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Grenzkontrollen
"Seehofer betreibt ein populistisches Spiel"

Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel hat mit Unverständnis auf die Forderung von Bundesinnenminister Horst Seehofer nach einer Fortsetzung der Kontrollen an den deutschen Grenzen reagiert. Er schüre Verunsicherungen in der Bevölkerung, indem er sage, die Außengrenzen seien nicht sicher, sagte Sippel im Dlf.

Birgit Sippel im Gespräch mit Silvia Engels | 19.03.2018
    SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel im Europäischen Parlament in Brüssel
    SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel (EU-Parlament / Stephanie Lecocq)
    Silvia Engels: Bundesinnenminister Seehofer hat das Wochenende genutzt, um in Fragen der Zuwanderung eigene Akzente zu setzen. Er will zum einen die nationale Grenzsicherung trotz Schengen fortschreiben und in Zusammenarbeit mit den Ländern die Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber erhöhen.
    Seit 1995 ist das Schengener Abkommen in Kraft. 26 Staaten, darunter 22 Mitglieder der EU, auch Deutschland, verpflichten sich darin zur Reisefreiheit in Europa. Grenzkontrollen soll es nur an den Außengrenzen geben. Wegen der starken Flüchtlingszuwanderung 2015 hatten Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen an Teilen ihrer Grenzen wieder kontrolliert. Später wurde die Begründung in Abwehr von Terrorgefahr in Deutschland geändert. Auch Frankreich begründet ja seine Grenzkontrollen so.
    Die EU-Kommission appelliert seit Monaten an diese Staaten, die Kontrollen nach und nach zurückzufahren. Innenminister Seehofer, wir haben es gerade gehört, will dagegen an diesen nationalen Grenzkontrollen auch langfristig festhalten.
    Am Telefon ist nun Birgit Sippel. Sie sitzt für die SPD im Europäischen Parlament und dort im Ausschuss, der sich auch mit Fragen der inneren Sicherheit befasst. Guten Morgen, Frau Sippel.
    Birgit Sippel: Schönen guten Morgen! – Ich grüße Sie.
    Engels: Haben Sie Verständnis für den Plan des Bundesinnenministers?
    Sippel: Nein, überhaupt nicht. Auch wegen der Begründungen. – Es ist richtig: Die Außengrenzen müssen im Europa des freien Reiseverkehrs besonders geschützt werden. Das kann aber nicht allein eine Aufgabe der Staaten sein, die zufällig an der Außengrenze sind. Das Europäische Parlament hat das schon lange gefordert. Und wir haben jetzt eine Europäische Grenz- und Küstenschutzagentur, die eindeutig fordert, dass die Mitgliedsstaaten, alle Mitgliedsstaaten sich an diesem Grenzschutz beteiligen müssen. Darin sollten wir unsere Anstrengungen setzen, anstatt intern die Grenzen zu kontrollieren. Und wichtig ist auch das Signal an diejenigen, die wirklich Schutz brauchen: Ihr seid weiterhin willkommen. Diese Botschaft fehlt mir.
    Meine Frage an Seehofer: Schützen vor wem?
    Engels: Seehofer hält aber dagegen, dass dieser Außenschutz noch nicht in Kraft ist. Er sei ja bereit, die Binnen-Grenzkontrollen wieder abzubauen, wenn die Außengrenzen geschützt sind. Das heißt, es ist nur eine Frage der Reihenfolge? Muss da die EU in ihrer Gesamtheit nicht erst einmal liefern mit der Unterstützung der EU-Staaten, die am Rande liegen?
    Sippel: Was Herr Seehofer betreibt, ist ja ein billiges populistisches Spiel. Er schürt Verunsicherungen in der Bevölkerung, indem er sagt, die Außengrenzen sind nicht sicher, sie müssen besser geschützt werden. Und meine Frage an Herrn Seehofer wäre: Schützen vor wem? Denn diejenigen, die zu uns kommen, egal ob sie einen Asylgrund haben, oder bedauerlicherweise nur vor schlechten Lebensperspektiven fliehen und deshalb kein Bleiberecht bekommen können, das sind ja Menschen, die in ihrer großen, großen Mehrheit kein Problem für uns sind im Sinne von Gefährdung der Sicherheit. Da betreibt Herr Seehofer ein populistisches Spiel.
