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Gregor Schöllgen: Willy Brandt - Die Biographie

Willy Brandt hatte Bodenhaftung in der Arbeiterbewegung und galt gleichzeitig als Symbolfigur einer modernisierten Sozialdemokratie. Viele haben sich an der Biographie dieser charismatischen Persönlichkeit versucht, keiner ist ihr so ganz gerecht geworden.

Rainer Burchardt | 17.09.2001
    Getroffen hat der Autor sein Subjekt der Beschreibung nie - doch mit seiner Biografie über Willy Brandt trifft Gregor Schöllgen genau das Maß an Objektivität, das vonnöten ist, wenn - ohne persönliche Sympathie zu verbergen - dem Beschriebenen kritische Gerechtigkeit zu widerfahren hat. Fraglos ein wichtiges, ein wertvolles Werk über das schillernde Leben des ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik.

    Schöllgen ist Wissenschaftler, Historiker. Und bisweilen merkt man schon, daß es dem Autor wichtig ist, bis ins letzte Detail seine Ausforschungen darzustellen. Das kommt nicht immer dem Lesefluss zugute, fördert indessen weitere Tatsachen vor allem über die Herkunft Brandts zutage, der anno 1913 als der unehelich geborene Herbert Frahm in Lübeck geboren wird.

    Die Interpretation der Kindheitsmuster mit dem ganzen Außenseitertum des bigotten Kaiserreichs, auch im Krieg, ist nach Schöllgen prägend für das gesamte Leben Willy Brandts, der nach Schöllgen letztlich Bindungs- und Verbindungsprobleme hatte, weil er selbst nie die Liebe einer sogenannten heilen Familienstruktur kennen gelernt hat. Eine durchaus strittige und wohl eher für Sozialpsychologen zu hinterfragende These, doch das real existierende Leben des Willy Brandt lässt den Schluss als legitim und womöglich zutreffend erscheinen.

    Auch und gerade im freiwillig gewählten norwegischen Exil bildet sich endgültig das persönlich politische Profil des demokratischen Sozialisten heraus, der sich als "nom de guerre" den Namen Willy Brandt zulegt. Er schließt sich der skandinavischen Linken an, wird von der Sozialistischen Arbeiterpartei Norwegens subventioniert, schreibt in Zeitungen, Broschüren und Büchern. Für Schöllgen sind dies die Lehrjahre des Journalisten Willy Brandt schließlich auch für seine spätere Rolle als Politiker, dessen herausragende Eigenschaft es war, mit griffigen Formeln seine Politik auf einen verständlichen Nenner zu bringen.

    Einen breiten Raum widmet Schöllgen der Berliner Zeit Willy Brandts, dessen Weg wahrlich nicht nur mit Siegen gepflastert ist. Zwar schafft er es relativ schnell, zum Regierenden Bürgermeister aufzusteigen, doch auch spießige Sozialdemokraten sind damals noch geprägt vom muffigen und moralisch doppelbödigen Nachkriegsdeutschland der Adenauer-Ära. Dessen böses Wort vom Willy Brandt alias Herbert Frahm trifft den SPD Politiker tief und leider bedient er die Stammtischmentalität des reaktionären deutschen Bürgertums jener Tage. Brandt scheitert bei mehreren Anläufen in die SPD Führungsspitze, ebenso zweimal als Kanzlerkandidat. Erst mit der Großen Koalition 1966 unter Kurt Georg Kiesinger beginnt die eigentliche Ära des neben August Bebel wohl größten Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts.

    Schöllgen belegt nachdrücklich, dass der Juni-Aufstand in der DDR 1953, der Ungarn-Aufstand, der Berliner Mauerbau 1961 und schließlich der von den Sowjets blutig beendete Prager Frühling 1968 für Brandt recht brutal den Unterschied zwischen dem real existierenden Kommunismus und dem demokratischen Sozialismus noch einmal deutlich werden lässt. Vielleicht liegt darin auch die Erklärung für den ausgerechnet vom Kanzler, der mehr Demokratie wagen wollte, 1972 bestätigten sogenannten Extremistenerlass. Brandt hat diesen das politische Klima jahrelang vergiftenden Beschluss, der bisweilen als Berufsverbot herhalten musste, als einen Fehler bezeichnet.

    Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Noch bedenklicher und für Brandts Haltung zum "Radikalenerlass" wohl entscheidend ist eine andere Entwicklung: Die linke Szene in der Bundesrepublik wird nämlich nicht nur größer und lauter, vielmehr werden die Ränder zwischen ihren diversen Gruppierungen und Fraktionen unschärfer, werden die Übergänge zu einigen sich vernehmlich und brutal zu Wort meldenden terroristischen Kadern fließend.

