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Grenzland Griechenland (1/5)
Am anderen Ufer die Türkei

Der Fluss Evros trennt Griechenland und die Türkei. Im Nordosten Griechenlands gehört der Fluss zur Hälfte zum Dorf Marasia. Die Polizei patrouilliert am Ufer, um Menschen von der Flucht abzuhalten. Doch über den Fluss kommen ohnehin nur noch wenige.

Von Panajotis Gavrilis | 19.02.2018
    Das Evros-Delta - der Evros trennt Griechenland und die Türkei
    Das Evros-Delta - der Evros trennt Griechenland und die Türkei (Imago / Greece Invison)
    "Restricted Area" – Sperrgebiet steht auf einem roten Schild direkt am Ufer zum Grenzfluss Evros. Es ist nass-trüb, kalt. Giorgos Chatzigagidis dreht sich eine Zigarette, während auf der anderen Seite ein türkischer Soldat mit Gewehr in der Hand auf seinem Wachtturm auf und ab geht.
    "Unmittelbar gibt es keine Gefahr. Vielleicht wird es mal eine kleine Konfrontation geben, wenn wir nicht rechtzeitig eine Lösung finden. Aber aktuell wird es so eine Konfrontation eher nicht geben. Es gibt ja immer eine Lösung für alles. Die Grenze wird bewacht und unser Militär gewährleistet, dass der Vertrag von Lausanne und die Grenzlinie eingehalten werden. Wir beanspruchen nichts, wir treten aber auch nichts ab. Wir sind es gewohnt an der Grenze zu leben, es ist Alltag. Wir wissen: Bis zur Hälfte ist es unser Fluss."
    Erdogan stellt Abkommen und Grenze infrage
    Giorgos Chatzigagidis war früher Militäroffizier und ist seit acht Jahren Gemeindevorsitzender von Marasia. Hier ist er geboren und aufgewachsen. Im nordöstlichsten Teil Griechenlands, in der Region Evros, hier wo der Grenzfluss am engsten ist.
    Der türkische Präsident Erdogan spricht in Ankara.
    Der türkische Präsident Erdogan. (AFP / Adem Altan )
    Was denkt er, wenn der türkische Präsident Erdogan, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen, das fast hundertjährige Abkommen von Lausanne und somit auch die Grenzen infrage stellt?
    "Ich werde hier oben am Fluss stehen und wer will, kann ja kommen. Für uns hier gibt es kein Zurück. Es gibt nur Vorwärts. Warum sollten wir nicht mal drüben vorbeischauen? Zufrieden sind wir jedenfalls nicht. Ich würde ja gerne zum Herkunftsort meiner Großeltern gehen. So etwas geht nicht von heute auf morgen. Aber du weißt nie, was passiert."
    Marasia – ein verlassenes Dorf
    Aus der neu gegründeten Türkei flohen damals im Zuge des sogenannten Bevölkerungsaustausches mehrere Hundert Christen nach Marasia. Darunter seine Großeltern, die wie viele hier aus Adrianoupoli kamen.
    So nennen die Griechen immer noch die türkische Stadt Edirne. Sie liegt nur ein paar Kilometer von Marasia entfernt. Vor acht Jahren lebten hier noch 135 Menschen. Heute sind es 93. Das Dorf wirkt wie ausgestorben.
    Giorgos Chatzigagidis, Gemeindevorsitzende von Marasia, steht vor einer Haltestelle am Bahnhof
    Giorgos Chatzigagidis ist der Gemeindevorsitzende von Marasia. (Deutschlandradio / Panajotis Gavrilis)
    "Wenn du jemanden bestrafen willst, steck ihn nicht ins Gefängnis. Bring ihn lieber hierher. Ohne Auto, damit er nicht weg kann."
    Giorgos Chatzigagidis wohnt selbst in der nächstgelegenen Stadt Orestiada. Der Winter hier sei zu hart für ihn und seine Familie. Und mit seinen 55 Jahren gilt er hier als einer der Jüngsten.