    Wo wir besser werden müssen, auch Deutschland selber, Staaten an der Außengrenze schützen, klares Signal setzen, wir schützen diejenigen, die vor Krieg, Verfolgung, Folter fliehen, aber natürlich auch klare Signale setzen, wer all diese Gründe nicht vorweisen kann, da müssen wir mit den Herkunftsstaaten reden, wie wir da zu besseren Lösungen kommen, damit die Menschen nicht Haus und Hof verkaufen für eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt.
    "Sie sind keine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit"
    Engels: Das heißt aber, Sie teilen die Besorgnis von Herrn Seehofer nicht, der damit ja sagt, die deutsche Bevölkerung, die genau diese Sorgen habe, zu schützen?
    Sippel: Wer die deutsche Bevölkerung schützen will, muss zunächst einmal ehrlich sagen, worin denn die Herausforderungen bestehen. Deshalb noch einmal: Die große, große Mehrheit der Flüchtlinge, die zu uns kommen, die will eine neue Lebensperspektive. Die wollen arbeiten, die wollen eine neue Zukunft haben. Sie sind keine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit.
    Wenn Herr Seehofer zudem oder Deutschland in der Vergangenheit sagt, wir müssen uns wegen des islamistischen Terrors schützen und deshalb Grenzen kontrollieren, da kann ich nur sagen, Europa hat schon verschiedene Wege, sich auszutauschen. Und wir erleben ja auch zunehmend, dass terroristische Anschläge nicht begangen werden von Menschen, die über Grenzen zu uns kommen, sondern es werden Menschen radikalisiert, die schon längst hier sind, die sich in unseren Staaten bewegen. Da sind die Herausforderungen ganz andere als die, die Herr Seehofer jetzt meint, benennen zu müssen.
    Zahllose extremistische, rechtsextremistische Anschläge ignoriert
    Engels: Frau Sippel, Sie selbst sitzen ja auch im Sonderausschuss Terrorismus des EU-Parlaments. Wenn ich Sie richtig verstehe, rechtfertigt aus Ihrer Sicht die derzeitige Sicherheitslage nicht mehr die verstärkten Kontrollen?
    Sippel: Nein. Und vor allem rechtfertigt das nicht, die Kontrollen auf endlose Zeit fortzusetzen. Das ist Augenwischerei. Es soll den Menschen suggerieren, wir kümmern uns um eure Sicherheit. Aber noch einmal: Die Gefahren sind, wenn überhaupt, an ganz anderer Stelle. Und was Herr Seehofer mit seinen Äußerungen natürlich auch völlig bei Seite wischt ist die Tatsache, dass zwar die islamistischen Anschläge der Vergangenheit, zumindest einige davon sehr medienwirksam brutal waren, weil auf einen Schlag mehrere Menschen verletzt und getötet wurden. Er geht aber überhaupt nicht ein auf die zahllosen extremistischen, rechtsextremistischen Anschläge, die es in Deutschland auch gibt und die tatsächlich eine sehr viel direktere Bedrohung für sehr viel mehr Menschen sind.
    Engels: Ihre Partei, die SPD, koaliert ja nun in Berlin mit der Union. Erwarten Sie von Ihren Kollegen, dass sie Seehofers Pläne stoppen?
    Sippel: Ich erwarte als allererstes von meinen Kollegen: Es ist ja immer schwierig, in einer solchen Koalition gemeinsame Positionen zu finden. Aber ich erwarte mindestens, dass es ganz klare Belege und Fakten gibt, warum denn Herr Seehofer meint, Grenzkontrollen innerhalb Europas an deutschen Grenzen verschärfen zu müssen. Und ich erwarte auch, dass wir klare Signale an die Staaten mit den Außengrenzen setzen: Wir lassen euch mit den Herausforderungen der Flüchtlinge nicht allein.