    Brandt war damals schon Kanzler der sozialliberalen Koalition, deren Hauptverdienst die Entwicklung einer konstruktiven Ostpolitik ist, die durchaus auch als Startsignal zur deutschen Einheit gewertet werden kann. Aber genau hier, Schöllgen analysiert sehr trefflich, holt Brandt zumindest im rechten Spektrum der vom Kalten Krieg bestimmten Deutschlandpolitik seine Vergangenheit vor allem als Exilant ein. Willy Brandt hat darunter gelitten, vor allem auch, weil sein einstiger Förderer Herbert Wehner, getrieben von einem legendären Machterhaltungsinstinkt, an Brandts Demontage aktiv mitarbeitet.

    Brandt hatte gegen Wehners Rat die sozialliberale Koalition geschaffen, war im Herbst 1969, wie Arnulf Baring schrieb, plötzlich kein Hamlet mehr, kein Parzival. Im Frühjahr 1974 leitet Herbert Wehner ausgerechnet von Moskau aus mit seiner spöttischen Bemerkung, "der Herr bade gern lau", die öffentliche Demontage Willy Brandts ein. Zwei Jahre vorher hatte Wehner, mit welchen Mitteln auch immer, dafür gesorgt, dass das Misstrauensvotum der Union, mit dem Ziel, Brandt durch Barzel zu ersetzen, scheiterte. Im darauffolgenden November war bei der sogenannten Willy-Wahl, den, wie Wehner selbst sagte, Sozialdemokraten ein historischer Sieg gelungen. So unglaublich es auch klingt, damit begann der Abstieg des Kanzlers Brandt, der in seinem Rücktritt im Mai 1974 gipfelte. Diese aufregenden Tage wertet Schöllgen keineswegs als Wehner-Intrige, der Brandt vor allem wegen angeblicher Frauengeschichten und natürlich des Spions Guillaume, für erpressbar hielt.

    Aber Wehner hat ihn auch nicht vom Rücktritt abgehalten, wie Brandt es später einmal bitter vermerkte. Die Wertung Schöllgens ist ebenso zweifelhaft wie seine These, Brandt habe in diesen Tagen ernsthaft über Selbstmord nachgedacht. Das ist nicht belegt und auch nicht belegbar, selbst Brandts damalige Ehefrau Rut hat dies gerade vor einigen Tagen erst glaubhaft dementiert. Eine der wenigen Schwachstellen in dieser Biografie.

    Brandt blieb Parteivorsitzender bis 1987 und trat, wie Schöllgen zu Recht vermerkt, aus nichtigem Anlass, nämlich wegen der gescheiterten Anstellung einer Parteisprecherin, zurück. Das hätte nicht sein müssen, war aber wohl auch das Ergebnis jahrlanger sich anhäufender Kritik an Brandts Führungsstil, der als entrückt galt. Und so kam Willy Brandt mit seinem verfrühten Abgang seinen innerparteilichen Gegnern zuvor.

    Man mag es drehen und wenden, wie man will: Auch dieser Rücktritt ist eine schwere politische und persönliche Niederlage für Willy Brandt. Jahrzehnte gehört er der SPD an; sie ist ihm Heimat gewesen und Zuflucht, gerade auch in Zeiten größter politischer und persönlicher Bedrängnis: länger als jeder andere in ihrer über einhundertjährigen Geschichte hat er sie geführt; mit seinem Namen verbindet sich die Neuorientierung der Sozialdemokratie in der Innen- wie Außenpolitik während der fünfziger und sechziger und deren Umsetzung während der frühen siebziger Jahre. Und dann dieser Abgang. Aber Brandt wäre nicht Brandt, hätte er die Stunde nicht auf seine Weise genutzt.

    Dass die moralische Instanz Willy Brandt, Friedensnobelpreisträger, Vorsitzender der Sozialistischen Internationale und der Nord-Süd-Kommission, auch nach seinem Rücktritt fußend auf seinem weltpolitischen Ansehen hier und da die Stimme erhebt und gehört wird, versteht sich von selbst. Doch ausgerechnet im Umfeld des Mauerfalls wird der deutsche Patriot von seinen eigenen Genossen erneut im Stich gelassen. Er hätte nicht die Bedenken eines Oskar Lafontaines geäußert, für ihn war die Einheit jeden Preis wert. Vor der ersten gesamtdeutschen Wahl anno 1990 war Willy Brandt praktisch kaltgestellt. Das muss ihn verbittert haben. Wenig hilfreich waren allerdings auch Äußerungen seiner letzten Ehefrau Brigitte Seebacher, die sich genüsslich in Essays zu Schwierigkeiten der deutschen Linken mit der nationalen Frage ausließ.

    Gregor Schöllgen ist es gelungen, die vier politischen Leben des Willy Brandt, als Exilant, als Berliner Bürgermeister, als Kanzler und Parteivorsitzender, sowie als moralische Instanz mit Motivforschung, Daten und Ereignissen eindrucksvoll darzustellen. Nicht immer muss man Schöllgen recht geben, doch eine interessante und informative Biografie ist dies allemal.

    Gregor Schöllgens Buch "Willy Brandt - die Biographie". ist im Propyläen Verlag erschienen, hat 321 Seiten und kostet 48,90 DM.