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Grenzziehungen
Von Mauern und Menschen

Die Grenzen sind zurück. Ein neuer Mauermensch wächst in der Festung Europa heran, der sich panzert und armiert. Ein Essay über den Bewusstseinswandel der Menschen, Gedanken über Beton und Stahl und die Radikalisierung unserer Rhetorik.

Von Torsten Körner | 13.01.2019
    Die Grenze zwischen Mexiko und den USA bei Tijuana
    Die Grenze zwischen Mexiko und den USA bei Tijuana (imago/Agencia EFE)
    Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, nach dem Verschwinden des tödlichen Walls zwischen Ost- und Westdeutschland lag das 21. Jahrhundert wie ein grenzen- und mauerloses Versprechen vor uns. Ins Offene!
    Das war ein Trugschluss. Weltweit kehren jetzt Grenzzäune und Mauern zurück. Sie treten auf als scheinheilige Akteure, die uns die Probleme vom Hals schaffen. Sie versprechen Ordnung, nationale Souveränität, sie stoppen illegale Migration, Drogen, sie sind wie Besen, die den Unrat dieser Welt vor unserer Haustür beseitigen.
    Der Essay "Von Mauern und Menschen" zeigt, dass Mauern die Bühne als machtvolle Player betreten. Ihr binärer Code - draußen/drinnen; fremd/vertraut; arm/reich; aggressiv/friedlich - verspricht Übersichtlichkeit in einer längst unübersichtlichen Welt. Die Mauer ist der Advocatus diaboli des Nationalstaates, so Autor Torsten Körner, denn die Mauer verheißt Souveränität und Macht, wo diese längst erodieren. Tatsächlich aber vergiften die Mauern die Gesellschaften, die sie schützen sollen.
    Torsten Körner schrieb Bestsellerbiografien über Heinz Rühmann, Franz Beckenbauer und Götz George und ist seit vielen Jahren Juror des Grimme-Preises. Unter anderem wurde er 2010 mit dem Bert-Donnepp-Preis ausgezeichnet, dem Deutschen Preis für Medienpublizistik. Als freiberuflicher Autor und Journalist schreibt Torsten Körner Medien- und Fernsehkritiken.

    Wir schreiben das Jahr 1985. Der Frost des Kalten Krieges liegt über der Welt, der Eiserne Vorhang trennt Ost und West und eine brutale Grenze zerschneidet Deutschland. In England regiert Margaret Thatcher, die Eiserne Lady, und spaltet mit ihrer neoliberalen Politik die Gesellschaft, die es ihrer Ansicht nach gar nicht gibt:
    "Die Gesellschaft, das ist niemand. Du bist selbst für dich verantwortlich."
    Popmusik und Mauerfall
    Manchmal ist Popmusik der fröhlichste Sprengmeister in der Weltgeschichte. Auf die Barrikaden gegen Thatchers befohlenen Individualismus und Sozialdarwinismus steigt Paul Weller, das spindeldürre Pop-Genie, mit seiner Band The Style Council. Der 26-jährige Weller ist links und zornig, er glaubt an die Kraft der Einigkeit und an die mauersprengende Kraft der Pop-Musik.
    "Walls come tumbling down!": Der Song ist ein Kampfaufruf von links gegen den regierenden Thatcherismus, ist ein Appell zur Einigkeit und zugleich ein prophetisches Blitzlicht, denn das Song-Video nahm die Band 1985 in Warschau auf, wo die Briten in einem Kulturclub auftraten.
    Das Publikum vor Ort wirkt seltsam grau, formiert, in sich selbst gefangen. Es sind Mauermenschen. Zwischen die Bilder werden Szenen geschnitten, die die machtklirrenden Fassaden des polnischen Staatssozialismus zeigen, während der Sänger und seine Bandkollegen ausgelassen durch die Stadt rennen, herumalbern, die Körper inmitten der erstarrten sozialistischen Gesellschaft zappeln und tanzen lassen.
