sich sehr wenig bewegt."
    Der Zylinder ist luftleer gepumpt. In ihm hängen an Angelschnüren zwei Pendel, in einem Abstand von 40 Zentimetern.
    "Die beiden Pendel sind mit sehr genauen Spiegeln ausgestattet. Und zwischen den beiden Spiegeln sind Mikrowellen. Wenn jetzt die Gravitationskugel an den beiden Körpern zieht, gehen die ein klein wenig auseinander. Und dann verschiebt sich die Resonanzfrequenz der Mikrowelle drin."
    Die Gravitationskugeln, von denen Meyer spricht, sind groß wie Bowlingkugeln. Sie ziehen die Pendel ein wenig auseinander, was sich dann mit den Mikrowellen präzise messen lässt. Nur: Um überhaupt einen messbaren Effekt festzustellen, muss man die Kugeln zunächst an die Pendel annähern, um sie dann wieder zu entfernen. Dafür haben sich die Hamburger Physiker einen raffinierten Mechanismus einfallen lassen.
    "Das ist unsere Wippe. Am anderen Ende ist ein kleiner Motor. Und das wird rauf und runter gehoben. Dann rollt die Kugel hierher. Und wenn wir genügend Geduld haben, sehen wir sie da rauskommen."
    Im Moment ist die Kugel ein paar Meter von den Pendeln entfernt.
    Zu sehen sind Kugeln verschiedener Größe und aus verschiedenen Materialien wie Plastik, Messing oder Granit, die im DESY-Gravitationsexperiment zum Einsatz kommen.
    Verschieden schwere Kugeln lenken die beiden Pendel im Vakuumgefäß unterschiedlich stark aus. (Frank Grotelüschen)
    "Da liegt sie. Leuchten Sie rein!"
    Dann wird die Wippe aktiv. Sie neigt sich, langsam rollt die Kugel in Richtung Pendel. Sie stoppt 60 Zentimeter vom Pendel entfernt - und lenkt es durch ihre Schwerkraft ein wenig aus, um ein paar Atomdurchmesser nur. Gleichzeitig ist von der anderen Seite ebenfalls eine Kugel losgerollt und zieht nun an dem zweiten Pendel. Um zu verlässlichen Resultaten zu kommen, müssen die Physiker den Versuch über Monate wiederholen, sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag.
    Meyer geht zu einem Regal, in dem diverse Kugeln lagern. Sie sind aus verschiedenen Materialien und damit unterschiedlich schwer.
    "Die geringste Masse ist dies hier. Die wiegt ein bisschen über 100 Gramm. Kunststoff. Ist mit einem 3-D-Drucker gemacht worden. Hier sind zwei Marmorkugeln. Da sind zwei Granitkugeln. Hier sind zwei Bleikugeln. Da sind zwei große Messingkugeln, etwas über 20 Kilogramm."
    Die leichten Kugeln lenken die Pendel nur ein bisschen aus, die schweren Kugeln ein wenig stärker, so das Kalkül der Physiker. In einem ersten Schritt wollen sie herausfinden, ob das Gravitationsgesetz von Isaac Newton tatsächlich stimmt. Danach, ab 2015, wollen sie die Kugeln durch zwei massive Messingzylinder ersetzen, jeder mehr als eine halbe Tonne schwer. Damit sollte sich dann die Gravitationskonstante neu vermessen lassen, vielleicht sogar genauer als mit früheren Experimenten. Doch Hinrich Meyer ist zurückhaltend. Er weiß, wie schwer das Geschäft mit der Schwerkraft ist.
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    Auf einer Art Wippe rollt eine Kugel zu ihrem Ziel – einer Position in der Nähe der beiden Pendel. Nach einer halben Stunde rollt sie wieder zurück. (Frank Grotelüschen)

    "Ich bin vorsichtig. Solche Experimente machen sich nicht mal eben."Ob Pendel, Balken oder Drehwaage - im Grunde sind diese Versuche nur hochgerüstete Varianten jenes Ur-Experiments von 1797, als Henry Cavendish die Gravitationskonstante mit Kerzenschein und Bleihantel bestimmte. Sie alle basieren darauf, dass man die Schwerkraft zwischen relativ großen Testmassen genauestens misst. Doch nun treten Physiker auf den Plan, die das Problem grundlegend anders angehen. Sie vermessen groß G mit der Hilfe winziger Materiebausteine - mit Atomen.Florenz, die Hauptstadt der Toskana. Neben dem Flughafen liegt der Polo Scientifico, ein noch junger, erst halb bezogener Campus der Universität. Gleich hinter dem Eingang ein schlichter, mehrstöckiger Zweckbau aus Beton.Guglielmo Tino, Institut für Physik und Astronomie, Universität Florenz: "Es ist eine Schande, dass wir alle anderen Naturkonstanten bis auf die achte oder neunte Stelle hinterm Komma kennen, nur die Gravitationskonstante nicht. Sie ist bislang nur auf die dritte Stelle bekannt. Es ist für uns Physiker eine Frage des Stolzes, sie endlich genauso präzise messen zu können wie die anderen Konstanten."Um die Scharte auszuwetzen, hat Tino etwas komplett Neues versucht. Statt auf eine Drehwaage mit Hanteln und Fäden setzt er auf einen Sensor, der mit Atomen funktioniert und die Regeln der Quantenphysik ausnutzt."Das hier ist der Eingang zu unserem Präzisionslabor. Wir stehen gerade zwischen zwei Türen. Der Raum zwischen diesen Türen isoliert das Labor von der Außenwelt. Das