    Denn wenn man sagt, wir schützen die Grenzen, weil so viele Menschen zu uns kommen, dann hieße ja der Umkehrschluss, wenn alle ankommenden Flüchtlinge zum Beispiel in Italien und Griechenland blieben, dann heben wir die Grenzkontrollen auf. Aber Flucht ist eine Herausforderung, der wir uns alle widmen müssen, und wir können nicht sagen, da soll sich mal Italien, Griechenland drum kümmern und wir halten uns da raus. Deshalb: Die Aufgabe ist sehr viel komplexer, als Herr Seehofer aus populistischen oder wahltaktischen Gründen behaupten will.
    EU-Kommission knickt ein
    Engels: Schauen wir auf die Zukunft des Schengen-Abkommens generell. Die EU-Kommission kann Deutschland auffordern, zu dem Schengen-Standard offener Grenzen zurückzukehren, hat das auch schon getan. Aber zwingen kann sie Deutschland nicht. Stirbt Schengen hier einen langsamen Tod?
    Sippel: Ich glaube, das was wir derzeit beobachten ist, dass die Kommission, die angekündigt hat, eine sehr politische Kommission sein zu wollen, genau diese Aufgabe nicht erfüllt. Anstatt klar zu sagen, wo die Herausforderungen bestehen, knickt die Kommission vor Forderungen der europäischen Staaten ein, und wir müssen endlich wieder darüber diskutieren, wie wir gemeinsam mit allen noch 28 Mitgliedsstaaten uns dieser Herausforderung widmen, indem wir die Besorgnisse unserer Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, Menschen vor Verfolgung auch in Europa, auch in Deutschland schützen, und zugleich uns ernsthaft damit beschäftigen, wie wir Fluchtursachen in Herkunftsländern beseitigen. Das ist die Herausforderung.
    Im völligen Widerspruch zu Schengen
    Engels: Sie haben das mehrfach angesprochen. Aber was bedeutet das für die Zukunft des Schengen-Abkommens? Muss da nachverhandelt werden, um es für die jetzige Situation passender zu machen?
    Sippel: Nein. Die jetzige Situation ist ja schon so. Wenn eine akute Bedrohungslage besteht, dürfen Mitgliedsstaaten natürlich Binnenkontrollen wieder einführen. Das ist etwa bei Großereignissen, wo man mit Demonstranten, mit gewalttätigen Demonstranten und anderem rechnet, möglich. Eine dauerhafte Wiedereinführung von Kontrollen widerspricht aber völlig dem Prinzip von Schengen und ist derzeit auch nicht angesagt. Und deshalb noch mal: Wenn es denn Lücken in einer Grenzkontrolle an den Außengrenzen gibt, dann sind alle Mitgliedsstaaten aufgefordert, mit Personal, mit Technik die Behörden an den Außengrenzen zu unterstützen.
    Binnengrenzen sind nicht hilfreich. Und noch mal: Wir dürfen auch nicht das Thema Grenzschutz, Grenzkontrollen benutzen, um uns tatsächlich von jeglicher Migration abzuschotten. In dem Zusammenhang auch noch mal der Hinweis, wenn wir von illegaler Migration reden: Wer aus Syrien flieht und natürlich kein Visum hat, der hat, wenn er bei uns Schutz finden will, keine andere Chance, als illegal einzureisen, denn erst wenn er europäischen Boden betritt, kann er einen Asylantrag hier stellen. Deshalb auch an der Stelle: Bekämpfung illegaler Migration heißt im Umkehrschluss, wir wollen überhaupt keine Flüchtlinge mehr zu uns lassen. Das widerspricht aber nicht nur humanen und christlichen Grundsätzen, sondern auch internationalen Verpflichtungen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.