    Es war ein cleverer Schachzug, das Video in Warschau zu drehen, denn so wurde das Lied nicht nur zur Kampfansage gegen Thatchers eisige Ego-Politik, nein, die Band konnte auch für sich in Anspruch nehmen, den Fall des Eisernen Vorhangs vorausgesagt zu haben.
    Zwei Jahre später, 1987, forderte Ronald Reagan: Ronald Reagan: "Mr. Gorbachev, tear down this wall!"
    Paul Wellers Song "Walls come tumbling down!" war nicht nur politisch visionär. Er schien auch jene Euphorie vorwegzunehmen, die 1989 in der westlichen Welt ausbrach, als man den Sieg einer mauerlosen Welt und den der offenen Gesellschaften feierte, und die Globalisierung als kosmopolitisches Heilsversprechen vor der Tür stand.
    Triumph, Triumph! Der Historiker Francis Fukuyama diagnostizierte damals, das Ende der Geschichte sei erreicht, weil das liberale Markt- und Demokratiekonzept des Westens triumphiert habe. Das Zeitalter der Mauern schien endgültig abgelaufen, die neue Weltordnung würde die Freiheit in den letzten Welt- und Seelenwinkel tragen, der ganze Erdball würde eine kapitalistische Party in Endlosschleife. Globalisierung und Digitalisierung täten einen weltumspannenden Ozean von Möglichkeiten auf, auf dem wir wie Glückssurfer auf Wellen der Freiheit und des Wohlstands reiten würden. Unendlicher Spaß! Sieg des American Way of Life!
    Dieses glänzende Szenario, das zugleich das Ende der Nationalstaaten ankündigte, blendete zunächst fast alle Schatten- und Negativseiten aus. Nach der selbstbesoffenen Feier stellte der Westen schnell fest, dass Freiheitsgewinne fast stets Sicherheitsverluste bedeuten und dass die Furcht zurückkehrt, wo Hoffnungen nicht eingelöst werden. Der Soziologe Ralf Dahrendorf warnte bereits 1997 hellsichtig vor einem heraufziehenden autoritären Zeitalter:
    "Globalisierung bedeutet, dass Konkurrenz groß- und Solidarität kleingeschrieben wird. Globalisierung beeinträchtigt den Zusammenhalt von Bürgergesellschaften, auf denen der demokratische Diskurs gedeiht. Globalisierung ersetzt die Institutionen der Demokratie durch konsequenzlose Kommunikation zwischen atomisierten Individuen. Das ist ein düsteres Gemälde, bei dessen Anblick daran zu erinnern ist, dass Prozesse der Globalisierung Grenzen haben. Sie haben regionale, aber auch ökonomische und soziale Grenzen. Dennoch drängt der Schluss sich auf, dass die Entwicklungen zur Globalisierung und ihre sozialen Folgen eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub leisten. Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert."
    Rückkehr des Mauermenschen
    Im Zeitalter von Donald Trump und Co, im Zeitalter der clownesken Autokraten und populistischen Führer, scheint Dahrendorfs düsteres Gemälde Wirklichkeit geworden zu sein. Die Mauern sind nicht verschwunden, es sind neue Mauern entstanden und mit diesen neuen Mauern kehrt der Mauermensch zurück, ein neuer Mauermensch, der sich nicht als Gefangener, sondern als Geretteter versteht.
    Doch blicken wir zunächst auf die neue Weltunordnung, wie sie sich dem Betrachter darstellt. Der Kulturhistoriker Tobias Prüwer entlarvt den flüchtigen Traum von der grenzenlosen Mobilität als Intermezzo. In seiner Studie "Welt aus Mauern" heißt es:
    "Statt des erhofften Abbaus erwachsen überall neue Barrieren, werden alte erneuert. Auf dem Globus existieren 70 Grenzmauern oder befinden sich in Planung, das sind fünf Mal so viele wie zur Zeit des Mauerfalls 1989. Zusammen kommen sie auf 26.000 Kilometer Länge, was einem Zehntel aller Landgrenzen entspricht. Die befestigten Sperren können archaisch anmuten wie Marokkos Wallanlagen in der Westsahara oder hochmoderne Sicherheitsarchitekturen sein wie diejenigen, mit denen sich Saudi-Arabien von seinen Nachbarstaaten isoliert."