    "Die meisten sind über 80 Jahre alt. Sie haben nicht die Kraft, um einkaufen zu fahren. Es ist tragisch. Beerdigungen finden regelmäßig statt. Aber Hochzeiten oder Taufen in der Kirche habe ich hier noch nie erlebt. Ich glaube, in zehn Jahren wird es kein Dorf mehr geben."
    "Der Fluss ist zum Grab geworden"
    Nicht nur das Dorf Marasia wirkt verlassen, auch ein Wachhaus der griechischen Armee steht leer. Es hat ausgedient, sagt er. Einst sollte es die Dorfbewohner vor einem Angriff beschützen. Heute übernimmt die Polizei diese Aufgabe. Ein blau weißer Pick-Up-Truck patrouilliert in Flussnähe und soll vor allem Menschen auf der Flucht abhalten, den Fluss Evros zu überqueren: Die meisten sind Syrer, aber aktuell auch Türken, die hier Asyl beantragen. Doch über den Fluss kommen nur noch wenige, so der Ex-Offizier:
    "Mittlerweile kommen sie über die ägäischen Inseln. Ich habe oft Leichen hier gesehen. Deshalb habe ich auch mit der Fischerei aufgehört. Du willst gut gelaunt deinem Hobby nachgehen und dann siehst du vor dir einen Ertrunkenen, rufst die Polizei, Staatsanwaltschaft – das ist keine angenehme Situation. Der Fluss ist alles – mit den Geflüchteten ist er auch zum Grab geworden."
    Der Gemeindevorsitzende grüßt ein paar ältere Herren auf der Straße. Für sie fährt jeden Dienstag ein Bus in die Stadt zum Markt. Supermärkte? Hier? Fehlanzeige. Und das ist auch gut so, sagt einer der beiden mit sarkastischem Unterton in seiner Stimme.
    "Solche Luxussachen brauchen wir nicht. Supermärkte brauchen wir nicht. Ärzte brauchen wir auch nicht. Wir werden ja nicht krank. Wenn wir nämlich krank werden, dann sterben wir meistens auch direkt und kommen glimpflich davon. Wir werden einfach nicht krank, weil wir gleich sterben! Wir brauchen eben keinen Arzt!"
    Kaum mehr Züge in der Region
    Ein Regionalzug hält an einem gelben Steinhäuschen, das direkt neben dem Grenzfluss Evros liegt. Der Bahnhof von Marasia. Lediglich ein Mann steigt ein. Einst fuhr hier sogar der Orientexpress entlang. Ausgerechnet heute platzt die Nachricht über lokale Medien ins Dorf, dass die griechische Eisenbahngesellschaft die Fahrten in diese Region reduziert. Dieser Zug wird heute der einzige sein.
    In dem kleinen verrauchten Bahnhofscafé wird dazu die Rentnerin Kalliopi vom lokalen Fernsehsender interviewt. Sie zeigt sich empört über den neuen Fahrplan:
    "Uns, die Alten und alle, die kein Auto haben oder ein anderes Transportmittel, betrifft das sehr. Wir konnten ziemlich leicht nach Orestiada fahren, wenn wir einen Arzt brauchten oder in eine andere Stadt. Der Zug uns sehr genützt. Jetzt müssen wir 50 Euro für ein Taxi ausgeben. Mit dem wenigen Geld, das sie uns geben: Das ist unerhört, das können wir nicht bezahlen!"
    Keine Probleme mit den Nachbarn
    Kalliopi gab ihr Leben in Thessaloniki auf. Aus finanziellen Gründen. Sie ist zurück in ihrem Geburtsort, lebt alleine und engagiert sich in der Kirche, die nur 300 Meter entfernt vom türkischen Wachposten steht.
    Trotz Misere: Mit den Nachbarn hat hier niemand ein Problem, beteuert sie.
    "Was die Politiker machen, ist etwas ganz anderes. Wir haben sogar Freunde, die kommen her, wir essen und trinken mit Türken gemeinsam, haben Spaß und tanzen alle zusammen. Es gibt keine Probleme."