brauchen wir, um die Temperatur innen drin auf konstant 20 Grad Celsius zu halten."Tino zeigt auf seine Apparaturen. Ein undurchschaubares Gewirr aus Röhren, Kabeln, Spiegeln und Lasern."Unser Apparat ist mit Sicherheit der komplexeste, mit dem man je die Gravitationskonstante gemessen hat. Da links steht ein großer Lasertisch. Er ist vollgestellt mit Dutzenden von Spiegeln, Linsen und Blenden. Für den Laien sieht das so aus, als wären sie zufällig auf dem Tisch verteilt. In Wirklichkeit steht jedes Element mit einer Genauigkeit von Mikrometern auf seinem zugewiesenen Platz."Das Herzstück des Experiments steht neben dem Lasertisch - eine dünne Säule aus Edelstahl, mannshoch und nahezu komplett luftleer gepumpt. Eine Art Springbrunnen für Atome."Mithilfe des Laserlichts von unserem Lasertisch kühlen wir eine Wolke aus Rubidiumatomen stark ab, bis nahe an den absoluten Temperaturnullpunkt. Dann schießen wir sie per Laser alle zwei Sekunden in der Säule nach oben. Dadurch entsteht, wie bei einem Brunnen, eine Fontäne aus Atomen, sie ist 50 Zentimeter hoch."Das Entscheidende: Die Atomfontäne fliegt dicht an schweren Wolframgewichten vorbei, Gesamtmasse eine halbe Tonne. Manche Atome fliegen dichter am Wolfram vorbei als andere und spüren dessen Schwerefeld deshalb stärker. Diese Differenz lässt sich mit spezieller Quantentechnik sehr genau messen. Gleichzeitig sorgen raffinierte Tricks dafür, dass störende Einflüsse quasi herausgemittelt werden, zum Beispiel die Gezeitenkräfte von Sonne und Mond. Zehn Jahre lang haben Tino und seine Leute an ihrem Quanten-Springbrunnen getüftelt. Im Juni präsentierten sie ihr Ergebnis - der erste Wert für die Gravitationskonstante, der auf Basis der Quantenphysik erzielt wurde."Es liegt deutlich unterhalb des offiziellen Werts für die Gravitationskonstante. Ende 2014 wird dieser Wert neu festgelegt. Und unser Resultat kommt gerade rechtzeitig, um bei dieser Neufestlegung berücksichtigt zu werden."Zwar sind die Messfehler bei Tinos Methode noch deutlich größer als bei den konventionellen Experimenten. Doch für die Zukunft sieht der Physiker ein enormes Potenzial."Die Empfindlichkeit unserer Technik ist im Moment noch weit von ihren Grenzen entfernt. Doch wir glauben, dass wir sie im Laufe der Zeit um mehrere Größenordnungen verbessern können."Vorerst bringt der neue Wert aus Florenz mehr Verwirrung als Aufschluss: Er ist auffallend niedrig, niedriger als alle anderen. Damit wird das CODATA-Komitee wohl nicht darum herumkommen, die Unsicherheit des amtlichen Wertes für groß G ein weiteres Mal heraufzusetzen. Die Forscher jedenfalls ringen um eine neue Strategie. So wie bislang, meint Terry Quinn, kann es nicht weitergehen. Irgendwo in den Experimenten müssen einfach noch Fehler schlummern - nur hat sie bislang keiner entdeckt."Künftig sollten wir unsere Anstrengungen und Ressourcen bündeln. Ich jedenfalls würde es begrüßen, wenn man ein oder vielleicht zwei große Experimente auf den Weg bringen würde, bei dem alle wichtigen Fachleute auf der Welt zusammenarbeiten und ihre Erfahrungen einbringen."Ein Miteinander und kein Nebeneinander wie bisher, findet auch Jens Gundlach aus Seattle."Die Messungen sind nicht superteuer, aber auch nicht ganz billig. Für ein internationales Experiment müsste man die Ressourcen zusammenstecken und sehen, dass man ein Labor findet, wo man das international machen kann. Alle müssen zusammenarbeiten und das zusammen rauskriegen. Vielleicht sieht man dann, wo ein Fehler gemacht wurde in irgendeiner der Messungen."Doch wie man lauter Individualisten zu einem Team zusammenschweißen soll, ist unklar. Denn nicht jeder findet die Idee eines großen Gemeinschaftsexperiments überzeugend."Was Terry Quinn vorschlägt, hört sich für mich ein bisschen nach Bürokratie und großem Experiment an. Und ich weiß nicht, ob das so toll kommt."Stephan Schlamminger vom NIST in Gaithersburg favorisiert ein anderen Ansatz. Sein Motto: Vielfalt statt Konzentration."Man bräuchte mehr Experimente! Je mehr Experimente man hat, desto genauer kann man das feststellen."Und so dürfte es noch dauern, bis sich die Experten auf eine gemeinsame Strategie geeinigt haben. Groß G, die Gravitationskonstante, wird das Geheimnis ihrer wahren Größe wohl noch lange hüten."Es ist trotzdem sehr reizvoll: Man macht etwas, was sehr schwierig ist. Es ist wirklich eine Herausforderung. Es ist so, wie wenn man auf den Mount Everest steigen will - der Gipfel der Messtechnik."
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    Experiment von Guglielmo Tino, Universität Florenz, das die Atomfontäne und die Quellmassen zur Messung der Gravitationskonstante zeigen soll. (Università di Firenze/Guglielmo Tino)