    Der britische Journalist Tim Marshall hat in seinem Buch "Abschottung. Die neue Macht der Mauern" die Gründe für die globale Renaissance der Einmauerung untersucht und kommt zu folgendem Schluss:
    "Der Hauptgrund für die Mauern, die überall in Europa aus dem Boden schießen, ist das Aufhalten der Migrationswelle - zugleich aber sagen sie sehr viel aus über die tiefgreifende Spaltung und Instabilität innerhalb der Europäischen Union und innerhalb der Mitgliedsstaaten selbst. Die von Präsident Trump angekündigte Mauer an der Grenze zwischen den USA und Mexiko soll Migranten aus dem Süden stoppen, nutzt jedoch auch eine tieferliegende Furcht vor demographischen Veränderungen, die viele seiner Anhänger umtreibt."
    Mauern bedeuten auch Gefühle
    Die neuen Mauern sind nicht bloß aus Stein, sondern vor allem aus Gefühl gebaut, sie sind petrifizierte Emotion und zugleich Gefühlskonverter, die schlechte Gefühle in gute Gefühle umwandeln. Mauern verwandeln Furcht in Zutrauen, Unsicherheit in Sicherheit, Orientierungslosigkeit in Orientierung, Identitätsnot in Identitätsgewissheit.
    Doch blicken wir tiefer. Unter der ersten Schicht offenkundiger Gefühle siedelt ein noch grundsätzlicheres Bedürfnis. Wir kommen dieser basalen Sehnsucht auf die Spur, wenn wir Franz Kafkas Erzählung "Beim Bau der chinesischen Mauer" lesen. In diesem kurzen Text, aufgeschrieben 1917, tritt ein namenloser Erzähler auf und schildert den Mauerbau als kollektives Therapeutikum und Pfingstwunder. Über die Maurer, die aus allen Provinzen aufbrechen, heißt es:
    "Sie reisten früher von zuhause fort, als es nötig gewesen wäre, das halbe Dorf begleitete sie lange Strecken weit. Auf allen Wegen Gruppen, Wimpel, Fahnen, niemals hatten sie gesehen, wie groß und reich und schön und liebenswert ihr Land war. Jeder Landmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China!"
    Mauerphilosophien
    In dieser Schilderung wird erst durch den Mauerbau das Volk zum Volkskörper, der Einzelne zum Einheitlichen und in Gemeinschaft geborgenen; die Mauer - erst diese Begrenzung - macht es möglich, dass sich der Einzelne entgrenzt und "Brust an Brust" mit dem anderen verschmilzt, während das Blut den "kärglichen Kreislauf des Körpers" verlässt und durch die Mauer als große Lebensader fließt und pulst. Mensch und Mauer werden eins, es ist ein Himmel auf Erden, im gemeinsamen Werk aufzugehen. Im Laufe der Erzählung entlarvt das lyrische Ich den Mauerbau als existenziellen Selbstbehauptungsschwindel und Gemeinschaftsgaukelei: Die Barbaren, vor denen die Mauer schützen sollte, wurden nie gesehen, der Kaiser, der sein Volk führen und fühlen müsste, existiert in unendlichen Fernen und die sogenannte Führerschaft, die angeblich alles lenkt und weiß, ist stumm und abweisend.
    Kafkas kurzer Text spürt bereits dem sich ankündigenden völkischen Totalitarismus nach, der unter der Parole "Ein Reich, ein Volk, ein Führer" die totale Sinngebung durch totale Selbstaufgabe verspricht. Worauf Kafkas Parabel jedoch auch verweist sind die Anerkennungs- und Aufmerksamkeitsdefizite, die der Mensch im 20. Jahrhundert durch die politische Klasse erfährt; wenn die "Führerschaft" stumm und der Kaiser unsichtbar bleibt, dann ersetzt der Mauerbau das enttäuschte Resonanzversprechen der Politik. Der Mauerbau wird in dieser Erzählung also nicht von oben herab angeordnet, er ist als Aufgabe und Sehnsuchtsprojekt über die Menschen verhängt; die Mauern wachsen dort aus den Menschen heraus, wo sie niemanden finden, der sie erhört, gegen "Barbaren" schützt und ihnen eine großes verbindendes Narrativ anbietet.
    Mauer als Predigt
    Donald Trump hat als republikanischer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika den Ruf nach einer Mauer nur wieder aufgenommen, begründet hat er ihn nicht. Es war der Demokrat Bill Clinton, der Anfang der 90er-Jahre mit der Grenzbefestigung zu Mexiko begann. Ein Bau, der seither von allen Präsidenten, auch von Barack Obama, fortgesetzt wurde. Allerdings hat Trump besser als alle anderen begriffen, dass er die Mauer in der Brust seiner Wähler ansprechen und züchten, dass er die Mauer als Heilsversprechen offerieren muss. Seinen Wahlkampf 2016 gestaltete er wie ein TV-Prediger:
    Donald Trump: "We will build a great wall along the southern border."
    Und die Masse jubelte:
    "Bau die Mauer, bau die Mauer!"
    Trump fragte rhetorisch:
    Trump: "Who's gonna pay for the wall?"
    Und die Masse schrie in Verzückung:
    "Mexiko wird die Mauer bezahlen!"
    So ging das monatelang und niemand schien dieses Theater ernst zu nehmen. Doch die Mauer aus Wort und Appell, die Mauer aus Rhetorik und Resonanz wurde zur Kapelle der Versöhnung zwischen Volk und Politik. "America first!" rief Trump und bekräftigte damit, dass er seine Anhänger hörte, sah, wahrnahm. Wir - das war sein Erfolgsgeheimnis - sind einander Stimme. Für diese Wähler hat Trump die Scheinwerfer der Empathie einfach umgekehrt. Es sind nicht die Migranten, die gerettet werden müssen, es sind vielmehr wir, die abgehängten, degradierten und ohnmächtigen Bürger, die des Schutzes bedürfen. Es ist nicht der Flüchtling, der Sicherheit sucht, sondern es sind wir, die "Lokalen", deren Heimat gefährdet ist. Trump hat begriffen, was Kafkas Mauerchronist formuliert hatte. Das Volk sucht "Einheit, Einheit", es sucht jemanden, der die "Saiten seiner Seele" zum Klingen bringt, den mickrigen Körper des Einzelnen entgrenzt und das Blut durch kollektive Bahnen fließen lässt.
    Konjunktur der Mauer
    Dass die weltweite Konjunktur der Mauer auch religiöse Bedürfnisse stillt und eine psychologische Dimension hat, wurde von der Politikwissenschaftlerin Wendy Brown 2010 in ihrem Buch "Walled States, Waning Sovereignty" analysiert. Die viel beachtete Studie erschien in Deutschland 2017 unter dem Titel "Mauern". Browns zentrale These ist, dass die schwindende Souveränität von Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung durch ein theatralisches Mauerspektakel kompensiert wird, wobei die Mauern zwar als Zeichen der Stärke verstanden werden sollen, faktisch aber nur die Schwäche eines staatlichen Akteurs offenbaren.
    Mauern sind, so die Autorin, ineffektiv, teuer, sie schüren Hass und Vorurteile und könnten leicht durch weitaus effizientere Polizeimaßnahmen und technische Überwachungssysteme ersetzt werden. Mauern hingegen seien eine - so könnte man sagen - staatliche Muskelprotzerei, um davon abzulenken, dass die eigene Souveränität erodiert. Die theatralische Inszenierung der Mauern - man denke nur an das Mauer-Casting, das Donald Trump durchführen ließ, um den besten Mauer‑Architekten und die beste Mauerbau-Firma zu finden - deute vielmehr auf "ein Zittern, eine Verwundbarkeit, Unbestimmtheit oder Instabilität im Zentrum hin". Mit Blick auf die theologische Dimension, die die neuen Mauern ansprechen, schreibt Wendy Brown:
    "Die alten Tempel haben Götter inmitten einer grenzenlosen und überwältigenden Landschaft beherbergt. Die Mauern der Nationalstaaten sind moderne Tempel, in denen der Geist der politischen Souveränität haust. Sie besorgen die Ablenkung von Krisen der nationalen Identität, von kolonialer Beherrschung in einem postkolonialen Zeitalter und vom Unbehagen, das mit den Privilegien einhergeht, die man sich in einer zunehmend vernetzten und interdependenten globalen Ökonomie durch Superausbeutung verschafft. Sie gewähren magischen Schutz gegen unvorstellbar große, zerstörerische Kräfte, gegen das Nachdenken über die Folgen, die die Heldentaten und Aggressionen der eigenen Nation haben, und gegen ihre Schwächung durch die Globalisierung."
    Wenn wir die Mauern als Tempel denken, als magische Objekte, die einen großen Abwehrzauber entfalten, einen Bann, der das Fremde, Unverständliche, das grauenhaft Andere und unheimlich Unverstandene fern hält, dann leben wir nicht nach vorn, sondern nach hinten, wir entwerfen eine Zukunft, die auf einer idealisierten Vergangenheit beruht. Die Gegenwart wird mit einem Nostalgie-Firnis überzogen und in Mauerlandschaften wuchern betongerahmte Idyllen. Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman hat die grassierende Retro-Sehnsucht in seinem letzten Buch als "Retrotopia" bezeichnet,
    "Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit."
    Serielle Mauern
    Die "Retrotopien" blühen da, wo die politischen und sozialen Utopien keine Zukunft haben. Die globale Mauer-Konjunktur manifestiert die Erschöpfung utopischen Denkens und die ekstatische Einkehr in die Nostalgie. Dass die Neuen Mauern komplexitätsreduzierende, angstbannende und mythenwebende Narrative anbieten, lässt sich gut an vielen Beispielen der Populärkultur ablesen, wo die Mauern in den letzten Jahren zu machtvollen Motiven und Akteuren aufgestiegen sind. In der Film‑Trilogie "Der Herr der Ringe", der amerikanisch-chinesischen Großproduktion "The Great Wall", dem Zombie Schocker "World War Z" oder den Serien "The Walking Dead" oder "Game of Thrones" agieren Mauern, Grenzen, Zäune und Wälle als Identitätspolitiker und Ideologiemaschinen.
    An diesen Fantasy-Mauern scheiden sich Welten, sie trennen den Menschen vom Monster, den Bürger vom Barbaren, den Freund vom Feind, die Zivilisation von der Wildnis, die Natur von der Kultur. Diese irrealen Mauern dürfen bereits sagen, was die realen Mauern noch nicht sagen dürfen, aber heimlich wünschen. Insofern ist auch "Game of Thrones" - die derzeit erfolgreichste TV-Serie der Welt - eine "Retrotopie", die Unbewusstes zur Sprache bringt, unterdrückte Gefühle ins Bild setzt, vorhandene Einstellungen bearbeitet, präpariert und wieder in die Wirklichkeit entlässt. Der Filmwissenschaftler Lars Koch führt uns an die fantastische Eismauer zwischen Westeros und dem wilden Norden:
    "Die im Serienkontext omnipräsente Formel 'winter is coming' verweist auf den bevorstehenden Kollaps einer fragilen topologischen Ordnung, die einzig noch durch die Jahrhunderte alte Eismauer und den sie verteidigenden Orden der Nachtwache aufrechterhalten wird. Die Mauer stellt eine Demarkationslinie dar, die die sieben Königslande, das Herrschaftsgebiet der Andalen, vom wilden Norden trennt. Bewohnt wird der Norden von zwei Gruppen, die sich im Hinblick auf die Qualität ihrer 'otherness' grundlegend unterscheiden: Während das sogenannte Freie Volk, das sich durch den Rückzug in die Kälte der kolonialen Unterwerfung durch die Andalen entzogen hat, wegen brutalen Überfällen und Plünderungen gefürchtet wird, ist die Andersheit der weißen Wanderer von nahezu übernatürlicher Art. Sie sind untote Grenzwesen, die eine Form absoluter Feindschaft verkörpern."
    Einer der Protagonisten von "Game of Thrones" ist Jon Snow, ein Mitglied der Nachtwache. Er verliebt sich verbotenerweise in die Wildlingsfrau Ygritte. An seiner Seite lernt der Zuschauer, wozu die große Eismauer dient. Sie konstituiert zum Innen ein Außen und betreibt so Identitätspolitik. Die Wilden sind wild, müssen also weder in ihrer Individualität noch in ihrer andersartigen Menschlichkeit befragt werden. Indem man sie aussperrt, gewinnt das labile Westeros Stabilität und Selbstgewissheit. Die Mauer grenzt niemals nur ab, sie greift immer auch ein, sie wirft einen Schatten, der die Akteure auf beiden Seiten formiert. Die Wilden werden dehumanisiert, wodurch die Andalen ihre Menschlichkeit behaupten. Erst nach und nach begreift Jon Snow, dass er als Mitglied der Nachtwache und Mauerwächter selbst entmenschlicht wird, dass er ein Stein in der Mauer und Mitglied eines rassistischen und xenophoben Männerbundes geworden ist. Sein Verhalten, seine Liebe zur Wildlingsfrau und damit die Akzeptanz der Fremden gefährden die Eindeutigkeit der Mauerweltbildes. Deshalb ist es geradezu zwangsläufig, dass Jon Snow sterben muss.
    Seine Beziehung zu Ygritte stellt die Identität der Nachtwache und zugleich die damit verbundene Körperpolitik der Großen Mauer in Frage. Um die Stabilität der Mauer nicht ins Wanken zu bringen, muss die Möglichkeit, die Menschen jenseits der Mauer differenziert zu betrachten, abgetötet werden. Hier trifft sich das Denken der Nachtwache mit grassierenden rechten Ideologien: Kultur wird stets national und essenzialistisch definiert, die unreine fremde Frau muss ebenso vernichtet werden wie der sensibel gewordene Jon Snow, der seine Blick- und Wahrnehmungspanzerung abgelegt hat und affektiv anfällig geworden ist. In Hinblick auf Snows selbstgewählte Entpanzerung und Entideologisierung lässt sich ein Ausspruch von Dschinghis Khan abwandeln: Die Stärke von Mauern beruht nicht auf dem Mut des Wächters, sondern auf seiner emotionalen und seelischen Taubheit. Daraus folgt: Starke Mauern zeugen Unmenschen.
    Mauermensch und Bunkermentalität
    Der Kulturwissenschaftler Greg Eghigian, der die Alltags- und Lebensgewohnheit der DDR-Bürger untersucht hat, nannte den eingemauerten, konformistisch erzogenen und ideologisch modellierten Menschen den "Homo Munitus". Dieser Charakter wurde durch die Mauer selbst gegen seinen Willen mit dem Staat verbunden und deformiert, ein Mauermensch, der nur schwer aus seiner Engstirnigkeit herausfand und dabei eine Bunkermentalität entwickelte.
    Es steht zu befürchten, dass die weltweite Zunahme der Mauern einen neuen Mauermenschen erzeugt: Dieser Mensch begrüßt die neuen Mauern als Wellenbrecher, mit denen die Stürme der Globalisierung, die Migrationswellen, islamistische Terroristen und kriminelle Banden gestoppt werden. Allein diese Aufzählung wirft - wie in der Angstwelt des neuen Mauermenschen - alles in einen Topf und macht aus dem Draußen eine einzige diffuse Bedrohung.
    Ende 2017 zählte die UNO weltweit etwa 258 Millionen Migranten, also Menschen, die nicht in ihren Herkunftsländern lebten. Zeitgleich gab die UNO-Flüchtlingshilfe bekannt, dass sich weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht befänden. Angesicht dieser Zahlen dürften die Mauern als Vehikel der Renationalisierung nicht so schnell aus der Mode kommen.
    Ein manichäisches Weltbild steht vor der Tür, die Einteilung der Welt in eine helle und eine finstere, eine gesunde und eine kranke, eine saubere und eine schmutzige Seite. Zum Weltbild des Manichäismus gehört - wie in "Game of Thrones" - die Existenz einer Elite, die die Reinheit der eigenen Weltseite schützt und mit scharfem Schwert die Finsternis abwehrt. Unweigerlich muss man hier an die selbsternannten Mauerfürsten und Burgwächter Orbán, Trump und Erdoğan denken, deren Mauerrhetorik Flüchtlinge und Migranten kriminalisiert und entindividualisiert.
    Aber auch die Europäische Union und Deutschland arbeiten am globalen Regime der Mauern mit. In der Flüchtlingspolitik kann sich die EU derzeit nur auf den verstärkten Schutz der Außengrenzen verständigen, der Ausbau der "Festung Europa" ist derzeit der kleinste gemeinsame Nenner. Dieser Begriff, der lange Jahre nur als Kampfbegriff der Linken galt, wird jetzt nicht nur von den Rechten übernommen, er fließt auch stillschweigend und in euphemistische Wortgewänder gehüllt in europäische Regierungspolitiken ein. Ein großer Teil der Entwicklungsgelder, die die EU und Deutschland nach Afrika vergeben, dient der Migrationskontrolle, dem Aufbau und der Befestigung von Grenzen, der Armierung von Grenzwächtern und der biometrischen Kontrolle der Migranten. Europa exportiert Mauern, schließt afrikanische Routen, begrenzt und kanalisiert Menschen- und Warenströme, um die eigene Freizügigkeit zu erhalten. Es liegt auf der Hand, dass Rhetorik der Mauerbauer und Politik der Mauerexporteure die Identität der offenen Gesellschaft und unser Wertesystem bedrohen.
    Schließlich produzieren die neuen Mauern nicht nur ein Außen, sondern eben auch ein Innen, sie formen das Bild der Ausgesperrten ebenso wie das Selbstbild der Eingesperrten. Sind wir schon eingesperrt? Mit Wendy Brown lässt sich fragen:
    "Wann werden die neuen Mauern so beengend wie die eines Gefängnisses, statt so behaglich wie die eines Wohnhauses sein? Ab wann wird die Festung zum Zuchthaus?"
    Die neue globale Mauerwelt
    Die Rhetorik der Mauer formt Einstellungen und Verhaltensweisen: In den letzten Jahren ist die Zahl der Anträge auf einen kleinen Waffenschein in Deutschland sprunghaft gestiegen, Gated Communities gewinnen immer mehr Akzeptanz und Zulauf, Selbstverteidigungskurse werden häufiger gebucht und Sicherheitsfirmen boomen. Das Individuum rüstet auf, jeder seine eigene Festung, wer es sich leisten kann, umgibt sich mit einem mentalen, antrainierten oder gemauerten Panikraum.
    Von dieser Angst profitieren Populisten und autoritäre Denker, die starke Außenmauern predigen und innenstädtische Mauern zu Botschaftsträgern einer neuen Leitkultur umfunktionieren wollen.
    In seiner berüchtigten Rede, in der der AfD-Politiker Höcke in Dresden eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad…" forderte, sprach er auch von den neu entstandenen Fassaden in Dresden, Potsdam oder Berlin, denen man einen "neuen, ehrlichen, vitalen, tief begründeten und selbstbewussten Patriotismus einhauchen" müsse. Das "Denkmal der Schande" hingegen, so Höcke, fördere nur "Unordnung" und "Zwergenwüchsigkeit". Das aber ist das Gegenteil von dem, was die neuen Mauern und ihre Wächter versprechen: Sie stehen für Stärke, Souveränität, Sicherheit und Ordnung. Aber - das lässt sich nüchtern bilanzieren - diese Versprechen sind brüchig: Jede Mauer lässt sich umgehen.
    Janet Napolitano, die frühere Ministerin für Innere Sicherheit im Kabinett von Barack Obama, brachte es unnachahmlich auf den Punkt:
    "Du zeigst mir eine 50 Fuß hohe Mauer, und ich zeige dir eine 51 Fuß hohe Leiter."
    Doch es ist nicht allein das großmäulige, aber fast immer gebrochene Sicherheitsversprechen, das gegen die Mauern spricht. Unvorhergesehene Effekte stellen sich ein: Im Schatten der Mauer professionalisieren sich Drogen - und Menschenschmuggel, die Gewalt auf beiden Seiten der Mauer steigt und der besorgte Bürger selbst rüstet auf und militarisiert sich. Das lässt sich etwa in Kalifornien oder Arizona beobachten, wo die sogenannten Minutemen, paramilitärische Bürgerwehren Jagd auf illegale Migranten machen; auch in Ungarn oder der Slowakei gehen bewaffnete Bürgerwehren immer brutaler gegen Flüchtlinge vor, mit Duldung und teilweise sogar mit Unterstützung ihrer Regierungen. Diese Selbstermächtigung und militärische Anverwandlung korrespondiert mit inneren Verhärtungsprozessen und milieubezogenen Abgrenzungen. In seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2017 sprach Bundespräsident Steinmeier von diesen internalisierten Mauern:
    "Die große Mauer quer durch unser Land ist weg. Aber es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen - aber Mauern, die unserem gemeinsamen 'Wir' im Weg stehen. Ich meine die Mauern zwischen unseren Lebenswelten: zwischen Stadt und Land, Online und Offline, Arm und Reich, Alt und Jung - Mauern, hinter denen der eine vom anderen kaum noch etwas mitbekommt. Ich meine die Mauern rund um die Echokammern im Internet; wo der Ton immer lauter und schriller wird, und trotzdem Sprachlosigkeit um sich greift, weil wir kaum noch dieselben Nachrichten hören, Zeitungen lesen, Sendungen sehen."
    Noch düsterer sieht Zygmunt Bauman in seinem Essay "Die Angst vor den Anderen" die neue globale Mauerwelt:
    "Und so leben wir heute oft in einer wiederauferstandenen hobbesschen Welt des Kriegs aller gegen alle - vielleicht sind wir nicht wirklich dort, aber es fühlt sich so an. Die Angst hat viele Augen, und die Gefahr zahlreiche Einfallstore. In den Mauern klaffen zahlreiche Löcher; sie ähneln eher abgenutzten Netzen als Schutzwällen aus Beton."
    Was bleibt? Nur Angst und Mauerblues? Mauern bieten seit jeher Schutz, Heimstatt und auch Asyl. Wenn wir glauben, inmitten eines ummauerten Gevierts ein verlorenes Paradies wiederzufinden, dann betrügen wir uns selbst und machen uns gerade zu den Monstern, die wir doch draußen halten wollen.
    Mauern können auch keinen Gott ersetzen oder eine Gemeinschaft formen. Offene Gesellschaften haben immer davon gelebt, dass sich die Bürger auch in ihrer Differenz achteten und zu Einheit und Solidarität riefen, wenn sie jemand einmauern wollte. Überlassen wir es nicht den Mauern, für uns zu sprechen. Es kommt darauf an, den wuchernden "Retrotopien" ein utopisches Potenzial entgegenzusetzen.